122 – Die Omnikrise

Ein Versuch, mit den Bedrohungen unserer Zeit umzugehen

If you survive long enough to see tomorrow,
it may bring you the answer that seems so impossible today.
Ben Horowitz, The Struggle

Die Welt wird nicht von einer Krise heimgesucht, auch nicht von vielen Krisen, sondern von der Krise des Ganzen. Die Distanz zwischen Bewusstsein und Unterbewusstsein ist zusammengebrochen. Das Tabu ist jetzt gebrochen und wird erneut geltend gemacht, als ob es nichts wäre (technisch gesehen ist es das). Institutionen werden zerrissen und wieder zusammengesetzt.
Krisen werden in einem Atemzug behauptet und ignoriert.
Willkommen in der Omnikrise!
Edmund Wilson

Omnikrise – Was ist das?

Kein Zweifel – wir leben in Krisenzeiten. Aber war nicht immer schon Krise? Bankenkrise, Flüchtlingskrise, Rentenkrise, Klimakrise – die moderne Welt ist ein dauerhafter Krisen-Zustand. Allerdings gibt es doch etwas, was die heutigen Krisen von denen der vergangenen Jahrzehnte unterscheidet. Es handelt sich nicht mehr um einzelne, isolierte Ereignisse oder Phänomene, die erwartbar „vorbeigehen“. Das heutige Krisengeschehen ähnelt eher dem, was der Publizist und Kunstagent Holm Friebe vor einigen Jahren in einem unserer Trendletter als „Clusterfuck“ bezeichnet hat.

„Clusterfuck“ (Slang, vulgär) … ist eine chaotische Situation, wo alles schiefzugehen scheint. Das Wörterbuch „dict.cc“ übersetzt treuherzig mit „Riesendurcheinander”.
Clusterfuck, das ist, wenn Murphy’s Law mit voller Wucht zuschlägt; wenn gefühlt alles, was schiefgehen kann, auf einmal schiefgeht; wenn, wie in dem Experimentalfilm „Der Lauf der Dinge” (Fischli und Weiß, The Way Things go, 1987 – bei YouTube) die Katastrophen geschmeidig ineinandergreifen und man nur noch gelähmt dabei zusehen kann; wenn man beginnt, sich Hiob als einen vergleichsweise glücklichen Menschen vorzustellen.

Salopp auf Englisch ausgedrückt: „a muddled mess“.

Das Wort „Omnikrise“ beschreibt nicht nur die Phänomene, die uns heute beunruhigen und ängstigen, sondern auch ein generelles Lebensgefühl. Alles scheint irgendwie zu zerfließen. Seinen Sinn zu verlieren. Ein Gefühl der Vergeblichkeit, der Traurigkeit und Hilflosigkeit breitet sich aus. Die Gegenwart erscheint unwirklich, wie in einem Science-Fiction-Film, in dem wir in ein Paralleluniversum geraten sind, in dem die Naturgesetze völlig andere sind. Wie heißt das so schön in einem Filmtitel? „Everything Everywhere All at Once“ (aus dem Jahr 2022).

Die Welt ist kaputt. Die Zukunft hat sich hinter den Horizont zurückgezogen. Von dort aus lockt sie uns nicht mehr. Sie DROHT uns stattdessen mit einem dauerhaften Untergang.

Nennen wir das, was seit Corona unsere innere und äußere Weltlage bestimmt, nicht Polykrise oder Multi-Krise sondern Omnikrise. Das lateinische Wort OMNI – OMNIUS steht für den Zusammenhang des Vielfältigen. Für „mehr als die Summe seiner Teile“. In einer Omnikrise bedingen und verstärken sich die einzelnen Phänomene durch Wechselwirkungen gegenseitig:

  • Der neo-imperiale Krieg im Osten Europas beeinflusst unsere Energieversorgung, was wiederum den Diskurs um die ökologische Wende verändert und ausbremst.
  • Der rechtsradikale Aufstand bedroht die Zentren der Demokratie – und gefährdet über neue Systemkonflikte die sowieso schon fragile Weltordnung.
  • Die digitale Explosion der Medien beeinflusst unsere Welt-Wahrnehmung ins immer Negativere – und führt zu einer Hysterisierung der Gesellschaft.

Und so weiter.

Im Einzelnen können wir sieben „Fraktale“ der Omnikrise ausmachen, die miteinander zusammenhängen und sich gegenseitig hochschaukeln:

Die Sieben Zukunfts-Plagen

  1. Die Krise der Globalisierung:
    Das Zusammenwachsen der Welt zu einer Großen Ganzheit, war der ökonomische und kulturelle Leit-Trend der letzten 30 Jahre. Nach dem Fall der Mauer Anfang 1989 schien sich die Welt in allen Dimensionen zu öffnen. Gewaltige Handelsnetze überspannten die Welt und brachten den westlichen Wohlstand in die Schwellenländer. „Just in Time“-Produktionen erhöhten die Produktivität, Internationale Organisationen blühten und gediehen. Die Welt erlebte einen Wohlstands-Schub. Weniger Kriege, weniger Hunger, mehr Wohlstand, längeres Leben war die selbstverständliche Grundrichtung der Zukunft. Aber vielleicht waren es gerade diese Erfolge, die die Grundlage neuer Konfliktlinien schufen. In den veränderten globalen Kräfteverhältnissen brechen heute überall neue Risse hervor, wie in den Vulkanfeldern Islands. Neuimperiale und neo-nationale Begehrlichkeiten wuchern, Konflikte aus dem 19. Jahrhundert kommen wieder zum Vorschein. Wir stehen plötzlich vor der Möglichkeit von großen, nicht mehr nur regionalen Kriegen.

    Wie könnte eine neue Weltordnung der Globalisierung aussehen, die diese Brüche überwindet? Der Historiker Herfried Münkler vermutet als globales Ordnungsmodell der Zukunft eine PENTARCHIE – eine Fünfer-Weltordnung von Amerika, Europa, Russland, Indien und China. Das erscheint aus heutiger Sicht als unmöglich. Aber, wie Münkler schreibt: „Offenbar haben Fünferkonstellationen starke stabilisierende und pazifizierende Effekte.“ (Welt im Aufruhr, S.409)

  2. Die Krise der Demokratie:
    Der Zweite Weltkrieg endete mit der Niederlage der faschistischen und autoritären Nationalstaaten. Das war der große Jugend-Kredit, die Gnade der jüngsten Geschichte, mit der die Boomer-Generation erwachsen wurde, und was den Generationen X, Y und Z als selbstverständlich vorausgesetzt wurde. Heute ist das demokratische Prinzip mit seinen komplexen Checks und Balances massiv unter Druck geraten. Die Kultur des Demokratischen scheint von innen heraus zu erodieren, durch eine ewige Steigerung von Konfliktspiralen und Polarisierungen, von Diskurs-Entzündungen und Verschwörungs-Konstrukten. Nach der Logik von Trend und Gegentrend formiert sich gerade hier allerdings eine Gegenbewegung: Der rechte Aufstand könnte auch zu einer Neuentdeckung und Resilienz-Steigerung der Demokratie führen. Neue Parteiformen und Bewegungs-Muster entstehen im politischen Raum; die Beispiele Polen, Brasilien, Türkei, die Demonstrationen in Deutschland zeichnen das Bild einer möglichen Renaissance demokratischer Bewegungen. Wenn man demokratische Formen evolutionär weiterentwickelt, kann die Demokratie gerade durch ihre Bedrohung „zu sich selbst“ finden.
    Siehe das Buch von Gisela Erler: „Demokratie in stürmischen Zeiten: Für eine Politik des Gehörtwerdens“ (eine Besprechung folgt demnächst).
  3. Die Wohlstandskrise:
    Das Groß-Narrativ des „Alten Normal“ besteht aus dem Zwang zum ununterbrochenen Wachstum des Bruttosozialprodukts. Das erzeugt eine hysterische Wachstums-Panik, die allmählich die Realität überschreibt. In vielen westlichen Ländern glaubt die Mehrheit der Bürger inzwischen, dass es „schlechter wird“, selbst WENN die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosenzahlen sinken und der Konsum brummt. Gleichzeitig wandeln sich die Werte ins Postmaterielle: Immer mehr Menschen suchen heute nach mehr Zeit- und Erlebensqualität. Dieses Paradox des Wohlstandsbegriffes spaltet derzeit die Gesellschaft und führt zu neuen Ideologie- und Kultur-Kriegen, die die Politik lähmen und den notwendigen Wandel behindern.

    Die Wohlstandskrise ebenso wie die Demokratiekrise könnten auch mit einem fatalen Wandel von der Bürger- zur Konsumenten-Gesellschaft zusammenhängen. In ihrem Buch „Citizens“ beschreiben Jon Alexander und Ariane Conrad diesen kulturhistorischen Prozess: Konsumenten haben einen völlig anderen Mindset als Bürger. Bürger sehen sich als Teilhaber der Gesellschaft und versuchen ihren Teil zum Gemeinwohl beizutragen. Konsumenten sehen sich als Anspruchsträger, als Nutznießer von sofortigen Marktprozessen ausschließlich zu ihren Gunsten.

    Konsumenten wollen billiges Fleisch. Bürger wollen Tierwohl.
    Im Konsumentenmodus wird Politik als „Serviceleistung“ verstanden – Politiker sollen schnell und ungefragt „meine“ Wünsche erfüllen. Eine Regierung gehört schon spätestens drei Wochen nach Amtsantritt in „die Tonne getreten“, wenn sie nicht liefert!
    Bürger GEBEN der Gesellschaft, und erhalten dafür Rechte. Konsumenten NEHMEN sich etwas aus den Regalen.
    In der Konsumenten-Demokratie steigt das Anspruchs-Niveau ständig. Während die Engagements-Bereitschaft ständig sinkt.
    Bürger sind dialogisch. Konsumenten lieben die Beschwerde.

  4. Die Ökologiekrise:
    Mehrere Jahrzehnte sah es so aus, als ob das Ökologie-Thema der Schlüsselcode für das „Next Age“, die kommende Ära nach dem klassischen Industriekapitalismus, werden würde. Ökologische Themen eroberten die Mittelschichten, Naturschutz und Nachhaltigkeit schienen die Basis einer neuen Zukunftserzählung zu bilden. Der Kampf gegen den Klimawandel entwickelte sich auch auf globaler Ebene zum verbindenden Element der Nationen. In den letzten Jahren drehte sich dieses Narrativ allerdings um: Das Ökologische wird plötzlich als Freiheits-Beraubung umcodiert, die „denier“, die Leugner des Klimawandels, organisierten ihre Truppen und machten aus der ökologischen Frage einen Kulturkampf oder einen hoffnungslosen Streit. Putins Angriffskrieg ist ohne viel Mühe auch als „fossiler Gegenkrieg“ zu begreifen – ein Aufbäumen des alten Rohstoff-Staates gegen den ökologischen und sozialen Wandel.

    Wie ist dieser „Backlash“ zu interpretieren, in dem alles „Grüne“ an den Rand gedrängt, bekämpft und denunziert wird? Vor jedem großen Wandel entstehen reaktionäre Bewegungen, die versuchen, das Unvermeidliche zu verhindern. Da zu jedem Backlash jedoch auch ein Gegen-Backlash gehört, wird die ökologische Bewegung in den nächsten Jahren ein mächtiges Comeback erleben. Ökologie wird sich dabei umcodieren – von einem sozialromantischen Konzept, das auf Sparen, Verzicht, Schuldgefühl basierte, zu einer echten Modernisierungs-Bewegung. Als „Blaue“ oder „Neo-Ökologie“, einer Regeneration Economy, in der Technologie, Systemwandel und das Bedürfnis nach mehr Lebensqualität Hand in Hand gehen.

  5. Die Gesundheits-Krise:
    Die enorme Erweiterung der Lebensspanne in den letzten 50 Jahren ist eine der größten Errungenschaft der globalen Moderne. Die mittlere Lebenserwartung eines Menschen liegt heute bei 72 (!) Jahren, in Afrika über 64 Jahre! (Umso bizarrer, dass sich die Kulturkriege ausgerechnet an IMPF-Fragen entzündet haben – Impfungen sind die wichtigste Grundlage der globalen Gesundheits-Gewinne). Jetzt beginnen die Lebensspannen in einigen Wohlstandsländer wieder zu sinken. Besonders in Amerika hat sich eine zivilisatorische Gesundheitskrise ausgebreitetmeta die die Lebenserwartung um mehrere Jahre gedrückt hat. Damit ist ein zentrales Zukunfts-Versprechen gebrochen: die Verlängerung des Lebens. Gleichzeitig haben wir mehr und mehr das Gefühl, in einer multi-morbiden Gesellschaft zu leben, in der JEDER irgendwie krank ist – körperlich, psychisch, mental, eingebildet oder real. Krankheit ist ein universelles Gefühl geworden, und das Gesunde trägt zunehmend neurotische Züge in einem Optimierungs-Trend, der nur noch kränker macht. Das inneren und äußere „Gesundheitssystem“ neu zusammenzusetzen und zu kalibrieren, wird eine wichtige Aufgabe sein, an der die ganze Gesellschaft teilhaben muss und kann.
  6. Die Meta-technische Krise:
    Bisher war Technologie der verlässliche Garant eines Fortschritts, der Vorteile für ALLE mit sich brachte. In gewisser Weise war technologischer Fortschritt sogar so etwas wie eine Erlösungs-Religion. Aber schon die fatalen Nebenwirkungen von Social Media haben den Glauben an den technischen Fortschritt schwer erschüttert. Zwischen dem „Technium“ und dem „Humanum“ scheint es eine Beziehungskrise zu geben, die mit der Künstlichen Intelligenz jetzt eskaliert: Technologie scheint menschliche Fähigkeiten nicht mehr zu ergänzen und zu beflügeln, sondern zu ersetzen und zu sabotieren. Technologie scheint dabei nicht mehr gesellschaftlich verhandelbar und entwickelt sich zum „dämonischen Selbstläufer“ in den Händen monopolitischer Konzerne oder wildgewordener Super-Kapitalisten. Die neuen digitalen Technologien attackieren auch die Grundlagen der Bildung und sabotieren das, was man „Wissensgesellschaft“ nannte. Eine neue Mensch-Technik-Emanzipation ist die Bedingung für eine Überwindung der Omnikrise und für ein neues Verhältnis zur Zukunft.
  7. Die Kognitive Krise:
    Im Zentrum der Omnikrise befindet sich ein Schwarzes Loch der Bedeutungen, das allen Sinn in sich einsaugt. Was Menschen für wahr, richtig, „verbindlich“ halten, scheint einem unaufhaltbaren Erosionsprozess zu unterliegen. Was mit der „Blasenbildung“ des Internets begann, greift heute auf die gesamte Kultur über: Jeder lebt zunehmend in einer eigenen Wahrnehmungs-Welt, die seine Identität nur noch als Abgrenzung bestimmt. Der amerikanische Kognitionsforscher Jonathan Haidt nannte dieses Phänomen das „Babylon-Syndrom“: Als die Bewohner der antiken Stadt Babylon den Turm der Zukunft bauen wollten, der selbst den Himmel erreichen konnte, verwirrten sich ihre Sprachen und sie verstanden einander nicht mehr. Die „Baustelle“ blieb liegen, „und das Volk zerstreute sich in alle Winde“.

Die sieben Fraktale der Omnikrise stellen die wichtigsten MEGATRENDS infrage, mit denen die Zukunftsforschung in den letzten 30 Jahren arbeitete. Globalisierung, Individualisierung, Digitalisierung, Konnektivität, Urbanisierung, der Megatrend Gesundheit, Wissensgesellschaft – alle diese „Big Shifts“ scheinen einer Erosion zu unterliegen. Die klassischen Megatrends entwickeln Gegen-Trends, Wirbel, Turbulenzen, die ihre lineare Dynamik brechen. Das ist historisch nichts Neues: Schon der italienische Denker der Aufklärung Giambattista Vico (1668 – 1744), sprach von den „Corsi et Ricorsi“, den fortlaufenden und rücklaufenden Wellen der Geschichte, in denen sich aus der Turbulenz das tatsächliche NEUE, ein neues „Zeitalter“, formt. Wenn wir achtsam sind und die größeren Zusammenhänge verstehen, können wir durch den Nebel der Omnikrise hindurch das „Next Age“, die kommende Epoche erahnen.

Change your Media-Mind!

Um einen realistischen Optimismus zu stärken, hier noch einige Tipps für andere Sichtweisen der Welt durch konstruktiven Journalismus:

  • „Future Crunch“, die wunderbare australische Optimismus-Seite für positive Welt-Meldungen heißt jetzt „Fix the News“ – und ist noch besser geworden.
    https://fixthenews.com
  • „The Progress Network“ (USA) hat einen ähnlichen Ansatz, ist aber analytischer. Alle Texte werden mit einer konstruktiven FRAGE begonnen: „WHAT COULD GO RIGHT? – Was könnte gutgehen? So heißt auch der Newsletter.
    https://theprogressnetwork.org
  • Deutschlands konstruktives Medien-Portal „Perspective Daily“ entwickelt sich weiter in Richtung auf ein konstruktives Voll-Magazin.
    https://perspective-daily.de
  • Hannah Ritchies Buch „Hoffung für Verzweifelte“, das die gängigen Untergangs-Mythen dekonstruiert, ist auf dem Weg zum Bestseller; sogar große deutsche Medien haben Interviews mit ihr gemacht.