88 – Die Depolarisierung
Hat die Demokratie noch eine Zukunft?
Über die Wütenden, die Offenen, die Engagierten, die Enttäuschten und die Unsichtbaren.
Derzeit werde ich oft gefragt, ob Corona die Gesellschaft nicht endgültig gespalten hat. Und ob durch diesen Spalt nicht ein Abgrund sichtbar wird, in den die Demokratie früher oder später hineinfallen muss.
Mir fällt angesichts dieser Befürchtung die rebellische Zeit meiner Jugend ein. In den späten 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts war die (west)deutsche Gesellschaft in einer Weise polarisiert, die man sich heute kaum noch vorstellen kann. In meiner Heimatstadt Frankfurt war damals jeden Samstag Straßenschlacht, und es gab ein ausuferndes Milieu von hunderten von Gruppen und Grüppchen, die die wildesten Theorien und Verschwörungsmythen vertraten – bis hin zu militärisch ausgerüsteten kommunistischen Kader-Truppen. In fast jeder Familie tobte ein existentieller Kampf, der immer ums GANZE ging. Um das traumatische Erbe der Nazi-Zeit. Um Autonomie und Freiheit. Um Träume und Sehnsüchte nach einem anderen Leben. Die Jugendrebellionen in Paris, Berlin, Rom und Amerika wuchsen sich zu regelrechten Umsturzbewegungen aus: In Frankreich wurde der Notstand ausgerufen, in den USA schoss die Nationalgarde auf langhaarige Demonstranten.
Eine alternative Zeitung, die damals Furore machte, hieß „WIR WOLLEN ALLES“!
Diese spannungsreiche Zeit, die sich zeitweise wie eine Vorstufe zum Bürgerkrieg anfühlte, endete 1977 im „Deutschen Herbst“, als der harte Kern der deutschen RAF-Terroristen sich im Gefängnis von Stuttgart-Stammheim selbst exekutierte. Und es dabei so aussehen ließ, als seien die Kämpfer gegen das kapitalistische System vom „Schweinestaat“ exekutiert worden.
Erstaunlicherweise entstand nach diesem alptraumhaften Finale weder ein faschistisches Regime (wie viele fürchteten) noch das totale Chaos. Es begann vielmehr eine Epoche der Öffnung. Die Rebellen von einst, die vielen Sinn- und Selbstsucher, machten sich auf den Weg in die Mitte der Gesellschaft. Die Institutionen veränderten sich ebenso wie die Werte. Die Grünen wurden gegründet. Die Gesellschaft wurde vielfältiger, toleranter, globaler, diskursfähiger. Ein moderner Gesellschaftstypus entstand. Diese sanfte Versöhnung mündete schließlich in den Euphorien des Mauerfalls von 1989.
Wind of Change.
Wie heißt das so schön?
Die Geschichte wiederholt sich nicht.
Aber sie neigt dazu, sich zu reimen (Mark Twain).
Das unsichtbare Drittel
Inwieweit ist unsere Gesellschaft heute tatsächlich „gespalten“? Über diese Frage hat die Demokratie-Initiativgruppe „More in Common“ im Jahr 2019 eine aufschlussreiche Studie veröffentlicht, die kaum den Weg in die Öffentlichkeit fand.
www.dieandereteilung.de
In Tiefen-Interviews mit 4000 Deutschen bildeten sich sechs Mentalitäts-Milieus heraus, eine Art „Emotiogramm“ der Gesellschaft:
- Die Offenen (16 Prozent): In dieser Gruppe geht es um Selbstentfaltung, Weltoffenheit, kritisches Denken, idealistische und individualistische Lebensentwürfe.
- Die Involvierten (17 Prozent): Engagierte Bürger, die das Miteinander und die Verteidigung von Errungenschaften schätzen.
- Die Etablierten (17 Prozent): Ein Milieu der Zufriedenheit, des materiellen Erfolges, die auf Verlässlichkeit und gesellschaftlichen Frieden den höchsten Wert legen.
- Die Pragmatischen (16 Prozent): Das erfolgsorientierte Milieu, in dem privates Fortkommen, Selbstverwirklichung und materielle Werte im Vordergrund stehen.
- Die Enttäuschten (14 Prozent): Menschen, die über verlorene Gemeinschaft, Einsamkeit sowie fehlende Wertschätzung und Gerechtigkeit klagen.
- Die Wütenden (19 Prozent): Sehnsucht nach nationaler Ordnung, kombiniert mit Systemschelte, Misstrauen und Aggressionsbereitschaft
- Die Sehnsucht nach einem starken, entscheidungsfähigen Mann.
- Die Verbindung von rebellischen und „tribal“-kollektivistischen Elementen („Wir sind das Volk!“).
- Die Mobilisierung von aggressiven Emotionen im Rahmen von Verschwörungs- und Feindbildungen.
- Die Sehnsucht nach einem Identifikationsrahmen in einer überkomplexen Welt: der idealisierten Nation.
- Deutschland: Grüne, Liberale, Sozialdemokraten – die „Ampel“.
- Tschechien: Piraten, Christdemokraten, Bürgerdemokraten, Liberale – gemeinsamer Slogan: „Mehr Havel wagen“.
- Niederlande: Rechtsliberale, Linksliberale, Christdemokraten, Christen-Union – alles in einem Paket.
- Italien: Movimento 5 Stelle, Partito Democratico, Italia Viva, Articolo 1, Lega, Forza Italia – eine superbunte Koalition beinhaltet 70 Prozent des gesamten Parteienspektrums, im Rahmen einer Expertenregierung um Mario Draghi, die die alten Spaltungen einfach ignoriert.
- Schweiz: Hier gibt es schon immer ein Dauer-Konkordat: Alle Parteien, die ins Parlament gewählt werden, stellen zusammen die Regierung. Demokratische Reibungsenergie entsteht eher in der Achse Zentralstaat/Kantone/Gemeinden. Populisten spielen auch in diesem System eine Rolle, haben jedoch keine putschistische Strategieoption.
- Ungarn, Polen, Israel: Man kann den reaktionären Populismus nicht dadurch bekämpfen, indem man ihn frontal angreift. Das macht ihn immer nur stärker, wie das Großexperiment Trump gezeigt hat. Man kann sich aber auf breiter Ebene gegen den Populismus verbünden. Dazu bilden sich derzeit neue Allianzen zwischen progressiven Bürgermeistern, kleineren Milieuparteien und klassischen Protestparteien.
Zu welcher Gruppen fühlen SIE sich zugehörig? Man kann sich darum streiten, wie präzise solche Einteilungen sein können; natürlich gibt es Unschärfen, Überschneidungen. Man kann wütend UND etabliert sein, enttäuscht und involviert gleichzeitig. Und Corona hat diese Einteilungen wahrscheinlich verschoben. Aber dieses Panoptikum schildert unsere Gesellschaft womöglich präziser als die alten Einteilungen im Stil der Sinus-Milieus.
Wir leben in einer Art Emotokratie, in der Weltgefühle immer wichtiger werden – quer zu den alten Schichten. Immer wenn man versucht, mit anderen, unbekannten Menschen ins Gespräch zu kommen, geht es eigentlich nicht um Themen oder „Inhalte“. Sondern um Befindlichkeiten. Stimmungen. Raus damit!
Ist unsere Gesellschaft emotional „gespalten“? Sie ist eher fraktalisiert, zerfasert in viele verschiedene Wahrnehmungsmuster, die durch das Internet ausgelesen und verstärkt werden. Es gibt keine klare Trennungslinie in der Mitte – wie in den USA, wo man von einem Riss QUER durch die Gesellschaft sprechen kann.
Ist diese Gesellschaft „kaputter“ als früher? Keinesfalls. „Früher“ waren die Schrecklichkeiten nur verborgen hinter Schein-Heilheiten. Siehe Kirchenmissbrauch. Und immer schon gab es jene Gruppe, die die More-in-Common-Studie „Das unsichtbare Drittel“ nennt. Menschen, die den Anschluss verloren haben. Die sich ungesehen und ungewürdigt fühlen. Die unter inneren Kränkungen leiden – und diese dann in Zorn und Schwurbel nach außen richten.
Der Konfusionismus
Allerdings hat sich etwas in der politischen Matrix geändert, die die Energien der Gesellschaft ordnen und absorbieren kann. Wir sind es gewohnt, Politik auf einer schnurgeraden Achse von links nach rechts zu sortieren. Rechts und konservativ steht für tradierte Bindungs-Werte, nationales Bewusstsein, Ruhe und Ordnung, Marktprimat. Links für Umverteilung, Toleranz und übergreifende Solidarität. Rechte sind für den Ordnungsstaat, der sich auf seine administrativen Aufgaben beschränkt. Linke für den Versorgungsstaat, den guten, regelnden Staat.
Ursprünglich entstand diese Achse aus der Sitzordnung des französischen Parlaments nach der Revolution von 1789. Jahrhunderte hat sie sich in unsere Denk-Muster eingefräst und die politische Grammatik bestimmt, in ständig wechselnden Machtphasen. Aber dabei ist sie immer unsinniger geworden. Philippe Corcuff, ein französischer Politikwissenschaftler, hat den Begriff des politischen KONFUSIONISMUS geprägt.
Phillippe Corcuff, „La grande confusion: Comment l’extrême-droite gagne la bataille des idées“, textuel 2021
Damit ist eine heillose Verwirrung, die Verschwurbelung der Links-Rechts-Achse gemeint, die wir seit vielen Jahren spüren können.
Die sozialdemokratische dänische Regierung führt »Ghetto-Quoten« ein und will die Zahl von Asylbewerbern auf Null reduzieren. Rechte Parteien marschieren im Namen von Freiheits-Parolen auf und üben sich in provokativen Sponti-Aktionen. Die linken WOKE-Bewegungen setzen derweil auf eine Politik der moralischen Normen. Rechte Autoritäre entdecken den großen Umverteilungs-Sozialstaat neu, der alle Lebenslagen abpolstern soll. Die Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht zieht mit ihrem Brandbuch „Die Selbstgerechten“ gegen die „pseudoprogressiven urbanen Mittelschichten“ zu Felde – und betreibt kulturelle Spaltung in ihrem eigenen politischen Lager. Protestparteien wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien zeigen, wie sehr Formen des Populismus ins linke Protestlager hinübergewandert sind – oder umgekehrt?
Linke wirken plötzlich hoffnungslos konservativ.
Und Rechte platzen vor rebellischem Eifer.
Das traditionelle politische System franst in der Mitte aus – und berührt sich an den Extremen.
Warum ist das plötzlich alles so verwirrend? Ein Grund ist die enorme Komplexität der Gesellschaft, die nicht mehr aus Klassen, Schichten und stabilen Milieus besteht, sondern mehr und mehr aus Informationsströmen, Gefühlsstürmen, marodierenden Memen. Die alten Rechts-Links-Ideologien geraten so in ein Komplexitäts-Defizit. Die Konservativen wissen nicht mehr, was sie eigentlich bewahren wollen. Und die Linken finden keine Möglichkeiten für Vergesellschaftungen mehr. Die gesellschaftlichen Systeme scheinen nicht mehr zueinander zu passen. Der Soziologe Armin Nassehi schreibt in seinem Buch („Unbehagen: Theorie der überforderten Gesellschaft“, S. 311):
„Märkte sind zwar grandiose Problemlöser, aber sie produzieren auch Probleme und viele Produkte, die nur der Markt braucht. Die Demokratie ist eine geniale Form der Entscheidungsfindung, aber die Leute wählen bisweilen auch die falschen Lösungen. Wissenschaft ist unfassbar leistungsfähig, kann aber die Erwartungen nach eindeutigen Lösungen gerade deshalb nicht stillen. Das Recht kann alles Mögliche normativ regeln, aber eben nur im Rahmen eines konsistenten Zusammenspiels garantieren. Bildung bringt Wissen unter die Leute, aber mehr Bildung erzeugt auch mehr Widerspruch.“
Dieses Komplexitätsdefizit der Politik bildet das Einfallstor für den bösartigen Populismus, der ein Gegenangebot aus vier Retro-Trends macht:
Es ist kein Wunder, dass der nationale Populismus so erfolgreich ist. Aber ist er auch unbesiegbar? Oder unvermeidlich?
Der Peak des Populismus
Zu jedem Trend existiert ein Gegentrend, der ihn in seinen Grenzen sichtbar macht. Allerdings nimmt man diesen Trend oft gar nicht richtig wahr, weil man wie ein Kaninchen auf die Schlange auf den „gefährlichen“ Trend starrt. In den USA verlor Donald Trump die Wiederwahl. In Tschechien flog Andrej Babiš aus dem Präsidentenamt. In Israel Benjamin Netanjahu. Boris Johnson wankt seiner eigenen Karikatur entgegen. In Chile unterlag der Bolsonaro-Freund José Antonio Kast dem Gabriel Boric. In Österreich wurde ein sehr begabter Populist, Sebastian Kurz, mitten aus dem fliegenden Lauf geholt, nachdem zuvor die sehr erfolgreichen Rechtspopulisten der FPÖ in Ibiza strandeten. In einer Studie der University of Cambridge über die politischen Folgen der Coronakrise zeigte sich, dass die Populisten zwischen 2020 und Ende 2021 weltweit im Schnitt 10 Prozent an Zustimmung verloren haben – besonders in den bisher benachteiligten Regionen. Die Cambridge-Studie behauptet nicht, dass der Populismus „vorbei“ sei. Aber ihr Titel lautet „The Great Reset“ .
https://www.bennettinstitute.cam.ac.uk
Obwohl es in der medialen Darstellung immer so aussieht, haben viele Länder in der Corona-Krise keine Spaltung, sondern eher eine innere Reformierung erlebt. Italien war VOR Corona tief gespalten und polarisiert. Und erlebt heute eine erstaunliche Selbsterstarkung in Richtung eines neuen Konsens. Portugal erlebte in Corona-Zeiten eine Zeit starken Selbstbewusstseins (mit dem sozialdemokratischen Premier António Costa). In Spanien kam es in der Frühphase der Pandemie zu harten Konflikten zwischen traditionellen Lager-Parteien – heute spielen diese weniger ein Rolle.
Die konstruktiven Koalitionen
In vielen westlichen Parteisystemen entwickelte sich in den letzten Jahren ein interessantes Phänomen, das die parlamentarische Demokratie verändern könnte: die Entstehung von MULTI-KOALITIONEN.
Diese Vielfalts-Koalitionen bestehen aus mehreren kleinen Parteien, die scheinbar nicht das Geringste miteinander zu tun haben. Sie repräsentieren verschiedene Lebenswelten und Befindlichkeiten der Gesellschaft, die sich kaum noch in der alten Lagerordnung verorten lassen. Dazu gehören Protest-Parteien, Milieu-Parteien, auch Parteien neuen Typs, die bestimmte Widersprüche vereinen wollen, etwa die Neos in Österreich. Oder die Europa-Partei VOLT, die ein europäisches Best-practise-Modell vorschlägt: Man nehme das Pensionssystem von Österreich, die Kinderbetreuung von Frankreich, das Digital-System von Lettland, das Gesundheitssystem von Dänemark …
In den eher präsidialen Demokratien sind gleichzeitig neue Politikertypen und Politikformen entstanden – wie der „Macronismus“ in Frankreich und Trudeau in Kanada. Prinzipiell können solche „Integralisten“ der Politik aus dem konservativen, dem linken oder dem liberalen Spektrum kommen – es spielt keine große Rolle mehr. Der neue peruanische Präsident Pedro Castillo vertritt ein konservatives Programm, stammt aber aus einer linken Basis-Bewegung. In Chile kombiniert der junge Präsident Gabriel Boric eine eher marktorientierte Wirtschaftspolitik mit einer fortschrittlichen Gesellschaftspolitik – gestützt durch große gesellschaftliche Vielfalt (14 Frauen und 10 Männer und alle Minderheiten sind im neuen Kabinett vertreten).
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Die Zukunft der Politik könnte statt von PARTEIEN, die abwechselnd um die Macht kämpfen, von ALLIANZEN geprägt werden, die sich mit der Gesellschaft auf vielschichtige Weise verbinden.
Interessant ist diese Entwicklung, weil es sich dabei keineswegs nur um „Notlösungen“ handelt. Es bildet sich vielmehr ein neues politisches Muster, das die Veränderungen der Gesellschaft abbildet und die alten Links-Rechts-Muster aufzulösen beginnt. KONSTRUKTIV sind diese Koalitionen, weil sie Politik neu KONSTRUIEREN müssen – jenseits der ideologischen Raster der Industriegesellschaft. Kompromisse, wie sie etwa in großen Koalitionen herrschen, würden nicht reichen. In Multikoalitionen müssen Parteien auch über ihre eigenen Dogmen hinauswachsen. Es geht darum, neue Balancen des Gesellschaftlichen, Ökonomischen und Sozialen zu entwickeln. Statt am alten Entweder-Oder orientiert sich die „fraktale“ Politik an einer neuen Achse: der
Wege der De-polarisierung
Wie könnte es möglich werden, die Demokratie aus ihrem zentrifugalen SPIN zu befreien – und sie wieder zu DE-POLARISIEREN?
Konstruktive Zukunfts-Politik benötigt erstens eine neue, nüchterne Distanz zu jenem System, mit dem sie bislang symbiotisch verbunden war: der Mediasphäre. Medien – von online bis offline und wieder zurück – sind heute größtenteils Teil der Polarisierungmaschine geworden. Auch die seriösen Medien können kaum noch dem „Dringlichkeitswettrüsten“ (Jenny Odell) ausweichen, das die öffentliche Sphäre in eine Eskalationsspirale aus Erregungen und Befürchtungen verwandelt. Das hyper-mediale System schafft Misstrauen, skandalisiert jede Kleinigkeit, inszeniert Meinungskriege, verhöhnt und erniedrigt Politiker, macht sie zu Hampelmännern in Verhör-Talkshows und konfrontiert sie rund um die Uhr mit unerfüllbaren paradoxen Forderungen.
Zweitens muss eine Politik der De-Polarisierung sich ehrlich machen, indem sie die Grenzen der Wirksamkeit von Politik klarstellt. Demokratie wird zunehmend als eine Art riesiger Service-Betrieb wahrgenommen, der MIR gefälligst alles zu erlauben und zu garantieren hat! Sonst werde ich SEHR wütend! Neo-Politik muss dieser Anmaßung gegenübertreten, indem sie darauf verweist, dass Politik aus Vermittlung besteht. Und nichts lösen kann, was nicht AUCH in der Sphäre der Gesellschaft, der Wirtschaft, der Kultur gelöst wird.
Drittens benötigt ent-polarisierende Politik moralische Abrüstung, verbunden mit einem neuen Pragmatismus. Der Empörismus, also die reflexhafte Verdammung von allem und jedem, ist an seinem Ende angelangt. Es ist Zeit, sich vom STREIT als Grundmodus zu verabschieden. Politik jenseits der binären Rechts-Links-Logik ist SYSTEMISCHE Politik.
Tanzende Politik.
Politik der Synthesen und Verbindungen.
Politik der Zusammenhänge.
Für all das braucht es eine neue Sprache. Eine neue Art und Weise, politisch zu denken und zu kommunizieren. Wie Robert Habeck es ausdrückt: „Es könnte sein, dass der Andere auch recht hat!“ Dazu gehört, Entscheidungen in der Gesellschaft reifen zu lassen, sie zu begleiten und zu moderieren, auch in und durch Konflikte. Und ja: Machterhaltung spielt eine Rolle. Leicht wird das nicht. Aber manchmal ist das Komplexe einfacher als das simple Alte.
Depolarisierendes Sprechen
Seit fünf Jahren veranstaltet die Hamburger ZEIT das Dialog-Format „Deutschland spricht“ (bzw. „Europa spricht“). Dabei werden Menschen aus völlig verschiedenen politischen Weltanschauungen miteinander an einen Tisch gesetzt. Tausende von Teilnehmern haben dieses Abenteuer schon gewagt. Und erfahren dabei Verblüffendes – über sich selbst und andere. Mittlerweile gibt es solche Initiativen der konstruktiven Mikro-Kommunikation in vielen Ländern. Gesellschaftsübergreifende Dialogformate werden zu einer richtigen Bewegung.
Zufallsbürger als Zukunfts-Bürger
Demokratie braucht wie alle menschlichen Organisations-Systeme von Zeit zu Zeit ein upgrade. Neben institutionellen Reformen sind neue Formen der Bürgerbeteiligung dringlich. Dabei hat sich eine Grundregel herausgestellt: Wer nur die Wütenden und Empörten zu Wort (zum männlichen Gebrüll) kommen lässt, verschärft die Polarisierung. Aber es gibt inzwischen erprobte Konzepte aktiver Bürgerdemokratie, wie etwa das Konzept „Zufallsbürger“ (siehe das Interview mit Gisela Erler am Ende dieses Textes).
Transformative Prozess-Organisation
Ein Beispiel (von vielen) für einen de-polarisierenden Transformationsprozess stammt aus Irland. In der Finanzkrise um 2009 spitzte sich eine Gesellschaftskrise zu, die das Land zu zerreißen drohte. Die alteingesessenen katholischen Milieus verhakten sich mit den global-urbanen Kulturen, die auf der Insel Einzug gehalten hatten. Doch innerhalb weniger Jahre machte das Land einen erstaunlichen Sprung in eine moderne Demokratiekultur. Eine große Rolle spielten dabei breitflächige Town-Hall-Meetings, in denen Bürger über Rechte und Verbindlichkeiten, Gesetze und Reformen diskutierten. Für viele Jahre hatte Irland dann einen sehr beliebten, offen homosexuellen Ministerpräsidenten, Leo Varadkar. „Managing Transformation“-Prozesse haben sich auch in vielen anderen Ländern bewährt, um die Zentrifugalkräfte der Gesellschaft zu zähmen (etwa in den Verfassungs-Reformen in Chile und Island).
Ein neues Zukunftsbild
Konstruktive Politik handelt von einem klugen Umgang mit „Visionen“. Ein Beispiel ist das Zukunfts-Glücksmodell von Ha Vinh Tho.
Ha Vinh Tho, „Der Glücksstandard: Wie wir Bhutans Bruttonationalglück praktisch umsetzen können“
Vinh Tho, als Sohn eines vietnamesischen Diplomaten und einer französischen Mutter in Paris aufgewachsen, war von 2012 bis 2018 Direktor des Glücksnational-Projektes von Bhutan (GNP). Als einziges Land der Erde hat der Himalaya-Staat einen „Wellbeing-Index“ als Steuerungsinstrument für die Politik eingeführt, der das Bruttosozialprodukt ergänzt. Heute arbeitet er an einer Erweiterung dieser Idee für Unternehmen, Institutionen und andere Länder der Welt.
Antipopulistischer Widerstand
Es ist auf Dauer mühsam, denjenigen hinterherzulaufen, die ihre inneren Ängste mit Wut verwechseln – sie „mitzunehmen“, sie „abholen zu wollen“, führt an irgendeinem Punkt ins Absurde. Angstgetriebene Menschen zu beschimpfen ist jedoch ebenso sinnlos wie kontraproduktiv. Manchmal ist es aber schlicht notwendig, dem hysterischen Zorn eine klare Position gegenüberzustellen. Und von einer schweigenden zu einer deutlichen Mehrheit zu werden.
Ein kleines, natürlich unzureichendes Beispiel: In der 38.000-Menschen Gemeinde Freiberg in Sachsen haben „Corona-Gegner“ die üblichen mental-sozialen Verwüstungen durch monatelange „Wir-sind-das-Volk“-Demonstrationen angerichtet. Eine lokale Initiativgruppe um den Bürgermeister reagierte mit einer Gegeninitiative, in der sich Bürger, Firmen und Bildungsinstitutionen organisierten. Grundaussage: Nur 2 Prozent der Freiberger demonstrieren, halten aber 98 Prozent der Stadt in einer Art Geiselhaft. In der Initiative #wir-lieben-freiberg stellten die Bürger mit witzigen Plakaten klar, wohin die überwiegende Mehrheit der Bürger tendiert.
www.mdr.de/nachrichten/sachsen/chemnitz/freiberg
Lokale Transformations-Politik
Ein wichtiger Fokus der De-Polarisierung liegt in lokalen, kommunalen Politikformen. Im Rahmen einer Stadt oder Gemeinde ist „Politik als Beziehung“ viel leichter zu realisieren. Allerdings braucht es dazu (Bürger-) MeisterInnen des Kommunikationsdesigns. In Deutschland bekannt wurde Claus Ruhe Madse, der Bürgermeister von Rostock, der die Stadt mit konstruktivem Geist durch die Corona-Zeit führte. Auch der grüne „Skandal“-Bürgermeister von Tübingen, Boris Palmer, steht trotz seines Hangs zur Provokation für eine de-polarisierende Strategie. Auf der großstädtischen Ebene haben sich Anne Hidalgo in Paris, oder Claudia López Hernández in Kolumbiens Hauptstadt Bogota als Transformations-Politikerinnen neuen Typs bewährt. Ein weiteres Beispiel stammt aus dem 90.000-Einwohner-Stadt Mechelen in Belgien. Der Bürgermeister Bart Somers – er stammt aus dem christdemokratischen Lager – vermochte es, eine Stadt, die an innerer Spaltung zu scheitern drohte, im Sinne einer aktiven Visionspolitik „umzudrehen“. Er nutzte dazu eine Doppelstrategie von „Pflichten und Verbindlichkeiten“, in der sich sowohl traditionelle Einwohner als auch Zuwanderer zu gegenseitigen Kooperationen verpflichteten.
www.derstandard.at/story
Rechter Populismus lebt davon, dass er jedes positive Gefühl aus den Menschen absaugt wie die Dementoren in Harry Potter-Romanen. Er will die Gesellschaft derart in Furcht versetzen, dass sie aufhört, sich gegen die Bösartigkeit zu wehren.
Aber die Geschichte wiederholt sich nicht.
AUCH wenn sie dazu neigt, sich zu reimen.
Es wird den radikalen Rechten so gehen wie der RAF im Deutschen Herbst – sie werden an ihrer eigenen Radikalisierung scheitern. Unsere wackeren Impfgegner werden sich postcorona andere Wege suchen müssen, ihre gestapelten Ängste zu verarbeiten. Vielleicht werden sich neue Sekten gründen, wie „damals“ Bhagwan oder Scientology. In dieser Abspaltung der Spaltungen wird manches geheilt, manches vergessen, aber vieles auch überwunden werden.
Und Neues wird sich zusammenfügen. Das große Thema unserer Epoche, die VERBINDUNG von Ökologie und Ökonomie, kann helfen, die festgefahrene Politik auf eine neue Ebene zu heben. Probleme lassen sich nicht mit den Mitteln und Denkweisen jener Vergangenheit lösen, in der sie entstanden sind. Sie lassen sich nur auf einer höheren Ebene überflüssig machen. Im Denken, Fühlen und Führen von der Zukunft aus.
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„Die Zukunft bringt Unbekanntes, doch das Bekannte prägt die Zukunftsbilder. Und der Mensch bleibt ein unverbesserlicher Extrapolierer. Jedes Mal unterstellt er, es werde in derselben Richtung weitergehen, in die es jeweils gerade geht – als setze das Leben sich linear fort. Zum Beispiel: Die Demokratie ist in einer Krise, also wird sie noch tiefer in die Krise stürzen. Aber die Zukunft ist anders. Anders als die Vergangenheit, die die Reaktionäre nachbilden. Anders als die Voraussagen, die sich selten erfüllen. Vor allem ist die Zukunft anders als unsere Zukunftsvorstellungen.“
Roger de Weck, „Die Kraft der Demokratie“, S. 231
Die erweiterte Demokratie
Gisela Erler ist die Frau, die die Zukunft der Demokratie durch neue Formen der Bürgerbeteiligung voranbringen will. 10 Jahre lang, von 2011 bis 2021, hat sie als Staatsrätin für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg neue Konfliktlösungs-Strategien entwickelt. Wie bekommt man Bahnhöfe und Straßen gebaut, auch wenn viele strikt dagegen sind? Wie weist man Naturschutzgebiete auch gegen die Forstindustrie aus, und wie geht man mit Shitstorms gegen Windräder um? Wann sind Volksentscheide wichtig und richtig, und wann führen sie ins Desaster? Ein Erfahrungsbericht.
Die Regierung konnte damals nur gebildet werden, wenn es einen Volksentscheid zu „Stuttgart 21“ gab. Die Grünen wie die SPD hatten vorher stets mehr Volksabstimmungen gefordert. Aber DIESE Volksabstimmung wollten sie eigentlich nicht. Die Abstimmung um den Stuttgarter Bahnhof ging für die Grünen krachend verloren. Aber das AKZEPTIEREN dieser Abstimmung hat sehr zur Glaubwürdigkeit der Grünen und Winfried Kretschmanns beigetragen.
Man kann also auch Volksentscheide verlieren – und dadurch Vertrauen gewinnen. Denn dann haben die Leute das Gefühl: Jetzt haben wir es einmal gesagt, und man hat auf uns gehört! Man kann das offenbar therapeutisch nutzen, als Friedensangebot und konstruktives Vertrauensvotum, aus dem Neues entsteht.
Die ersten fünf Jahre haben wir in der Demokratie-Arbeit zunächst einmal vor allem die bürokratischen Bedingungen für bestimmte Verfahren möglich gemacht. Wir haben eine Verwaltungsvorschrift für alle Behörden entwickelt, die vorschreibt, dass Planer bei Straßentrassen, Fabrikanlagen, Infrastrukturprojekten, die Bürger beteiligen müssen, und zwar VON ANFANG AN. Dafür gibt es Verfahrensregeln, auch Geld, ungefähr ein Prozent des Budgets. Wir haben an der Front der Verwaltung richtig gepflügt, so dass ein echter Sinneswandel in Sachen Partizipation entstanden ist.
Das klingt langweilig und unspektakulär und bürokratisch. Es ist aber ein wichtiger Schlüssel. Es entstanden neue Entscheidungsnetzwerke zwischen Beamten, Verwaltern, Betreibern und Bürgern. All das wurde gleichzeitig auch digitalisiert. Auf unseren Beteiligungsportalen konnte man genau sehen, was geplant wurde; jeder kleinste Waldweg, jede Autobahn. Alles wurde genau dokumentiert und zugänglich gemacht. Schon das war ein gewaltiger Fortschritt.
Es gibt keine echte Innovation in der Politik, wenn man nicht die Behörden knackt. Sonst zerschellen neue Ideen, wie die Protestbewegungen, immer an der Wand. Weltweit. Bürokratien können ALLES ausbremsen, wenn sie es nicht wollen. Sie können es aber auch ermöglichen, mit den richtigen Spielregeln.
Meine zweiten fünf Jahre waren von der Entwicklung eines intermediären Systems der Entscheidung geprägt. Die Kirchen, die Vereine, die Gewerkschaften, haben ja früher viele gesellschaftliche Konflikte geregelt. Man wird sie auch in Zukunft brauchen, aber sie haben längst nicht mehr diese Durchschlagskraft. Wir haben dann geschaut: Wie macht man am vernünftigsten Bürgerbeteiligung? Welche Form von Versammlungen sind sinnvoll?
Man sollte zum Beispiel nicht einfach eine Anzeige in die Zeitung setzen: Am Samstag ist eine Bürgerversammlung, da mag kommen wer will! Denn dann kommen die immergleichen 3 oder 10 oder 30 Leute, engagierte Leute, aber immer mit einem ganz bestimmten Auftritt. In Baden-Württemberg sind das oft frisch pensionierte Ingenieure. Bei sozialen Themen wie Kindergärten kommen auch Frauen, aber immer wenige. Meistens Leute, die SEHR dagegen sind. Aber sie sind sehr klug, sie wissen im Detail oft mehr als die Beamten. Sie hatten einmal Einfluss in ihrer Firma, und jetzt kompensieren sie ihre Wirkungslosigkeit, indem sie sich negativ festbeißen.
Wir machten dann zunächst eine Akteursanalyse: Wer ist potentiell FÜR und wer ist GEGEN das Projekt? Wichtig ist auch das DAFÜR: Wirtschaft, Hoteliers, Senioren, Gewerkschaften, Fahrradfahrer, Menschen, die zunächst nicht so stark engagiert sind. Mit diesen Menschen starten wir eine Begleitgruppe. Das hat zum Beispiel beim neuen Gefängnis in Rottweil funktioniert. Es wird das FENG-SHUI-Gefängnis der Staatsrätin genannt. Der Kern ist: Du bringst die Menschen an relativ kleinen Tischen zusammen. 7 oder 8 Bürger, die moderiert diskutieren. Sie müssen einander zuhören, sie können nicht einfach losbrüllen, und kein Matador beherrscht die Verhandlung. Das führt zu ausdifferenzierten Diskussionen und oft auch zu Lösungen. Vor allem aber führt es dazu, dass alle es als einen politischen Prozess verstehen, statt als Benachteiligung oder Bevorzugung.
Der Zufallsbürger bestimmt über Großprojekte besser als die Lobbys des Dafürs oder Dagegens.
Wir haben dann den Kreis erweitert. Wir wollten nicht nur die festgelegten Akteure aller Art, die „üblichen Verdächtigen“ beteiligen, sondern zufällig ausgewählte Menschen. Man schreibt 1000 an und lädt sie ein, und wenn man Glück hat, machen 50 mit. Die Leute werden nicht verpflichtet, aber sie bekommen den Vorschlag, an einem Meinungsbildungsprozess teilzunehmen. Diese Methode wurde bereits in vielen Ländern erprobt, besonders erfolgreich als Citizens’ Assembly in Irland zum Thema Abtreibung, bei der die Bürger eine Fristenlösung vorschlugen, die dann per Volksabstimmung akzeptiert wurde.
Es ist dann immer wieder dieselbe und beglückende Erfahrung: Diese Bürger sind tatsächlich interessiert, sie sind in der Regel NICHT parteipolitisch gebunden, sie sind kritisch, aber auch konstruktiv, wenn man sie ausführlich informiert. Notare, Rechtsanwälte, Arbeiter, Hausfrauen – das wird demographisch gewichtet. Immer halb Männer, halb Frauen, das macht unglaublich viel aus. Es ist kein vollkommen repräsentatives Verfahren, aber es ist die breiteste mir bekannte Palette, Bürger zu beteiligen. Das Verfahren löst nicht alle Probleme. Aber du bekommst heraus: Wo liegt der mögliche KONSENS? Das muss keineswegs ein fauler Kompromiss sein – es können auch ganz neue Ideen entstehen.
Wir haben die Methode der Zufallsbürger dann auch mit nach Berlin und Brüssel getragen. Der große Bürgerrat zu „Deutschlands Rolle in der Welt“, der für den Bundestag berichtete, stammt mit aus dieser Idee. Aber natürlich müssen die Parlamente dann entscheiden – und sie müssen erst lernen, diese Form der Beteiligung wirklich anzuerkennen und zu nutzen. Auf jeder Ebene. Aber es ist wichtig, dass es eine ÖFFNUNG der Parlamente für solche Prozesse gibt, das erzeugt ein völlig anderes politisches Klima. Bessere Verknüpfungen von Parteien, Regierungen, Bürgern, Verwaltungen.
Meine Erfahrung ist: Die Bürger erwarten gar nicht, dass alles umgesetzt wird, was sie fordern. Sie erwarten aber, dass man ihnen gut erklärt, wenn man etwas NICHT umsetzt. Und sie sind sehr dankbar, dass man ihnen ernsthaft zuhört.
Das gilt auch im größeren Rahmen. Es gibt jetzt Zufalls-Bürger für Europa, Bürgerräte mit Teilnehmern aus allen EU-Staaten, die diesen Herbst und Winter über die Zukunft Europas sprechen – bei mehreren Sitzungen in Straßburg und virtuell. Sie speisen ihre Vorschläge dann in die große Konferenz zur Zukunft Europas ein, die jetzt begonnen hat. Wo treffen sich denn sonst europäische Bürger und reden ernsthaft miteinander? Am Strand, im Urlaub vielleicht, aber da bleiben sie meistens immer noch getrennt auf ihren Handtüchern.
Man muss jetzt ein paar Jahrzehnte mit diesen Formen arbeiten. Der größte Erfolg für mich ist, dass im neuen Koalitionsvertrag in Baden-Württemberg steht, dass es bei jedem Großprojekt und jedem wichtigen neuen Gesetz einen Bürgerrat geben muss. Das verhindert hoffentlich Prozesse, die sich in die Länge ziehen, Unfrieden, angestaute Aggression. Es verhindert übrigens wahrscheinlich auch Volksabstimmungen, die oft in schreckliche Schlachten ausufern und politisch fürchterlich missbraucht und funktionalisiert werden können. Volksentscheide sind heute auf nationaler Ebene ein großes Risiko, sie können von Populisten gekapert werden, vor allem, wenn es um die fundamentalen Fragen wie Migration oder Grundrechte geht, um Europa oder Themen der Minderheiten oder auch um Gender-Themen.
Bürgerbeteiligung verzögert übrigens nicht Entscheidungen, wie es oft vermutet wird. Sie machen sie nicht schneller, sie machen sie nicht langsamer. Aber sie machen sie oft BESSER. Sie verhindern die schlechten Alternativen. Die Entscheidungen können dann, WENN sie gefallen sind, leichter umgesetzt werden. Anwohner benutzen ja sehr gerne das Klagerecht, und das kann Projekte auf Jahrzehnte verhindern. Wenn man zum Beispiel den Ausbau der Windkraft verkürzen möchte, muss man die Klagewege verkürzen. Davon ist im Moment viel die Rede. Das können aber wahrscheinlich am ehesten die Grünen mit durchsetzen, auch durch Bürgerräte, weil sie sich ja oft den Gegnern, den Naturschützern zum Beispiel, nahe fühlen. Nur De Gaulle, der Kriegsheld, konnte die französischen Truppen aus Algerien abziehen! Auch das ist ein Paradox der Demokratie, aber ein fruchtbares, wenn man es richtig nutzt.
Wir sollten versuchen, die Menschen so fest in unserer Demokratie zu halten, dass sie nicht aus dem demokratischen Konsens herausfallen. Wenn die Demokratie erst einmal auf einem solchen Schlitterweg ist wie in Ungarn oder Polen, dann muss man sich wirklich Sorgen machen.
Die Zufallsbürger sind gut für das, was für die Leute schon denkbar und konkret ist. Aber man braucht in der Gesellschaft auch weiterhin ein Auge für das wirklich Neue, Andere. Für Protest aller Art, aus den Nischen heraus. Es geht um eine Kultur des Zuhörens. Des Wahr-Nehmens, das unsere Gesellschaft immer wieder wachhält. Wir brauchen muntere Protestbewegungen und ein Gefühl für nötige gesellschaftliche Innovationen. Auch für solche, die sich im Moment die meisten Menschen noch nicht vorstellen können.
Auszug aus: Zukunftsreport 2022