108 – Die kooperative Demokratie

Eine Hoffnung

Ich habe eine Vision. Die Hoffnung einer kooperativen Demokratie.

Jedes Mal, wenn ich die aktuellen Politik-Debatten in den Medien verfolge – etwa Talkshows über Krieg, Klimawandel, Inflation, Bahnversagen, Verarmung, Teuerung, Hausbaukrise und jetzt eben Heizungshammer Wärmepumpe – Habeck versagt –, befällt mich ein merkwürdiges Gruseln.
Eine seelische Übelkeit.

Ich schaffe es dann trotzdem selten, abzuschalten. Irgendwie klebe ich am Bildschirm fest und lasse mich hineinziehen in diesen Sumpf der Klage, Gegenklage und Bezichtigung, angeleitet von ModeratorInnen, die im polemisierenden Verhörstil versuchen, möglichst viel Zunder aus der Debatte zu ziehen.
Nur einmal, ganz kurz, hat Sandra Maischberger dieses dunkle Spiel unterbrochen. Sie bat zwei Politiker aus „konträren Lagern“ am Anfang eines Gesprächs etwas Positives übereinander zu sagen.
Plötzlich lang ein ganz anderer Ton in der Luft.

DARF man Politiker gut finden?

Ich habe ein merkwürdiges Handicap in meiner politischen Wahrnehmung. Ich nenne es die Wohlwollens-Krankheit. Ich finde vieles, was Politiker in den öffentlichen Debatten sagen, ziemlich gut und richtig. Und zwar weitgehend unabhängig vom politischen „Lager“.

Kennen Sie das Gefühl, dass in einer Debatte eigentlich ALLE recht haben? Dass jeder Standpunkt bestimmte Facetten einer Realität abbildet, die man aber nur ALS GANZES verstehen kann?

Ich finde auch die Parteien gut (bis auf eine). Ich finde die Liberalen gut, weil sie sich um die Freiheit und Innovation kümmern. Ich finde die Grünen gut, weil sie sich ernsthaft um das große Zukunfts-Thema unserer Zeit kümmern, die ökologische Transformation. Ich finde die Konservativen gut, weil sie (meistens) auf Ausgleich und Vernunft setzen und in der Idee der Bewahrung verankert sind. Ich finde sogar die Linke gut, ich habe zumindest Empathie dafür, wie sie an ihrem hohen Moralismus sichtbar leiden.

Ich weiß nur nicht, warum das alles immer GEGENEINANDER stehen muss.
Manchmal denke ich mir still und heimlich: Könnten sich nicht die vernünftigen PolitikerInnen ALLER Parteien zusammentun und eine Partei der Lösung gründen? (Ich hätte sogar schon eine Kabinettsliste).
Eine rotschwarzgelbgrüne Koalition.
Sagen wir: die GP, die GUTE PARTEI.
Oder die KP. Die KONSTRUKTIVE PARTEI.

Sorry, das war ein kleiner Scherz. Ich höre schon die strengen Kritiker mit dem gereckten Zeigefinger: Aha, Sie wollen eine Einheitspartei! Sie haben offenbar das Wesen der Demokratie nicht verstanden! In einer Demokratie muss es krachen! Das ist das Wesen der Demokratie! Daraus entwickeln sich die besseren Möglichkeiten!

Ich bin mir nicht mehr sicher, ob das in einer hypermedialen Erregungs- und Aufmerksamkeits-Gesellschaft noch so stimmt.
Ich werde das Gefühl nicht los, dass der EMPÖRISMUS – die jederzeitige Bereitschaft, sich aufzuregen, den anderen zu bezichtigen, den Skandal für die Wirklichkeit zu halten, mit Meinungen die Welt zu vernageln – uns auf einen gefährlichen Pfad führt:

  • In eine Hysterisierung der Öffentlichkeit, in der es nur noch um Ängste, Panik und Paranoia statt um Wege nach vorne geht.
  • In eine Infantilisierung des politischen Diskurses, die in Richtung auf eine Tribalisierung der Politik führt.
  • In eine düstere Negativität, in der kein Problem mehr als lösbar erscheint.

Jenseits von Lechts und Rinks

Ich bin in einer Zeit aufgewachsen, die in mancher Weise polarisierter war als heute. Damals bildete die Zuordnung zu den „Lagern“ von LINKS und RECHTS eine verlässliche Grundachse. Links war Freiheit, Jungsein, Toleranz, Progressivität, Demokratie, Veränderung. Rechts stand für Vergangenheit, Autoritarismus, dumpfes Denken. Inzwischen ist die Linksrechts-Achse so verschwurbelt, dass sie nicht mehr zur Orientierung taugt.

Konservative werden plötzlich infantil rebellisch. Linke Moralisten klingen wie autoritäre Priester. Rechte Parteien, die eigentlich die Diktatur wollen, marschieren mit Rebellions-Rhetorik auf. Sarah Wagenknecht spaltet die Linke mit rechtsemotionalen Parolen. Faschisten propagieren den fürsorglichen Sozialstaat. Der französische Politologe Philippe Corcuff nennt das Phänomen den „Konfusionismus“. Es gibt monströse Entwicklungen wie den libertären Autoritarismus (Elon Musk). Auch kommunistischer Kapitalismus (China) ist heute im Angebot.

Verbreitete Gründe für falsche Entscheidungen:

  1. Annahmen, die auf zu engen Umfrage-Samples basieren.
  2. Der Wille, dass die Welt so funktionieren soll, wie WIR es uns wünschen.
  3. Konformität in Bezug auf Erwartungen/Autoritäten/Gruppen („group think“).
  4. Blindheit gegenüber großen Trends.
  5. Nicht fragen: „Und was dann?“

https://fs.blog/blog/
https://fs.blog/newsletter/

Um wieder ins Zukünftige zu kommen, brauchen wir ein konstruktives Denken (Fühlen) jenseits der alten Lager-Polaritäten. Ein Denken, das in Zusammenhängen statt Spaltungen funktioniert. In Verbindungen statt Identitäten. Sich an plausiblen Zukünften orientiert und VON DORT AUS Entscheidungen trifft, anstatt sich in erregten Gegenwarten zu verlieren.

Beispiel: Wie sieht eine Welt ohne Kohlenwasserstoffe aus, und wie kommen wir da hin? Was ist noch nötig? Was können wir verbessern? Was haben wir schon geschafft? (Anerkennung der Erfolge ist unglaublich wichtig; in den Medien lesen wir fast nur das Gegenteil; das Versagen, die Katastrophe). Was können WIR als Individuen, Organisationen, Unternehmen, Gruppen, dazu beitragen?
Nicht: Wer ist schuld, dass es so langsam vorangeht, und wer muss jetzt dringend mal niedergemacht werden … (es geht übrigens viel schneller voran als wir denken).

Zu einer solchen Zukunfts-Haltung gehört die Fähigkeit, liebevoll mit Komplexität umzugehen. In komplexen Gesellschaften gibt es „Wicked Problems“, die schwierig zu lösen sind. Zum Beispiel kann man nicht die Probleme im Gesundheitswesen einfach mit Forderungen „lösen“. Das Gesundheitssystem ist ein unfassbar komplexes System, mit unfassbar vielen kontroversen Interessen und inneren Paradoxien. Aber das heißt nicht, dass man es nicht VERBESSERN kann – in der Anerkennung der Schwierigkeit, dies zu tun.

Denken in Zusammenhängen kann man lernen. Wie sagte Robert Habeck einmal so schön? „Es könnte sein, dass auch der andere recht hat.“ Und der amerikanische Schriftsteller F. Scott Fitzgerald („Der große Gatsby“) formulierte: „Die wahre Prüfung einer erstklassigen Intelligenz ist die Fähigkeit zwei gegensätzliche Ideen im Kopf zu behalten und weiter zu funktionieren.“

Kooperative Demokratie als Praxis

Es lohnt sich, kooperativen Demokratien bei der Arbeit zuzuschauen. Denn sie sind nicht nur Wolkenkuckucksheime. Es GIBT sie tatsächlich.

In Irland regiert seit einigen Jahren eine progressiv-grün-konservativ-liberale Koalition. Ein offen schwuler Politiker mit Migrationshintergrund und ein eher konservativer Premier wechseln sich im obersten Staatsamt ab. Es erweist sich, dass Konservativismus, Ökologie und Liberalität in der politischen Wirklichkeit gut zusammenpassen. Das Land atmet eine zukunftsgewandte Leichtigkeit, ohne dabei in Übertreibungen und Hysterie zu verfallen.

Die Schweiz praktiziert seit mehr als 100 Jahren eine ALLES-Koalition – jede gewählte Partei entsendet Vertreter in die Regierung, das nennt sich „Konkordanz“. Die Regierung selbst ist eher ein Moderationsgremium als eine „Führungsmacht“. Ergänzend lässt eine lange geübte Basis-Demokratie die Bürger über zentrale gesellschaftliche Themen außerhalb von Parteigrenzen abstimmen.

In der Schweiz gibt es eine erfolgreiche GRÜNLIBERALE Partei. Welchen Blödsinn könnte uns eine solche Partei ersparen!

Man kann von der Schweiz halten, was man will (etwa von der Tendenz, fröhlich weiter als planetares Gelddepot zu funktionieren und auf „Europa“ herabzuschauen). Aber die Schweiz hat ein System der Selbststabilisierung des Demokratischen geschaffen, das so leicht nicht aus der Balance zu bringen ist. Auch von hauseigenen Populisten nicht.

In Dänemark hat sich nach vielen Polarisierungs-Tendenzen eine neue „Politik der dynamischen Mitte“ etabliert. Die Sozialdemokratie unter der Führung von Mette Frederiksen hat gelernt, sich den „Wicked Problems“ aktiv zu stellen. Und betreibt eine lagerübergreifende Reformpolitik (siehe die wunderbare Politik-Serie BORGEN, die die Vorgeschichte nachzeichnet).
Kein Mensch käme auf die Idee, über Wärmepumpen einen Kulturkampf anzuzetteln. Wärmepumpen sind in Dänemark ganz normal.

Der Gestaltungs-Zauber

Nennen wir es Neo-Politik: Eine Politik, die pragmatisch versucht, das ZUSAMMENSPIEL zwischen Staat, Gesellschaft, Institutionen, Bürgern, Wirtschaft zu verbessern. Auf regionalen, lokalen Ebenen funktioniert konstruktive Politik auch heute schon oft recht gut: Städte, Gemeinden, Dörfer, können regelrecht aufblühen, wenn sich die örtliche Politik statt Konflikte auszutragen in SYNERGIEN organisiert. Dann entsteht das, was der Philosoph Wilhelm Schmid den Anfänglichen Geist nannte („Was uns beflügelt“, ZEIT vom 1. Juni 23):

Es gibt offenbar zwei Arten von Geist. Der gute, anfängliche Geist ist naiv im besten Sinne. Er kommt ohne viele Worte aus. Menschen spüren ihn und sind begeistert. Alles passt, es könnte so bleiben. Dann kommt der ungute spätere Geist, der hin und her geht, also „diskurriert“ und dabei viele Worte macht. Er ist ein mürrischer Geselle. Er entzweit Menschen, denn er stößt sie darauf, dass sie nicht einer Meinung sind. Das begeistert nicht viele.

Überall in Europa – und darüber hinaus – suchen Demokratien wieder nach dem „anfänglichen Geist“. Neue gesellschaftliche Bündnisse entstehen (siehe Polen, Georgien, sogar die Türkei). Parteien lösen sich von den alten Dogmen, neue Bewegungs-Parteien entstehen (in Thailand etwa „Move Forward“). Zur Neo-Politik gehören auch innovative Formen der Bürgerbeteiligung, Experimente mit Konventen, „Assemblages“ oder geführte Zukunftsdebatten, in denen nicht immer nur die Schreihälse zu Wort kommen. Kleinere Gesellschaften wie Island, Irland, Portugal, aber auch Kolumbien haben damit gute Erfahrungen gemacht. Auch in Deutschland gibt es solche Projekte. Wir nehmen es nur (noch) nicht wirklich wahr. Wir würdigen es nicht.

Wenn wir die Demokratie nicht schlüsselfertig an die Despoten abgeben wollen, müssen wir uns in den Soziotechniken und MINDSETS des Politischen etwas einfallen lassen.

Sonst können wir die Regierungsgeschäfte gleich einer KI überlassen. Die gehört dann Elon Musk, und weiß sowieso alles besser.

Jeder Trend erzeugt irgendwann auch einen Gegentrend. Auch der Trend zu Populismus und Autokratie. Ich kenne immer mehr Menschen, die aus dem medialen Meinungszirkus aussteigen. Die sich für die Zukunft engagieren, indem sie Verbündete statt Gegner suchen. Die vom MEINEN ins TUN kommen. Ins Zukunft-Sein.

Zukunft hat auch etwas mit Glauben zu tun. Zum Beispiel mit Glauben an die Evolution der Demokratie.