Das Regnose-Prinzip

Willkommen im Futur 2
oder
Wie man die Zukunft in sich selbst erkennt

“What we need now is the description of the “describer” or, in other words, we need a theory of the observer.”
Heinz von Foerster

Was hat es mit dem seltsamen Begriff der RE-Gnose auf sich? Schon phonetisch zeigt sich dieses Wort als eine Variante der PRO-Gnose, die ja nichts anderes ist als die wichtigste semantische Einheit der Zukunftsforschung. Jede Betrachtung der Zukunft bedingt ja eine Prognose – eine Vorher- oder Voraussage dessen, was sein wird oder sein könnte.

Pro-Gnosen sind, wie der Wortstamm schon sagt (…”gnose”) “Vorschöpfungen” unseres Geistes. Wir „stellen uns die Zukunft vor”. Um die Wirkweisen von Prognosen besser zu verstehen, lohnt es sich, mit der Wirk-Weise unseres Hirns auseinanderzusetzen – siehe auch »Neurofuturismus«. Unsere Spezies homo sapiens hat durch die Evolution ein besonderes Instrument mit auf den Weg bekommen. Ein übergroßes Hirn, dass sich als eine Art Zukunfts-Organ verstehen lässt. Wir können damit nämlich in die Zukunft reisen – und zurück in die Vergangenheit. In diesem 86 Milliarden-Neuronen-Organ produzieren wir ständig Bilder, Narrative, die uns bei Entscheidungen helfen sollen.

Wie wird der nächste Urlaub? Was werde ich heute Abend anziehen? Wie könnte das nächste Jahr verlaufen? Wie wird sich mein Partner verhalten, wenn..? Der evolutionäre Sinn dieses aufwendigen Prozesses – das Hirn verbraucht bis zu 25 Prozent unserer Energie bei weniger als 1 Prozent Körpermasse – liegt letzten Endes in der Steigerung unserer Überlebensfähigkeit. Das Ziel ist die bessere Allokation von Ressourcen. Wir versuchen, durch »Prognosen« herauszufinden, welches Handeln das beste Ergebnis bringt, wie wir uns konstruktiv verhalten können, um unsere Lage zu verbessern.

Die Voraussage hilft uns dabei, uns ständig kognitiv weiter zu entwickeln – in einem Dialog, einer Art Tanz mit der Zukunft. Dabei entstehen Modelle, in die immerzu Erfahrungen und Informationen einfließen. Das ist im Grunde der Kern menschlichen Lernens. Das Ziel ist – evolutionär gesehen – die bessere Allokation von Ressourcen. Wir wollen mit Voraussagen besser wissen, woran wir sind, damit wir uns besser vorbereiten können.

Unser Zukunftssinn, unser Future Mind, ist im Grunde das, was uns lebendig hält. Er lässt uns wach bleiben, hoffen, wünschen, planen, wobei Irrtümer kostbar sind, weil sie uns leiten und belehren. Im Wechselspiel mit der körpereigenen Substanz Dopamin entsteht so ein konstruktives Verhältnis zur Welt, zur Zukunft, in der wir eine Rolle spielen: Wir versuchen, die Zukünfte, die wir uns vorstellen, durch Handlungen zu realisieren.

Im Laufe unseres Lebens kann es allerdings passieren, dass sich unsere Vor-Stellungen des Kommenden mit Ängsten und Befürchtungen Verengungen aufladen. In der hypermedialen Gesellschaft, in der wir rund um die Uhr mit katastrophischen Bildern konfrontiert werden, geschieht das ziemlich schnell.

Wenn unsere innere Prognostik auf diese Weise verengt ist, sehen wir – sinnbildlich – die Zukunft wie eine schrill pfeifende Lokomotive in einem Tunnel auf uns zurasen. Der Tunnel steht für die Unabänderlichkeit des »Kurses« der Zukunft, die Linearität, für die Verengung des Wirklichkeitsraumes. Wir können wahrscheinlich noch nicht einmal von den Gleisen springen. Da lauert die schwarze Wand oder der Abgrund, weil der Zug über eine hohe Brücke rast…

Auf diese Weise erstarrt die Zukunft in uns, sie verhärtet sich zur negativen Prophezeiung, die uns in ihren negativen Bann zieht. Die Zukunft verschwindet, unser MIND geht in eine Art Stupor-Mode.

Die Umdrehung der Perspektive

Im März 2020 kam CORONA mit der Wucht von tausend Lokomotiven über uns – wir wussten nicht, wohin diese Krise führen würde, wohin alles sich entwickeln würde. Wir hatten keine Ahnung vom Virus, aber die archaische Angst vor epidemischen Krankheiten in unserem Unterbewusstsein reagierte stark. Die Reaktion war Angst, nackte Zukunftsangst, die den Horizont für jede Änderung versperrte und uns in eine Art Starrheits- Hypnose versetzte.

Ich versuchte damals in meinem Text „Die Welt nach Corona” eine Re-Gnose-Technik, weil in dieser Situation eine Pro-Gnose vollkommen sinnlos gewesen wäre. Prognosen sind oft nicht sehr hilfreich, wenn sie auf ein völlig anderes Erwartungs-System treffen.
In diesem Falle war das Erwartungssystem katastrophisch.

Ich schlug also vor, sich in die Zukunft zu begeben – und von dort aus in die Welt zu schauen.
Etwa sich in ein Straßencafé in Venedig zu setzen, „ein halbes Jahr nach Corona” und zu schildern, was wir dort sehen. Gibt es immer noch Touristen? Liegen dort schon wieder fette Kreuzfahrtschiffe am Pier? Was hat sich verändert, was ist gleichgeblieben?
Wie schmeckt die Luft?
Weht ein leichter Wind vom Ozean?
Wie hören sich die Möven an?

Was passiert bei einer solchen Gedankenreise, dieser Vergewisserung des Zukünftigen, einer Art »futuristischer Hypnose«? Wir nutzen in diesem Zustand die tieferliegenden Schichten unseres Unterbewusstseins. Die Erfahrung, dass auch schiere Krisen irgendwann vorbei sein werden, führt zu einer inneren Wendung. Wir wissen, dass es irgendwann ein neues Normal geben wird.
Wir geraten in einen Zustand der erwartenden Hoffnung.
Wir entwickeln plötzlich ein Bewusstsein der LÖSUNG.

Gleichzeitig entsteht ein Reflexionsprozess, der die HÖHEREN Regionen unseres MIND anspricht. Im zerebralen Cortex, dort wo das Bewusstsein sich durch die Selbst-Beobachtungen verschiedener Instanzen unseres Hirnes bildet öffnet sich eine neue Ebene der Selbstbetrachtung.
Wenn wir uns in die Zukunft »versetzen«, beobachten wir uns beim Beobachten. Dadurch entsteht eine Beobachtung zweiter Ordnung. Eine Schleife, in der wir auf uns selbst zurückblicken und uns in unserem Werden betrachten (oder begleiten) können.

Die Differenz zwischen unserem heutigen Ich – unserer heutigen Wahr-Nehmung – und unserer zukünftigen Existenz, unserem »Dann-Sein« wird sichtbar. Damit erschließen wir die innere ZUKUNFTSDIMENSION – den Möglichkeitsraum unserer Existenz.
Neuropsychologisch: Unser Mind konstruiert einen Zustand, in dem wir unsere inneren Strukturen an neue Bedingungen adaptiert haben.
Man könnte das – wenn es funktioniert – eine futuristische Erhellung nennen.

Regnostische Techniken sind im Prinzip nichts Neues. Sie werden seit Jahrzehnten im Kontext psychotherapeutischer Prozesse eingesetzt, besonders bei depressiven Menschen, die sich keine Zukunft vorstellen können.

Der Publizist Tiki Küstenmacher schrieb für meine Website im Mai 2020:

„Martha Beck (Soziologin und Coach in den USA) hat eine Technik erfunden und immer weiterentwickelt, sich in die Zukunft zu versetzen: Du stellst dir vor, es ist der heutige Tag, aber es ist genau 1 Jahr, 5 Jahre, 10 Jahre, 20 Jahre später als heute. Du rechnest aus, wie alt du dann sein wirst, wie alt Kinder, Partner usw. sein werden, schließt die Augen und siehst dich innerlich um. Eine Frau, schon ewig auf Partnersuche sieht sich in einer großen Wohnung, die Sonne scheint, Musik im Hintergrund. Martha sagt ihr, sie soll mal ihre Hand anschauen. Oh, sagt sie, ich trage einen Ehering! Und keiner erlebt das als Traum. Sondern als Faktum. Ich habe das auch mit ein paar Leuten gemacht. Selbst die wildesten Ökopessimisten haben sich in 10 Jahren in einer funktionierenden Welt gesehen. Sie waren gesund, es gab Licht, Luft, Wohnung, Essen usw. In unserem tiefsten Innersten wissen wir, dass wir Menschen anpassungsfähig sind und genial erfinderisch. Auf die Frage, ob in der Zukunft „alles besser“ oder „alles schlechter“ sein wird, gibt es keine Antwort, weil der Fehler in der Frage liegt. Es ist eine AAV-Frage (am Arsch vorbei).

Zukunft als Ankerung von Wandelprozessen

Stellen Sie sich vor, Sie wollen mit dem Rauchen aufhören. Oder Körpergewicht verlieren. Wie kann das gelingen? Dass es höllenschwer ist, haben wir wohl alle schon einmal erfahren…

Am Beginn eines solchen Versuchs steht immer eine sorgenvolle PROGNOSE. Sie sehen voraus: Wenn sie weiterrauchen, wird ihre Gesundheit irgendwann ein Riesenproblem bekommen. Wenn sie immer weiter zunehmen, fehlt ihnen bald die Körperfreude. Sie haben ein PROBLEM. Es »muss« sich deshalb etwas ändern!
Aber negative Prognosen haben einen kontraproduktiven Effekt: Wir ignorieren sie einfach, wenn sie in unserem MIND, in unserem Sein, keine Wirkung zeigen. Weil wir sie gerne ignorieren möchten, BERÜHREN sie uns nicht.

Unser Denken kippt nun in Richtung des Problems. Wir fixieren und auf das, was NICHT geht. Und damit sitzen wir in der Falle, weil sich unser Hirn auf den VERLUST der Zigarette fixiert. Auf den Verlust. Wenn Sie auf eine Party gehen, steht mit Ihnen selbst immer noch der PROBLEM-Troll im Raum, der ihnen ständig sagt, dass sie jetzt KEINE Zigarette rauchen dürfen! Auf keinen Fall!!! Sie denken also unaufhörlich an die Zigarette, die sie gerade NICHT rauchen. Und schon stecken Sie sich wieder eine an…

Problem

Problem

Problem!!!

Dieser Problemfixierungseffekt ist der Grund, warum die „Bekämpfung des Schweinehundes” diesen nur stärker macht. Das Hirn klammert an einer Genusserfahrung, je mehr wir sie problematisieren, und deshalb klappt es so gut wie nie mit dem Abnehmen, dem Aufhören von IRGENDWAS. Unsere innere Fixierung auf das PROBLEM nagelt uns in der Gegenwart, oder besser: in der Vergangenheit fest. Denn dort sind die Suchtgewohnheiten entstanden. Als Tröstungen und Belohnungen, als lustvolle Kompensationen, die durchaus ihren Sinn und Zweck hatten.
Sucht, so sollte man verstehen, kann man nur durch Genuss überwinden. Genuss ist die Freiheit des Sinnlichen.

Stellen Sie sich nun vor, sie könnten einfach in die Zukunft springen. Sie träfen dort auf eine Person, die Ihnen selbst ähnelt. Für diese Person wäre das Rauchen völlig unwichtig, ihre Hirnstrukturen sprächen auf die Matrix »Zigarette«, oder »Doppelwhopper« einfach null an. Seine inneren Spannungen, die er früher mit Zigaretten oder Essen löste, hat er durch andere Integrationen (oder Genüsse) zu lösen gelernt.
Stellen Sie sich jetzt vor, sie könnten mit diesem neuen Selbst in Verbindung treten. Sich soweit in dieses zukünftige Ich hineinfühlen, dass sie mit ihm sozusagen verschmelzen…

So funktioniert Re-Gnose in der Aktion der umcodierten Sichtweise: Statt auf das Problem zu starren ACHTEN wir jetzt auf die Möglichkeiten.
So geschieht Wandel: Wenn wir uns selbst als ZUKÜNFTIGE begreifen – und uns auf diese Weise mit uns selbst verbünden.
Wir fragen nicht mehr: Warum ist etwas unmöglich?
Sondern: Wie sind wir eigentlich hierhergekommen? Wie haben wir das geschafft?
Auf diese Weise verbinden wir uns wieder mit unserem inneren Zukunfts-Sinn. Unserem Future Mind. Das ZUKÜNFTIGE in uns ergreift uns und verändert uns.
Aus der Zukunft gesehen gibt der Wandel Sinn, der aus der Gegenwart heraus als unmöglich erscheint.

Zukunft als Lebensrettung

Im Jahr 1990 hielt Viktor Frankl, der berühmte Psychiater und Philosoph, der den Holocaust in einem KZ überlebte, einen Vortrag auf einer großen Psychotherapie-Konferenz in Anaheim, Kalifornien.

Er schilderte in diesem Vortrag eine Episode im düstersten Teil seines Lebens, in größter Todesnähe. Im Winter 1943 war er mit einer Gruppe KZ-Häftlinge auf einem Marsch von der Feldarbeit, als er zusammenbrach. Frankl war krank, hatte keine Socken an und nur Fetzen am Leib, seine Schuhe hatten Löcher. Er hustete sich die Seele aus dem Leib, wahrscheinlich hatte er eine Lungenentzündung.

Ein Wächter begann mit einem Stock auf ihn einzuprügeln. Wenn er nicht sofort aufstünde, würde er zum Sterben zurückgelassen. Frankl spürte, dass er keine Energie mehr zum Überleben hatte. Das wars dann mit dem Leben, ging ihm durch den Kopf, „hier endet es”.
Im gleichen Moment spürte er aber auch etwas anderes.
Die Zukunft.

Er imaginierte in seinem Fieberwahn eine Szene, in der er in einer Universität in einem vollen Hörsaal steht. Der Krieg ist vorbei, und er hält eine Lesung über „Die Psychologie der Todeslager und die Psychologie des Sinns”. Er visionierte die ganze Szene, das erwartungsvolle Publikum, den Applaus, den ganzen Text. In dieser Rede erzählte er über einen Mann, der auf dem Feld liegen blieb, um zu sterben, dann aber seine eigene Zukunft wählt.
Er stand auf und schleppte sich weiter, brach auf seiner Pritsche zusammen. Und überlebte.
In Anaheim, Kalifornien, ertönte im Jahr 1990 frenetischer Beifall von 7000 Teilnehmern.

Zitiert nach Linda Metcalf, The Miracle Question

Diese ergreifende Szene zeigt wie Regnosen unser Leben retten können. Wenn wir die Welt aus der Perspektive der Zukunft sehen, kann es uns gelingen, die Gegenwart derart zu verändert, dass diese Zukunft Wirklichkeit wird. Das zeigt die ungeheure Kraft der Imagination, zu der Menschen fähig sind. Es zeigt, wie Zukunft als Imagination die Wirklichkeit verändert – und daraus in einer endlosen Schleife Zukunft entsteht.