106 – Das Sigmoid-Modell
Wie die Zukunft in dynamischen Kurven entsteht
Zukunfts-Modelle
Folge 1
Wie lässt sich WANDEL modellieren? Basis- Wandlungsprozesse aller Art, ob Börsenkurse, Bevölkerungsverläufe oder Marktprozesse, lassen sich in Kurven ausdrücken. Das wissen wir schon aus der Schule. Aber der Umgang mit Kurven für komplexe ZUKUNFTSMODELLE bringt einige Probleme mit sich. Kurven werden oft unvollständig dargestellt. Man zeigt nur bestimmte Ausschnitte eines Verlaufs, um einen „Trend“ zu beweisen. Oder nur auf einen einzigen Faktor reduzierte Kurven, also aus ihren KONTEXTEN gerissen. Dadurch werden sie auf falsche Weise „linearisiert“.
Einer der klassischen Darstellungs-Fehler ist das, was man EXPONENTIELLE Illusion nennen könnte.
Sigmoid-Kurven haben immer einen sechsstufigen Ablauf:
1. Statik (noch tut sich nichts)
2. Akzeleration
3. Aufstieg (die Kurve geht steil)
4. Abflachung
5. Tipping Point
6. Plateau/Stabilisierung oder Abstieg
In vielen Kurvendarstellungen wird der Verlauf jedoch rechts abgeschnitten. Ganz besonders beliebt ist das bei der Weltbevölkerung, oder dem CO2-Ausstoß. Die Kurven gehen rechts immer steiler nach oben, was in einer Projektion von „Bevölkerungsexplosion“ oder „Klimakatastrophe“ mündet. Auch die Profiterwartungen von Unternehmen werden oft so dargestellt (vor allem von Börsenanalysten). Durch das Abschneiden entsteht der Eindruck, der AUFSTIEG wäre endlos, er würde „immer steiler“. Das soll Angst machen. Oder Investitionen triggern.
Es gilt jedoch immer die erste Grundregel der dynamischen Welt:
JEDE KURVE HAT IRGENDWANN EINEN TIPPING POINT!
Kein Prozess kann ewig weitergehen. Exponentialität zerstört das System, das sie hervorbringt. Und jeder Trend erzeugt einen Gegentrend, der ihn irgendwann zum Stillstand oder zum „Kippen“ bringt!
Jemand, der sich besonders intensiv mit der Systemik von Sigmoid-Kurven beschäftigt hat, ist der amerikanische Kinderarzt und Pharmazeut Jonas Salk (1914 – 1995). Salk schenkte der Menschheit Anfang der 50er Jahre das Polio-Vakzin, den Impfstoff gegen die Kinderlähmung. Er entwickelte jenen Totimpfstoff, den die meisten von uns entweder als Doppelritzung der Haut oder später auf einem Zuckerstück bekamen, um gegen eine der schrecklichsten Infektionskrankheiten immun zu werden. 1955 antwortete Salk in einem Interview auf die Frage, wem das Patent gehöre: „Well, the people, I would say. There is no patent. Could you patent the sun?“ („Naja, ich würde sagen, den Menschen. Es gibt kein Patent. Könnte man die Sonne patentieren?“).
Neben seiner Forschertätigkeit war Salk ein universalistischer Humanist. Er beschäftigte sich sein ganzes Leben mit den Geheimnissen des Wandels. Dabei griff er auf philosophische Konzepte wie Tikkun olam zurück. Dieser hebräische Begriff stammt aus der jüdischen Philosophie und heißt „Welt-Reparatur“ oder „Konstruktion für Dauer“. Heute würde man sagen: Nachhaltigkeit.
Ein spezielles Interesse hatte Salk an der Entwicklung der Weltbevölkerung. Er sah bereits in den 50er Jahren hellsichtig voraus, dass die Weltbevölkerungskurve irgendwann ihren Zenit erreichen würde. Damals schon sanken die Geburtenraten in den Industrieländern, und Salk sah als Immunologe und Kinderarzt den Zusammenhang zwischen Kindersterblichkeit und der Abflachung der Bevölkerungskurve voraus, als noch niemand diese Weitsicht hatte.
Salk nutzte die Sigmoid-Kurve zudem in ihrer erweiterten Bedeutung als Metapher für universelle Veränderungsprozesse, die sowohl in menschlichen Lebenswelten als auch in der Natur als auch in Wirtschaftsprozessen stattfinden. Er sah in der Kurvendynamik universelle Prinzipien am Wirken. Prinzipien, die auch den Anteil der erneuerbaren Energien abbilden können. Oder die Reifung und Entwicklung der eigenen Persönlichkeit. Oder den Übergang zu einer neuen Epoche.
Krisen sind Übergangsphänomene in dynamischen Kurvensystemen!
Eine seiner Grunderkenntnisse: Eine Sigmoid-Kurve besteht immer aus zwei Teilen. In ihrem aufsteigenden Teil herrschen expansive Erwartungen: Optimismus, Aufbruch, Dynamik. Wenn die Kurve ihre steilste Stelle überschritten hat, an ihrem INFLECTION POINT, dem Punkt der Umkehr, entsteht jedoch eine neue Grundstimmung. Man spürt, dass etwas zu Ende geht. Sich nicht mehr im gewohnten Sinne steigern lässt. Das führt zu einer Phase der Verunsicherung, der Wutbereitschaft, der Konfusion. Trend folgt auf Gegentrend. Paradoxien wuchern. Bedeutungen verschieben sich. „Vergangenheits-Rebellionen“ entstehen (Nostalgie-Schwurbel).
Der eigentliche Epochen-Wandel findet jedoch im Hintergrund statt – in einer zweiten Linie, die den Aufstieg eines neuen Paradigmas abbildet. Dieses Paradigma – oder Supermem – kündigt sich bereits im ALTEN Normal an, bleibt dort aber noch in einer Minderheits-Position. Denken wir an den Aufstieg des Christentums ab dem 4. Jahrhundert. Die Renaissance. Die Aufklärung. Es waren zunächst immer „untergründige Strömungen“, die von Eliten getragen wurden, die einen neuen MINDSET ankündigten.
MEME sind die kulturellen Gegenstücke zu den GENEN. Während Gene das Wachstum von Organismen steuern, bestimmen MEME die Wandlungsprozesse von Kulturen. Es handelt sich um Ideen, Grundsätze, Überzeugungen, Ideologien, NARRATIVE, die sich laufend in komplexen Gesellschaften bilden. Sie „infizieren“ Hirne, springen von Mensch zu Mensch und formen dabei grundsätzliche Modelle der Wirklichkeit. Wenn sich einzelne Meme zu einem SUPERmem zusammenfügen, können sie ganze Gesellschaften oder Epochen prägen.
Die ökologische Wende passt genau in dieses Schema. Noch gelten in unseren mental-sozialen Systemen die Paradigmen des fossilen Industrialismus. Der momentane Streit um die Ökologie bildet den Kampf einer absteigenden Idee gegen eine aufsteigende Idee ab. Die grundlegende Dynamik der neuen Idee (eines so genannten Supermems) wird jedoch zu ihrer Durchsetzung führen. Wobei das alte Supermem nicht völlig verschwindet, aber „überschrieben“ wird.
Sigmoid-Kurven können uns helfen, wenn es darum geht, Epochenwechsel zu verstehen. Sie dienen dazu, Epochen und großflächige Veränderungsdynamiken zu modellieren, soziokulturellen Wandel sichtbar zu machen. Voraussetzung ist, dass wir die systemischen KONTEXTE verstehen, die in kurvilinearen Systemen herrschen. Jede Kurve ist ja nur ein Bild von EFFEKTEN, es geht aber auch darum, die EINWIRKUNGEN zu verstehen. Kurven in ihrer realistischen, systemischen Komplexität einzusetzen, ist ein wichtiges Fundament der systemischen Zukunftsforschung. Und eine ständige Herausforderung, in Zusammenhängen zu denken.
Lesenswert:
Jonas Salk und Jonathan Salk, „A NEW REALITY – Human Evolution for a Sustainable Future“, City Point Press 2018
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