15 – Zukunfts-Irrtümer – Teil 1
Wie wir über das Morgen irren
Oktober 2017
Zukunfts- und Trendforscher irren. Aber auf welche Weise irren sie? In diesem Essay versuche ich, die Irrtümer der Prognostik aus der Perspektive der Kognitions-Psychologie zu erkunden. Die Grundthese: Wir Prognostiker irren sozusagen stellvertretend für alle anderen. Wir sind Teil einer medialen Vorher- und Voraussage-Industrie, die ihre Resonanz aus den Tiefenschichten der humanen Psyche bezieht.
Fehlprognosen spiegeln dabei den fehlbaren menschlichen Geist; sie geben vor allem Auskunft über unsere inneren Weltkonstruktionen, unsere Miss-Konzeptionen von Wandel und Wirklichkeit. Nur wenn wir das erkennen, können wir „wahre” Zukunftsprognosen machen.
Übersicht:
- Wishful Thinking: Die Zukunft als psychologischer Wunschraum.
- Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer absolut einmalig turbulenten Zeit zu leben.
- Trend-Opportunismus: Der naive Trend-Glaube an oberflächliche Phänomene.
- Immerschlimmerismus: Die Projektion der eigenen Depression auf die Zukunft.
- Linearismus: Die Zukunft liegt nie geradeaus!
Im nächsten Teil:
- Techno-Hyping: Der Glaube an die Technik als alleinigen Zukunfts-Treiber.
- Metaphorimus: Die Verwechselung von Metaphern und Prophezeiungen.
- Kausalitäts-Falle: Die falsche Ableitung von Phänomenen.
Wishful Thinking: Die Zukunft als innerer Wunschtraum
Wenn Ray Kurzweil, der Prophet der Singularität, eine Bühne betritt, wird es auf eine ganz besondere Weise still. Ganz anders als bei Vorträgen auf normalen Konferenz, wo es Rascheln und Unruhe im Saal gibt, wenn eine Rede anfängt, ersterben alle Geräusche und Gespräche. Es entsteht die Stille einer Kirche, eines heiligen Ortes, eines Sanktums.
Das ist kein Zufall. Wie in der Kirche geht es um Erlösung.
Ray Kurzweil prophezeit mit der SINGULARITÄT jenen Punkt, an dem Technologie mit der menschlichen Existenz konvergiert. Irgendwann in den nächsten 30, 40 Jahren, so Kurzweil, wird die technische Beschleunigung so gewaltig geworden sein, dass unser Sein in die Superintelligenz der Computer aufgenommen wird. Unser Bewusstsein wird dann auf Quantencomputern laufen, wir können alle Krankheiten heilen; und ob wir überhaupt noch einen Körper brauchen, ist dann eher zweitrangig.
Das Erstaunliche ist, dass Ray Kurzweil immer rational klingt, obwohl er ein völlig metaphysisches Weltbild vertritt. Alles wirkt unausweichlich, vorherbestimmt. Alles verläuft in Kurven, die steil nach oben ragen, die wie Bilanzerwartungen eines Investmentbankers. Die Singularität ist ein Theorem, das wie die Existenz Gottes niemals widerlegbar ist. Ray Kurzweil übersetzt die Tröstungs-Geschichte der Religion in eine hypertechnische Zukunfts-Narration: eine Tröstung, bei der von der Zukunft endlich erwarten können, was keine Gegenwart erlösen kann.
Treten wir einen Schritt zurück und betrachten Ray Kurzweil von der menschlichen Seite. Man spürt hinter der Fassade des Visionärs eine große Traurigkeit. Man spürt, dass es sich um einen sensiblen, unglaublich verletzlichen und verletzten Menschen handelt.
Kurzweil hat mit 22 Jahren seinen Vater verloren, den er sehr liebte. In einer Szene in einem Film von John Berman wischt sich Kurzweile eine Träne am Grab seines Vaters ab: abcnews.go.com
Ray Kurzweils Vater Frederic („Fritz Friedrich”), geboren 1912 in Wien, war ein Multitalent, ein Autor, Komponist, Dirigent und Humanist. Und wahrscheinlich ebenfalls ein charismatischer, tief sensibler Mensch. Ray hat in seinem Haus in Newton-Massachusetts Kisten von Briefen, Dokumenten und Fotos von seinem Vater gesammelt. Er ist sich sicher, dass die Technik demnächst in der Lage ist, aus diesem Material einen authentischen Avatar zu formen. Eine künstliche Figur, die spricht wie sein Vater, denkt wie sein Vater, vielleicht sogar agiert wie sein Vater.
„Ich werde in der Lage sein, mit seiner Re-Kreation zu sprechen”, sagt Kurzweil. „Am Ende würde diese Repräsentation vielleicht sogar realistischer sein als mein Vater selbst, wäre er noch am Leben.”
STALKER, einer der mystischen Sci-Fi-Filme des Russen Andrei Tarkowski, handelt von der Reise zu einem mystischen Raum, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die drei Protagonisten, die in die „verbotene Zone” aufbrechen, um diesen Raum zu suchen, wissen am Ende selbst nicht mehr genau, was sie dort suchen. Sie sind verängstigt von den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, und deren Konsequenzen sie fürchten. Sie zerstreiten sich über die Frage, ob man den Wunsch-Raum nicht besser zerstören sollte.
www.imdb.com
de.wikipedia.org
In den 60er Jahren stellte Hermann Kahn, der Meister der spektakulären Zukunftsforschung, eine ganze Reihe herausragender Prognosen auf. Eine davon lautete: Spätestens im Jahr 2000 wird es Schlankheitspillen geben, die uns auf ein exaktes Wunschgewicht bringen! Kahn wog fast 200 Kilo und starb an Herzinfarkt.
Die Zukunft ist ein Wunschbaukasten, der mit unseren inneren Illusionen, Hoffnungen und Sehnsüchten gefüttert ist. Das Internet wird die Demokratie befördern und alle kreativ machen – wer wünschte sich das nicht? Wir werden unsterblich, Krebs wird geheilt, Roboter werden uns in ewige Bequemlichkeit entlassen – all diese Hoffnungen sind zutiefst kindliche Wunsch-Phantasien.
Selbst Dystopien sind in gewisser Weise Wunschprodukte: Wir sind enttäuscht vom Gang der Dinge, zornig auf “die Menschheit”, so dass wir den großen Untergang als gerechte Strafe herbeiwünschen. Soll doch alles zum Teufel gehen, wenn die Welt nicht nach unseren Wünschen tanzt!
Wenn Sie eine großartige Zukunfts-Vision hören – fragen Sie sich zuerst: Wie sieht das seelische Handicap aus, die Verletzung, die der Protagonist dieser Vision mit sich herumschleppt? Wovor läuft er Richtung Zukunft davon? Aber tun sie dies bitte mit Herzlichkeit und Zuneigung. Wir sind alle nur sterbliche Wesen, die versuchen, mit unseren inneren Abgründen zurechtzukommen. Die Zukunft bietet dafür reichhaltiges Material.
Kurzform:
Zukunfts-Visionen entstammen immer auch inneren Sehnsüchten und transzendentalen Spannungen. Sie haben mit unverarbeiteten Ängsten oder persönlichen Traumata zu tun. Wir neigen dazu, aus unseren existentiellen Gefühlen ein Zukunftsbild zu formen, das uns trösten und halten kann.
Die Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer einmaligen, turbulenten, sensationellen Zeit zu leben
Nie war die Lage der Welt so instabil, so auf der Kippe! Nie gab es so viele Verunsicherungen, Gefahren, chaotische Veränderungen, Krisen, rasende Wandlungsprozesse! Nie war alles so gefährlich, dramatisch und existentiell! Wir leben in jeder Hinsicht – sozial, ökonomisch, ökologisch – in einer Peak-Zeit, einer Gipfel-Epoche, einer dramatischen absoluten Entscheidungs-Ära!
Es sind die entscheidenden Jahre der Menschheit!
Wir haben noch 50 Jahre Zeit bis zum Weltuntergang!
Das sagt zum Beispiel Stephen Hawking, das Genie mit der schrecklichen Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselt, aber gerade da seine Autorität über viele Jahre nur noch erhöht hat. Hawking will dass „wir” schnell auf den Mars auswandern, damit die Menschheit noch eine Chance hat.
Um die These von der gefährlichsten aller Zeiten zu überprüfen, sollten wir uns in die Lage unserer Vorfahren versetzen. Diese müssten es ja – wenn die These stimmt – im Vergleich zu uns besser und ruhiger gehabt haben. Schließlich lebten sie in der guten, alten Zeit.
Seit mindestens 200.000 Jahren zogen unsere Homo-Sapiens-Vorfahren in kleinen, verstreuten bands and tribes durch die Savannengebiete der Erde. Sie wurden gejagt von Tieren und versuchten selbst welche zu jagen. Das Leben war geprägt von Krankheit und Tod. Viele unserer Ur-Vorfahren blieben durch den Faustkeil des Nachbarstamms auf der Strecke, bevor sie sich fortpflanzen konnten. Mindestens einmal, vor etwa 80.000 Jahren, so behaupten die Anthropologen, gab es ein „human bottleneck”. Die Gesamt-Anzahl aller lebenden Menschen lag damals bei unter 2000. Eine kritische Masse, die tatsächlich zum Aussterben hätte führen könne. Homo Sapiens war an den Rand der Evolution gedrängt.
Als die ersten Bauernkulturen entstanden – als die Jäger und Sammler sesshaft wurden – wurde die Lage nicht besser, sondern dramatischer. Epidemien entstanden dadurch, dass Menschen plötzlich auf engstem Raum zusammenlebten. Die ersten Städte zerfielen schnell zu Ruinen, weil sich die Bewohner in andauernden inneren Kriegen befanden, wenn die Ernte ausfiel. In der Zeit der „großen Reiche” – Ägypten, Rom, Inkas, Maya – lebten Abermillionen Menschen als Sklaven ein kurzes, prekäres Leben. Mord und Völkermord waren an der Tagesordnung; gegen die ständigen politischen Turbulenzen im römischen Reich, inclusive Sklavenmord und Krieg, erscheinen die heutigen Krisen der EU wie ein sanfter Abendwind.
Im Mittelalter gingen Seuchen um, die die europäische Bevölkerung um die Hälfte reduzierten. Klerus und Adel betrieben regelmäßig Ausrottungskriege. In Asien entwickelten sich die ersten stabilen Feudal-Bauernkulturen, deren Bevölkerung längere Zeit in Frieden lebte. Bis die Mongolen einfielen und bis nach Japan vordrangen. Abgesehen von kurzen Blütezeiten, etwa der Renaissance, die aber niemals eine ganze Generation und nur wenige Stadtstaaten umfasste, gab es kaum einmal für eine Generation Kontinuität und Sicherheit, Aufschwung und Fortschritt. Menschliches Leben war eigentlich immer „nasty, brutish and short”, wie Thomas Hobbes formulierte. Wohlstand kannte nur eine winzige Überschicht, und selbst deren Kinder starben mit 14 an Diphtherie oder Schwindsucht.
Auch der Beginn der Industriegesellschaft änderte das nicht wesentlich. Bis ins 20. Jahrhundert erlebte praktisch jede europäische Generation einen mörderischen Krieg mit Konsequenzen für das eigene Leben. Unsere Großeltern erlitten dann einen echten Weltuntergang, einen Zivilisationsbruch, ein ungeheures Massenmorden. In meiner Kindheit standen sich zwei Supermächte bis an die Zähne nuklear aufgerüstet gegenüber. Das ist noch einmal gut gegangen.
Aber ruhige Zeiten? Wann – wenn nicht heute?
Andererseits gilt: Turbulenz ist die Konstante des Komplexen. Das Zeitalter der Globalisierung bringt notwendigerweise Turbulenzen mit sich, aber viele dieser Turbulenzen führen auch zu neuen Lösungen und Stabilisierungen. Allerdings bringt uns das mediale System heute jede Spannung, jeden Konflikt, jede Abweichung vom Erwarteten, vom Normalen, das wir als „Friede, Wohlstand, Wachstum” definieren, so nahe wie möglich. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie erzeugt einen Zwang zur Dramatisierung, Zuspitzung, Übertreibung.
Vielleicht hat die Idee einer extraordinären Schlüsselzeit, der finalen Entscheidungs-Epoche, in der wir leben, auch etwas mit einem narzisstisch gefärbten Individualismus zu tun. Eine Art Über-Stolz, eine Grandiositäts-Sehnsucht: Alles wirklich Wichtige soll in meiner Lebenszeit passiert sein! Dass sich unsere Epoche im Nachhinein auch wieder nur als eine Zeit wie viele anderen erweist – turbulent, gefährlich, schwierig, aber auch über weite Strecken ganz normal – halten wir nicht gerne aus.
Kurzform:
Gegenwarts-Eitelkeit lässt uns die Vergangenheit nostalgisch verklären und die Konstanten des Fortschritts ignorieren. Durch die Definition einer „Ausnahmesituation” wird unser Bedürfnis nach Besonderheit und Drama befriedigt. Aber die Zukunft wird vielleicht viel „normaler” als wir denken.
Trend-Opportunismus – Trendgläubigkeit oder „Trend-Hysterie”
Haben sie schon einmal vom PUSSY SLAPPING-Trend gehört?
Das ist ein Jugend-Trend. Zumindest war es einer. Im Sommer 2017 ging er durch viele Medien. Mädchen auf Schulhöfen haben die Angewohnheit entwickelt, sich gegenseitig auf die Pussy zu schlagen.
„Bedenklicher Trend auf den Schulhöfen!!! Was sagt es uns über die Gesellschaft, in der wir leben? Unglaublich! Ein wahnsinnig sensationeller Trend!
Natürlich ist Pussy-Slapping kein echtes Phänomen. Irgendwelche Mädchen-Gruppen mögen diesen skurrilen Brauch irgendwann mal in einigen Schulen zu Spaß praktiziert und gepostet haben. Und irgendjemand, der die Seiten einer Zeitung oder die digitalen Spalten einer Website füllen musste, machte daraus einen „Trend”. In ziemlich eindeutig voyeuristischer Absicht.
Die armen Hospitantinnen, die im Frühjahr 2017 von zahlreichen Boulevard-Medien in Schulen geschickt wurden, um den Trend zu verifizieren, fanden keinerlei Anzeichen für massenhaftes Pussyschlagen. Ein Fake. Ein peinlicher, obszöner Blödsinn. Wieder mal „so ein Trend”. Aber was sagt uns das über „die Trends”?
Wer macht eigentlich Trends?
In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann das Wort „Trend”, ursprünglich eher aus der Statistik und dem Börsenwesen stammend, seine große Karriere. Trendforschung war plötzlich das „große Ding”. Im Jahr 1994 erschien Faith Popcorns berühmtes Buch „Clicking”. Darin definierte die leicht skurrile Amerikanerin all die schönen Trend-Begriffe wie „Cocooning” und „Clanning” und „Egonomics”, die heute noch durch jeden Anfängerkurs im Marketing geistern. Faith Popcorn tat das keineswegs oberflächlich. Sie argumentierte aus der Sicht der Gesellschafts-Beobachterin mit einem durchaus soziologischen Blick.
„Cocooning” zum Beispiel definierte sie als jene Rückzugs-Operation, in der sich viele Amerikaner in der US-Wirtschaftskrise der 90er Jahre auf die eigenen vier Wände zurückzog. Ihr „Eva-lution”-Begriff zielt auf die neuen, selbstbewussten Großstädterinnen und den Wandel im Geschlechterverhältnis. Ihren Begriff „Down-Aging”, der den subjektiven Verjüngungseffekt benennt, der paradoxerweise mit der Verlängerung unserer Lebenszeit einherkommt, nutzen wir noch heute in der systemischen Prognostik. Faith’s größte Gabe war aber ihr Talent zum WORDING: Ihre Begriffe klangen einfach dermaßen poetisch und ein-leuchtend, dass sie sich wunderbar dazu eigneten, sie einfach als Verkaufs-Formeln zu benutzen.
Eine Trendbehauptung wirkt mit drei Effekten auf unser Hirn. Erstens ist ein Trend immer eine willkommene und entlastende VEREINFACHUNG: Aus dem Meer der Möglichkeiten wird ein isoliertes Phänomen herausgehoben und zum ICON gemacht. Zweitens erzeugt ein Trend durch sein „Naming”, („Cocooning”, „PussySlapping” etc.) einen neuronalen REIZ. Als neu-gierige Sprach-Wesen sind wir fasziniert, wenn wir mit neuen Worten konfrontiert werden. Vor allem wenn es sanft und irgendwie GUT klingt.
Drittens SCHMEICHELN Trends oft unseren Bedürfnissen oder Interessen. Wenn wir zum Beispiel Investmentbroker sind, geben wir gerne den Prognose-Trend-Kurven einen Drall nach oben. Wenn wir vor etwas warnen wollen, nehmen wir die Kurve mit dem höchsten ”Absturz-Effekt”. Dabei wählen wir nach Belieben Ausschnitte und Abschnitte. Wir nutzten Trends im Sinne einer EXPECTATION BIAS: Wir ERWARTEN etwas und nehmen Trends als Beweis, dass es so kommen soll…
Einer unserer Kunden sagte einmal zu uns: „Wir haben hier ein Produkt, was sich überhaupt nicht mehr am Markt verkauft. Können sie uns dafür einen TREND erfinden?”
Wenn Trends dargestellt werden, geht es nicht selten darum, sie jemandem zu verkaufen. Trends sind „operative Meme”, von denen man sich Motivationen erhofft. Marketing-Leute verkaufen den Firmen, für die sie arbeiten, Trends, als Beratungsdienstleitungen für Innovationen. Politiker verkaufen Trends, um gewählt zu werden – als Bedrohungen oder als Versprechungen. Journalisten verkaufen Trends, weil sie „interessante Inhalte” verkaufen müssen – und dafür jedes noch so kleine Phänomen, jede halbseidene Vermutung, ausschlachten.
Trends suggerieren Differenzierungs-Wissen: Sie handeln von Phänomenen, von denen nur WENIGE wissen. „Exklusiv” eben. Das erzeugt ein Vorteils-Versprechen, das Gier erzeugt – und damit den Impuls, „mitzurennen”. Man möchte auf keinen Fall etwas verpassen! Man möchte an vorderster Front mitverdienen! Das Ergebnis ist ein riesiger Haufen ziemlich unnützer Innovationen und undurchdachter „Brand-Extentions”, die sich am Markt nicht bewährt haben. Zum Beispiel Wellness-Salami und Wellness-Filzlatschen und Wellness-Gummibärchen und Wellness-Wasser, Oder Hiphop-Socken und Einhorn-Eis und Cocooning-Sofas…
Immerschlimmerismus –Immer weiter, immer mehr…
Es ist immer wieder erstaunlich, wie zäh sich bestimmte Annahmen halten, wenn sie einmal unter der inneren Rubrik TREND eingespeichert sind. In Zeiten des wildgewordenen Populismus erweist dieses Zähigkeits-Problem plötzlich seine tiefe Problematik. Es taucht in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen auf als nur in der Welt von Marketing und Konsum.
- Die Kriminalität nimmt immer weiter zu” – in fast allen Sektoren nimmt die Kriminalität weiter ab, auch weltweit.
- „Die Globalisierung lähmt die Weltwirtschaft, weil sie immer mehr Ungleichheit erzeugt” – die Weltwirtschaft wächst längst kräftig, auch in ungleichen Gesellschaften.
- „Die Computer werden immer schneller und schneller.” – hier wird auf das Moor´sche Gesetz Bezug genommen, ein „Trend” zu ständiger Verdoppelung der Rechengeschwindigkeiten und Verbilligung der Chips. Dieses Gesetz ist seit 2015 gebrochen, aber kein Berater, kein Zukunfts-Speaker, nimmt die entsprechende Folie aus seinem Vortrag. Es klingt so gut. Man hat sich dran gewohnt.
- „Die Deutschen werden immer weniger und älter!”. Dieses Mantra hat die gesamte Zukunftsdebatte in den letzten Jahren dominiert. Ob es um Renten ging, die Ausländer-Angst oder die allgemeine Zukunftsfrage – das Vergreisen und Aussterben des „eigenen Stammes” ist immer ein gutes Schreckgespenst. Die schwierige Wahrheit: Die deutsche Bevölkerung wird auf Jahrzehnte WACHSEN, nicht nur aufgrund von (meist europäischer) Immigration, sondern auch, weil die Geburtenrate wieder steigt. Ab 2040 wird der Durchschnitt der Bevölkerung wieder JÜNGER!
Am zähesten halten sich jene Trend-Gerüchte, mit denen man drohen, und Angst machen kann. In Wirklichkeit gibt es keinen Trend, der nicht irgendwann an seinen Peak, seinen „Tipping-Point” Gipfel oder Sättigungsgrad kommt. Der plötzlich ausläuft oder abflacht. Oder einfach verschwindet. Oder nie wirklich da war, wie Pussy Slapping.
Kurzform:
Wir sind leichtgläubig in Bezug auf Trendbehauptungen, weil sie uns eine Deutungsmacht verheißen, uns amüsieren und unterhalten, und für bestimmte Interessen nutzbar sind. Wir vergessen, dass jeder Trend irgendwann einen „Peak” erreicht und danach abflaut. Wir ignorieren, dass jeder Trend einen Gegentrend hat.
Linearismus – Die Zukunft liegt nie geradeaus
Und hier die wahre Meisterin aller Zukunftsirrtümer. Sozusagen der Generalirrtum, der alle anderen verbindet: Das Geradeausdenken.
Die Welt, in der wir leben, ist komplex. Es gibt in ihr unglaubliche Schönheit, aber auch ein großes Durcheinander. Unser Hirn ist auch komplex. Aber es ist begrenzt in seinen Kapazitäten, in seinen Möglichkeiten, die Welt zu konstruieren. Wir sind nicht allzu gut im Parallel-Denken, im Multitasking und zusammenfügen verschiedener Abstraktionsebenen. Wir sind nicht wirklich motiviert, wenn es um das Verstehen von Systemen geht. Denn Systeme sind meistens „langsam”. Sie lassen wenig Wirksamkeit zu. Weil das so ist, präferieren wir Trends, die eine eindeutige Verlaufslinie haben: Aufwärts oder abwärts!
Wenn wir einen Trend darstellen, tun wir das meistens mit einer Gerade. Manchmal auch mit einer akzelerativen Kurve, deren Annahmen entweder aus Angst entstehen – negative Übertreibung – oder aus Gier – positive Übertreibung. Fast immer vergleichen wir einen Vergangenheitswert A mit einem Gegenwartswert B und ziehen danach eine weitere Aufwärtsbewegung nach vorne, zu C. Je nachdem, wie begeistert wir sind, oder was wir gerade verkaufen wollen (Eine Geschäftsmöglichkeit oder eine Angst), machen wir noch einen Strick-Schwung nach oben.
Was wir dabei gerne ignorieren, sind die Prozesse, die im Verlauf einer solchen Prognose IMMER auftreten.
- Der Wert, den wir für die Vergangenheit annehmen, ist oft falsch, weil er in ganz anderen Kontexten stattfand. Wenn wir etwa über Misshandlung in der Ehe oder sexuellen Missbrauch eine Trendlinie zeichnen wollen, haben wir in der Vergangenheit meist gar kein Daten-Material, weil nichts von dem Unglück in die Öffentlichkeit drang.
- Wir vergessen den KONTEXTWANDEL, der auf dem Weg der Geraden (oder Kurve) von heute bis zum Zeitpunkt C stattfindet.
- Wir schneiden gerne „hinten ab” Im Netz kursieren zum Beispiel hunderte von Kurven zur Bevölkerungsexplosion, die allesamt an jenem Punkt abgeschnitten sind, an die die Kurve nicht mehr steil nach oben geht, sondern abflacht, um dann irgendwann abzufallen. So entsteht der Eindruck der „Explosion”. Wenn, dann müssten wir unsere Trendkurve immer als SIGMOID zeichnen – als erst aufsteigende, kulminierende und dann abflachende Kurve.
Kurzform:
Linearismus ist die kognitive Rückfall-Form unseres Hirns in eine einfache gerade Linien- oder Kurvenlogik. Dabei werden Veränderungsphänomene aus ihrem Kontext isoliert und systemische Zusammenhänge ignoriert. Wir starren auf einen Trendverlauf und ignorieren die Komplexität.
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Bei Nachdruck-Anfragen wenden Sie sich bitte an Mag. Michaela Németh: michaela.nemeth@horx.com