114 – Die Weisheit der Zukunft

Was brauchen wir, um das scheue Reh der Zukunft nicht zu verscheuchen?

Wozu, werde ich manchmal gefragt, ist der Begriff ZUKUNFT überhaupt noch nützlich? In einer Zeit, in der es ja eigentlich gar keine Zukunft mehr zu geben scheint. Wo doch alles immer mehr „den Bach runtergeht“, sich die Krisen vor uns auftürmen und Verwirrungen und Ver-Zweiflungen über die Welt, die Zustände, sich häufen?

Früher wurde das Feld der Zukunft von Fortschritts-Utopien oder Religionen besetzt. Sozialismus und Christentum boten verlässliche Orientierungen an, mit denen man die Schrecken der Gegenwart überbrücken konnte: „Später“ würde alles besser werden. Heute ist der Blick in die Zukunft durch millionenfache Meinungen versperrt, die irgendetwas vermuten, die verängstigen, übertreiben, moralisieren. Wir hauen uns unentwegt Meinungen um den Kopf, und dabei verlieren wir die mögliche Zukunft aus den Augen.

Die Zukunft ist wie ein scheues Reh, das vor dem Lärm der rasenden Gegenwart flieht.

Wer eine Meinung hat, erfährt nichts mehr. Er schließt sein kognitives System und koppelt sich von der Wirklichkeit ab. Sieht die Dinge nur noch durch einen Tunnel, einen „Frame“, der immer enger wird.

Was aber wäre das Gegenteil von Meinung?
Weisheit.

Weisheit ist, wie ein bekannter Philosoph einmal formulierte, eine Mischung aus Gelassenheit, Empathie und Voraussicht. Man könnte noch die Toleranz hinzufügen. Die Großzügigkeit.
Die Weitsicht.
Und die Zuversicht.

Wenn ein Mensch weise ist, dann strahlt er eine ganz bestimmte Zukunftsenergie aus, die über seine eigene Existenz hinausreicht. Meine Großmutter zum Beispiel – die zwei Weltkriege erlebt und ihre soziale Existenz verloren hatte, aber immer noch voller „Possibilismus“ war („Wird schon schiefgehen!“) – hatte diese Energie. Ich habe sie heute noch in mir. Die meisten Menschen haben dieses innere Energiefeld. Aber in unserer rasenden Streitgesellschaft, in der es immer nur um die schrillsten Töne und die aufgeblasensten „Sager“ geht, wird sie verschüttet.

Weisheit ist eine stille Macht. Sie kann Kriege beenden, fatale Entscheidungen vermeiden oder der Zukunft einen neuen Sinn geben. Wer heute eine Rede des US-Präsidenten Biden hört (und wirklich ZUHÖRT – wer macht das schon noch?), kann Weisheit spüren. Biden verknüpft die Phänomene zu konstruktiven Zusammenhängen, er macht Hoffnung, vermeidet, wo immer es geht, Gegnerschaften. Er mahnt zur Vorsicht, zur Weitsicht, wie jetzt gerade im Israel-Hamas-Krieg. Er gesteht Fehler ein, die die Amerikaner gemacht haben. Das ist die wirkliche Größe der Weisheit, dass sie sich selbst einbezieht in die Erkenntnis der Fehlbarkeit.

Weisheit bedingt zweierlei: Lebenserfahrung und Selbsterkenntnis. Dazu gehört die Einsicht, dass nicht alles, was kommt, kontrollierbar und voraussagbar ist, sehr wohl aber „fühlbar“. Der weise Mensch ist mit der Zukunft verbunden. Er verirrt sich nicht in den Affekten und Emotionen der Gegenwart. Er weiß, dass die Welt komplex ist, aber eben auch dynamisch – dass Dinge sich ändern können, Wandel möglich ist.
Dass das Langfristige über das Kurzfristige siegt.

In den USA ist eine neue Zukunfts-Bewegung entstanden, das „Langzeitdenken“ oder der „Longtermism“ (siehe Kolumne 81: „Die Uhr des Langen Jetzt“). Diese Bewegung versucht, die rasende Kurzfristigkeit, in der wir unsere Gegenwart konsumieren, durch eine neue Beziehung zur Zukunft zu ersetzen. Im Langzeitdenken fragt man nicht mehr: „Was BRINGT uns die Zukunft?“ Sondern: „Was SCHULDEN wir der Zukunft?“ Man sucht nicht mehr nach Trends, denen man sich anpasst. Sondern nach den Zusammenhängen, in denen wir leben und handeln. Was bedeuten unsere Handlungen, unsere Entscheidungen für die Umwelt, die Menschen, die nach uns leben? Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft werden wieder verknüpft und aufeinander bezogen.

Um all das ein bisschen näher zu erläutern, und unser Verhältnis zur Zukunft auf neue Beine zu stellen, hat sich ein neues Experiment entwickelt. Das „FUTURE:PROJECT“, ein Think Tank für einen Humanistischen Futurismus:
THE FUTURE:PROJECT

Zum Beginn dieser Expedition habe ich mit meinem Zeichner-Talent Julian ein Buch herausgebracht, das von den „Zehn Zukunfts-Weisheiten“ erzählt. Man kann es hier bestellen:
www.thefutureproject.de

Leseprobe

Das Kapitel 3 aus dem Buch „Zehn Zukunfts-Weisheiten” können Sie hier als PDF-Datei lesen:
„Das Neue ist nicht immer das Bessere”