10 – Die große Angststörung

Eine Zeit-Diagnose

August 2017

© Horror and Agony, commons.wikimedia.org

“We filter the past for happy memories and filter the future for gloomy prognoses. It’s a strange form of narcissism. We have to believe that our generation is the special one, where the turning point comes. And I’m afraid thats nonsense.”
Matt Ridley in “Do Humankinds best days lie ahead?”

1.

Kann man glücklich sein und gleichzeitig Angst haben? Das klingt irgendwie verrückt. Aber genau das beschreibt die Stimmungslage in Deutschland kurz vor der Wahl 2017. 80 Prozent aller Deutschen fühlen sich glücklich oder sehr glücklich, sagen uns die aktuellen Meinungsforschungen. Erstaunliche 60 Prozent schauen positiv oder zufrieden in die Zukunft. Nur 8 Prozent halten für Ihre Lage für schlecht und fürchten weiteren Abstieg. Es geht uns gut. Sehr gut sogar. Sagen die Allermeisten.

Und gleichzeitig fürchten wir uns immer mehr.
Wie kommt es, dass die Angst heute in jeder Nachrichtenzeile durchscheint, jede Talkshow durchzieht, jedem zweiten Gespräch mit dem Nachbarn den Tenor gibt? Alle Wahlstrategien reagieren nur noch auf die andere oder andere Weise auf Angst. Die CDU mit ihrer Versicherung, mit Angela Merkel werde schon nichts passieren. Die SPD mit ihrem verkrampften Gerechtigkeits-Duktus. AFD und Linke sind genuine Angst-Propagandisten; die Grünen immerhin schwanken zwischen ihrer alten Angstcodierung und einer neuen Leichtigkeit.

Wie kommt es, dass der öffentliche Diskurs zu einer einzigen Angst- und Zorn-Zelebrierung geronnen ist? Axel Hacke schreibt in seinem neuen Buch “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen”:

“Es schwappt ja seit einer Weile nicht bloss eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt – es tobt ein Ozean. Wir leben inzwischen mit vielem, was eigentlich unerträglich ist. Der sogenannte Shitstorm ist ein Ereignis, das uns vor noch nicht langer Zeit sprachlos gemacht hätte vor Entsetzen. Der Ton, der in vielen Internetforen herrscht, die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich daran gewöhnt.”

Werden Historiker demnächst unsere Zeit-Epoche, das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine ÄRA DER BÖSARTIGKEIT nennen? Das ZEITALTER DER HASS-HYSTERIEN? Woher kommt dieser ganze Wahnsinn? Eine Möglichkeit wäre, dass die Welt objektiv tatsächlich immer schlechter, gefährlicher, krisenhafter, tödlicher wird – dass die Menschen sozusagen realistisch reagieren. Aber alles, was wir über den Verlauf der Welt wissen, sagt das Gegenteil: Das Leben der allermeisten Menschen auf dem Planeten Erde wird (langsam) sicherer, wohlhabenderer, auch glücklicher. Einschliesslich unseres eigenen.

”Wir filtern die Vergangenheit nach glücklichen Erinnerungen und scannen die Zukunft nach düsteren Prognosen. Das ist eine seltsame Form des Narzismus.”
Matt Ridley, ein angelsächsischer Hoffnungs-Philosoph.

Was wäre, wenn nicht die Welt in der Krise ist. Sondern die Angst SELBST die Krise IST? Wenn wir es mit einer Form kollektiver Angststörung zu tun haben, die in der hypermedialen vernetzten Welt neue Dimensionen annimmt?

2.

Zunächst: Angst ist notwendig. Ohne Angst würden wir als Individuen, als Spezies, nicht existieren. Angst ist das, was unsere Vorfahren dazu befähigte, unsere Vorfahren zu werden. Im psychologischen Spektrum des Homo Sapiens ist die Grundstimmung immer etwas in den roten Bereich der Angst versetzt – das war wahrscheinlich sein evolutionärer Vorteil gegenüber den eher gemütlichen Neandertalern, die sich gerne in ihren Höhlen verzogen und träumten.

Die Rotverschiebung der Gefühle hat einen einleuchtenden evolutionären Zweck: Sie soll uns wach halten. Die Welt ist voller Gefahren, und es gilt, schnell kampfbereit oder fluchtbereit zu sein. Angst führt auch dazu, dass wir uns enger mit denen zusammenschliessen, die wir als zugehörig empfinden. So entstehen kollektive Kampfbereitschaften.

In einer saturierten Umwelt wird diese Rotverschiebung aber eine Art mentales Problem. Die Angst bildet ständig Überschüsse, die auch auf der linken Autobahnspur nicht abgebaut werden können. Sie kann sich nicht mehr auf eine konkrete Bedrohung richten, sondern mäandert um Phantasien und Übersteigerungen, Imaginationen und Befürchtungen herum. Under hypermediales Medien-System bietet Unmengen solcher Angstmöglichkeiten an – und verdient damit Geld.

Unsere humane Angst hat immer schon mentale und kulturelle Techniken der Angstbannung hervorgebracht. Die grossen Erzählungen der Menschheit, die Religionen. Mythen und Sagen, sind nichts anderes als angstlösende Meme, in denen Heil und Erlösung, Schrecken und Suspense geboten wird. Wenn wir ins Kino gehen, wollen wir beim gemeinsamen Fürchten unsere Angsthomone freisetzen, um sie gleich wieder einzufangen – wenn das Monster am Ende nach unendlich vielen Flucht- und Gefahrenmomenten in die Luft gesprengt wird, wenn der Täter des schrecklichen nordischen Krimis gefasst ist und bereut, ist Entspannung angesagt. Eine gigantische mediale Branche lebt von diesem Dreh.

Aber irgendwann kann es auch zu viel werden. Angst bricht dann aus ihren kulturellen Containern aus. Sie erzeugt ein Ohnmachtsgefühl, das durch Wut und Hass kompensiert wird. Was wiederum neue Angst erzeugt. So entsteht ein negatives perpetuum mobile: Wir erzeugen das, was wir fürchten, auf vielfältige Weise durch die Angst selbst. Jeder Liebende hat das schon einmal erfahren.

Der Philosoph Alain de Botton drückte die Lage des Menschen im Universum der Angstmöglichkeiten so aus:

“Unsere Hirne sind wie fehlerhafte Walnüsse, die auf unserem Rückgrat sitzen und dauernd falsche Impulse abfeuern: sie sind aggressiv, sie erinnern nicht, was sie sollten, sie sind mit allen möglichen wenig hilfreichen Antrieben ausgestattet. Wir haben versucht, Zivilisation zu erzeugen, um einige der schlimmsten Egoismen der faulen Walnüsse auszugleichen. Zivilisation ist so etwas wie ein Über-Hirn, das sich um das kleine Hirn kümmern soll, das völlig fehlerhaft funktioniert.”

© Zukunftsinstitut Horx GmbH

3.

Kollektive Angststörungen sind als historische Phänomene keineswegs neu. Und sie haben zweifelsohne den Verlauf der Geschichte beeinflusst.
Die Geschichte der verdichteten Angst beginnt schon in den ersten Stadtstaaten der Vor-Antike, als Menschen zum ersten Mal auf verdichtetem Raum zusammenlebten. Trommeln und Tanz, die ursprünglichen Soziotechniken des Angst-Abbaus, kamen hier nicht mehr so gut zum Zuge. Der Exodus Jerichos war eine religiöse Hysterie, und die vielfältigen Paranoia-Epidemien der römischen Upper Class trugen sowohl zum Aufstieg als auch zum Fall des römischen Imperiums bei.

Das drastischste Beispiel für fatale Angst-Epidemien ist vielleicht das Schicksal der Maya. Diese Hochkultur ging nicht an den Spaniern zugrunde – obwohl der Kolonialismus gewissermaßen die Reste abräumte. In den Ritualen des Herzausreissens, die zum Ende der Maya-Zeit immer intensiver wurden, zeigte sich eine zum Terror gewendete Panik, die schließlich den kompletten gesellschaftlichen Zusammenhang der Maya-Kultur zerstörte.

Ähnliches kann man in der mörderischen Hybris und Grandiosität des Nationalsozialismus sehen: Eine kollektiv depressive Angst-Hysterie. Der heutige Kim-Yong-Un-Horror in Nordkorea ist ohne die Traumatisierungen durch den Koreakrieg in den frühen 50er Jahren nicht verstehbar. Auch subjektive Angststörungen sind nicht neu: Dem ersten Weltkrieg ging die Epidemie der “Neurasthenie” voraus, einer “Hochnervosität”, vor der um 1900 jeder vierte Deutsche befallen war.

“Angst essen Seele auf” hieß ein ikonographischer Film von Rainer Werner Fassbinder, dem genialen Paranoiker der 70er Jahre. Damals, im Beginn des Wohlstands-Aufschwungs, war Angst auf eine seltsam coole Art noch produktiv. Sie gehörte den Kritischen, den Abweichlern, den Rebellen. Weil der große Rest der Gesellschaft auf Harmonie beharrte, galt Angst als eine Art Adelsprädikat des Authentischen. Heute hat sie sich vermasst, wie Ryanair den Flugverkehr vermasst hat; es gibt sie sozusagen als Trash-Variante in jedem Supermarktregal. Und jeder, der äußert, dass er Angst hat, verlangt damit gleichzeitig Subventionen der Zuneigung.

4.

Es ist die Konvergenz von DREI Megatrends, die die heutige Angst-Epidemie ausgelöst haben: Globalisierung, Digitalisierung, und Saturierung.

Seit spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden Waren quer über den Planeten geschifft, und mit ihnen immer mehr Gedanken, Menschen, Ideen: Nutzniesser des Globalen waren “Wir” im Westen, und das verschaffte uns ein Gefühl selbstgewisser Überlegenheit, das auch die westlichen Gesellschaften innerlich zusammenhielt. Selbst als die vom Krieg geschlagenen Deutschen mit dem Opel in den 60ern nach Italien rollten, fühlten sie sich noch grandios überlegen (mein Vater war zwei Jahrzehnte in anderer Rolle, in Uniform, dort gewesen).

In den 80er Jahren kam es dann zu den ersten Irritationen, als die Globalisierung schlichtweg KOMPLEXER wurde. Damals zerstörte “der Japaner” die deutsche Elektronik-Industrie, und plötzlich sollten wir alle Japaner werden, bei Strafe des wirtschaftlichen Niedergangs. Aber noch lange blieb der globale Nexus weit in der Ferne: Nachrichten aus anderen Ländern blieben exotisch, selbst-bestätigend. Wenn “draußen” Chaos herrschte, konnten wir unser eigenes Idyll umso mehr genießen.

Das änderte sich mit dem 11. September, der Bankenkrise, Fukushima, den Flüchtlingen des Syrienkrieges. Plötzlich leben wir auf einem Planeten, der tatsächlich RÜCKWIRKUNGEN erzeugt. Alles hängt miteinander zusammen, und wir entwickeln eine genuine ZUGEHÖRIGKEITS- ANGST : Wer sind “Wir”, wenn wir uns nicht mehr abgrenzen können vom gewaltigen Chaos der Welt?

Menschen bekommen Angst im Dunklen, wenn sie den TRIBE verlieren. In der Urzeit – jener Zeit, die unser Hirn, unsere Mentalität – prägte, waren verloren, wenn wir unsere unmittelbaren Bindungen verloren. Deshalb ist es so wichtig, zu wissen, auf wen man sich verlassen kann. Und wie man die anderen auf Distanz halten kann. Beides aber – Zugehörigkeit UND Distanz wird uns im sozialen Internet immer nur vorgegaukelt. Im Netz irren wir umher auf der Suche nach Bindungen, die sich aber immer wieder als FAKE erweisen, ebenso wie die NEWS, die nur noch Erregungen sind, denn Erregungen sind der Rohstoff, auf dem das digital-mediale Netz basiert.

Digitalität bedeutet ständige Echtzeit, ständige Vergleichbarkeit. Bin ich schöner, fitter, reicher, dümmer, wichtiger als alle anderen? Was sind meine Assets, meine Wirksamkeiten, meine Klicks, meine Likes? Kein Wunder, dass aus dieser ständigen Überreizung die Paranoia vor dem Versagen entsteht, kompensiert in Millionen Wutausbrüchen und Hassstürmen. Der islamische Terrorismus ist nur die extremste Form dieses Resonanz-Phänomens.

Schließlich ist es paradoxerweise der sichere Wohlstand selbst, der uns in die Angst treibt.

Beamte auf Lebenszeit haben die meiste Angst vor der Zukunft. Saturierung wirkt auf paradoxe Weise angsterregend auf die Psyche. Wir trauen dem Braten nicht. Der alte Stammeskrieger in uns wird misstrauisch, wenn es lange Zeit im Busch nicht raschelte, der Sturm längere Zeit ausblieb. Es KÖNNTE etwas geschehen. ES KÖNNTE uns etwas weggenommen werden! Alles KÖNNTE sich als ein Trick des Nachbarstammes erweisen, der uns überfallen will!

Ein bisschen Unsicherheit tut uns gut, ebenso wie ein bisschen Hunger, und ein bisschen Angst. Wenn alle Herausforderung fehlt (oder wir sie nicht annehmen) , fallen wir in eine innere Starre. Wir gehen in die Regression. Die kann Rassismus heißen, oder Nationalismus, Depression, oder einfach apokalyptisches Spießertum, wie es heute weit verbreitet ist: Den Untergang in ständiger Komfortabilität beklagen, und sich dabei eigentlich pudelwohl fühlen.

5.

Sind wir als genuine Angstwesen der modernen Welt einfach nicht gewachsen? Wird die atavistische Furcht die zarten zivilisatorischen Bande zertrümmern, die die Weltgesellschaft zusammenhalten? Stehen wir vor dem, was Hans Magnus Enzensberger einmal den “Molekularen Bürgerkrieg” nannte – Gruppe gegen Gruppe, Kultur gegen Kultur, Jeder gegen Jeden?
Es gibt viele solcher pessimistischer Befunde.

Ich glaube das nicht. Wir leben heute in einer radikal anderen Welt als vor hundert Jahren. Was wir der heutigen Weltlage unterstellen – tiefe Spaltung, immerwährender Konflikt – war vor einem Jahrhundert viel tiefer, katastrophaler ausgeprägt als heute. Die global-mediale Vernetzung macht uns nervös, aber sie bildet gleichzeitig einen Puffer. Die neue Konnektivität der Welt erzeugt nicht nur Panikströme, sondern auch Ideen, Lösungen, Enklaven der produktiven Kooperation. Vieles, was wir heute als Krisen wahrnehmen – etwa das dunkle Rätsel Trump – könnte sich als eine Art heilsame Infusion von Unsicherheit herausstellen, die am Ende die Immunkräfte von Pluralität und Demokratie stärkt.

Wer genau hinhört ins Rauschen der Welt, kann heute schon einen neuen Kosmopolitismus spüren, eine universelle Konnektivität, die jenseits der alten Ideologien agiert. Rechts und Links als politische Konzepte haben sich überholt. Ebenso der Schein-Konflikt zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Die Geschichte des Menschen ist die Geschichte der Angst. Und ihrer Überwindung durch neue Kooperationen, neue Verbindungen, neue Bewusstseins-Bildungen. Jeder Einzelne von uns muss irgendwann entscheiden, auf welcher Seite er steht. Auf der Seite der Angst. Oder der Zukunft.

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