53 – Was ist Re-Gnose?
Wie man in die Zukunft blickt, blickt sie zurück
Die Zukunft kommt uns nicht entgegen,
sie liegt nicht vor uns,
sondern sie strömt von hinten über unser Haupt.
Rahel Varnhagen,
Berliner Salondame des ausgehenden 18. Jahrhunderts, zitiert nach Florian Illies
Drei Monate nach dem Beginn der Großen Krise, der Covid-Krise, werde ich immerzu nach der Bedeutung des Wortes Re-Gnose gefragt.
Ist das nicht in Wahrheit dasselbe wie eine Pro-Gnose?
Um den Unterschied zu klären, möchte ich Sie ein wenig in die verrückte Quantenwelt entführen. Keine Angst, das tut nicht weh. Es ist eigentlich auch nicht kompliziert. Jedenfalls nicht, wenn man sich ein bisschen verzaubern lässt.
„Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen!”
Dieses Zitat wird häufig zu Beginn von Veranstaltungen zitiert, auf denen ich als Redner auftrete. Es wird abwechselnd Karl Marx, Karl May, Mark Twain und am liebsten Karl Valentin in die Schuhe geschoben.
Es stammt jedoch vom dänischen Atomphysiker Niels Bohr, einem genialischen Humanisten, der maßgeblich am Bau der Atombombe beteiligt war. Bohr soll diesen Satz in einer öffentlichen Diskussion mit Einstein im Jahre 1923 gesagt haben („Discussions with Einstein on Epistemological Problems in Atomic Physics”). Er formulierte den Satz wahrscheinlich im Kontext des Nonlokalitäts-Problems in der Quantentheorie.
Analog dazu besagt die Heisenberg’sche Unschärferelation, dass ORT und IMPULS eines Teilchens, eines Quantums, nicht gleichzeitig bestimmbar sind.
Zu kompliziert? Man kann es auch anders sagen: Die Wirklichkeit hängt von unserer Beobachtung ab.
Einige kennen dieses unlösbare Problem vielleicht von einem Gedankenexperiment namens „Schrödingers Katze”. Eine Katze ist mit einem komplizierten Radionuklid-Apparat in einer Box eingeschlossen, und man weiß nicht, ob sie lebendig oder tot ist. Erst wenn man die Box öffnet, kann man das wissen.
Dann ist die Wirklichkeit entschieden – durch unsere Beobachtung.
So ähnlich ist es auch mit der Zukunft.
Die Funktion der Prognose
Unsere Spezies homo sapiens hat durch die Evolution ein besonderes Instrument mit auf den Weg bekommen. Ein übergroßes Hirn, das sich als eine Art Zukunfts-Organ verstehen lässt. Wir können damit nämlich in die Zukunft reisen – und zurück in die Vergangenheit. Und beides miteinander verbinden – in endlosen Schleifen, aus denen Bewusstsein entsteht.
In diesem 100 Milliarden-Neuronen-Organ produzieren wir ständig Prognosen – über uns selbst und die Welt, und über dem Zusammenhang zwischen beiden: Wie wird der nächste Urlaub? Wie werde ich heute Abend aussehen? Wird die Welt immer verrückter? Hat die Sozialdemokratie noch eine Chance? Hat mein Mann/meine Frau noch alle Tassen im Schrank, oder wird er/sie diese demnächst nach mir werfen?
Ständig tauchen dabei Grundsatz-Fragen auf: Wie hängt das alles zusammen? Was ist real? Was ist gefährlich?
Worauf können wir vertrauen?
Der evolutionäre Sinn dieses aufwendigen Prozesses – das Hirn verbraucht bis zu 25 Prozent unserer Energie bei weniger als 1 Prozent Körpermasse – liegt aber nicht in der exakten Abbildung der Zukunft. Dies würde nicht nur unser Hirn überfordern, es würde uns auch in die Irre führen. Zukunft kann nie »exakt« sein, sie ist immer auch das Ereignis von Zufällen, Häufungen von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit. Aber aber auch von unseren eigenen Handlungen.
Wenn wir uns genau auf ein FIXIERTES ERGEBNIS festlegen würden, würden wir unsere Reaktionsmöglichkeiten allzu sehr einengen. Wir wären dann vollkommen hilflos, wenn sich die Zukunft plötzlich als Überraschung erweist. Deshalb bildet unser Hirn klugerweise Hypothesen, Metaphern, Abstraktionen, in der die Zukunft offen, aber trotzdem vorstellbar bleiben kann.
Dieses Spannungsverhältnis zur Zukunft hält uns lebendig. Es lässt uns wach bleiben, hoffen, wünschen, planen, wobei Irrtümer kostbar sind, weil sie uns leiten und belehren. Unser Future Mind, unser Zukunftsinstinkt, hilft uns dabei, uns ständig weiter zu entwickeln – in einem Dialog, einer Art Tanz mit der Zukunft. Wir sind mit der Zukunft mit einer Art elastischem Band, einem Resonanzverhältnis verbunden.
Können Sie diese seltsame, endlose Schleife spüren? Sie stammt aus der tiefen Vergangenheit, als unsere Vorfahren »Visionen« an die Wand von Höhlen malten. Sie setzt sich fort in unseren Anstößen, Wirkungen und unvergleichlichen Lebensmustern, die wir durch unsere Kinder, unsere Freunde, unsere Schöpfungen fortsetzen, auch nach unserem Tode. Auf diese Weise verbinden wir uns mit der Welt in einer überzeitlichen Weise.
Im Laufe unseres Lebens kann es allerdings passieren, dass sich die vielen Prognosen, die wir hin- und her wälzen, die medienverschärften Ängste und Befürchtungen, die inneren Frustrationen und verstockten Enttäuschungen, zu einer fixen Idee über Welt und Wirklichkeit verdichten. Wir klammern uns dann an einer negativen Grundprognose fest, die von Verlustangst geprägt ist.
Wenn unser Verhältnis zum Kommenden auf diese Weise verengt ist, sehen wir die Zukunft wie eine schrill pfeifende Lokomotive, die aus einem Tunnel auf uns zurast. Der Tunnel steht für die Unabänderlichkeit des »Kurses« der Zukunft, die Linearität. Wir können wahrscheinlich noch nicht einmal von den Gleisen springen. Da lauert die rußige Wand oder der Abgrund.
Menschen mit einer Zukunfts-Tunnelsicht erkennt man daran, dass sie sich nicht mehr überraschen lassen können. Sie nehmen alles zum Beweis für etwas, was sie angeblich immer schon wussten (hindsight bias, die Rückwärtsbestätigung). „Ich wusste immer schon, dass es so kommen wird!” Sie suchen ständig nach Beweisen für jene fixe Idee, in der sie die Zukunft sozusagen eingemauert haben. Diese Schlechterwisserei ist zu einer großen gesellschaftlichen Epidemie geworden, die man in allen Kommentarspalten im Internet, in endlosen Talkshow-Diskussionen, in fast allen Debatten über die Zukunft wiederfinden kann.
Auf diese Weise erstarrt die Zukunft in uns, sie verhärtet sich zur Prophezeiung. Wir PRODUZIEREN nun die Zukunft, die wir fürchten, durch negative Pro-Gnose – Voraus-Schöpfung. Man nennt das auch „Self-fulfilling prophecy” – Sich-Selbst-Erfüllende Prophezeiung.
- Wenn wir uns innerlich prophezeien, dass unsere Beziehung eigentlich „nur schiefgehen kann”, dann geht sie auch schief.
- Wenn wir uns innerlich prognostizieren, dass wir kein Talent in unserem Beruf haben (oder eigentlich GAR kein Talent haben, »niemand« sind), dann WERDEN wir in unserem beruflichen Leben immer »an den Umständen« scheitern. In Wirklichkeit scheitern wir an uns selbst.
- Wenn wir glauben, dass die Welt uns nichts Schönes, Erhellendes und Wunderbares zu bieten hat, dann werden wir uns Schritt für Schritt in einen frustrierten, enttäuschten, bitteren und unfreundlichen Zeitgenossen verwandeln, der sich immer nur durch das Negative bestätigt. In einen apokalyptischen Spießer, der aus seinem Schlechterwissen den Honig der Komfortabilität und narzisstischen Selbstbestätigung saugt.
Wenn wir auf diese Weise unsere innere Zukunft, unser Entwicklungspotential verlieren, sind wir in einer verzweifelten Situation. Wir neigen dann dazu, uns von verbilligten Vergangenheiten, wie sie die Populisten anbieten, verführen zu lassen. Wir tendieren zu halluzinativen Begründungen unseres Elends. Wir lassen uns von den Medien in ihrem unendlichen Hunger nach Sensation, Übertreibung und Negativität an der Nase herumführen.
Verbunden ist das Ganze oft mit einer Haltung des Zynismus. Im Zynismus konstruieren wir unser Selbstbewusstsein durch die Abwertung anderer Menschen. Zynismus ist die Haltung, in der wir unsere innere Verwerfung, unsere Selbst-Abwertung, auf die Welt übertragen:
- „In Zukunft wird sich überhaupt nichts ändern.”
- „Die Welt wird immer schlechter.”
- „Menschen sind unfähig, sich zu wandeln. Sie sind Idioten.”
- „Wir sind doch alle zum Untergang verurteilt.”
Kennen Sie diesen sound?
Aber geht es auch andersherum. Wir können uns auch aus dem Sumpf unserer verpfuschten Pro-Gnosen ziehen.
„What we need now is the description of the »describer« or, in other words, we need a theory of the observer.”
Heinz von Foerster
Wie man sich mit seiner Zukunft verbindet
Stellen Sie sich vor, Sie wollen mit dem Rauchen aufhören. Oder Körpergewicht verlieren, mit dem sie unzufrieden sind. Wie kann das gelingen? Dass das höllenschwer ist, haben wir wohl alle schon einmal erfahren…
Am Beginn eines solchen Versuchs steht immer eine sorgenvolle Prognose. Sie sehen voraus: Wenn sie weiterrauchen, wird ihre Gesundheit irgendwann ein Riesenproblem bekommen. Wenn sie immer weiter zunehmen, fehlt ihnen bald die Körperfreude. Sie haben ein PROBLEM. Es »muss« sich deshalb etwas ändern!
Allerdings fangen die Schwierigkeiten jetzt erst an. Indem sie das PROBLEM markiert haben, fixiert sich ihr Hirn auf das, was FEHLEN wird. Auf den Verlust. Wenn Sie auf eine Party gehen, steht mit Ihnen selbst immer noch der PROBLEM-Troll im Raum, der Ihnen ständig sagt, dass Sie jetzt KEINE Zigarette rauchen dürfen! Auf keinen Fall!!! Sie denken also unaufhörlich an die Zigarette, die Sie gerade NICHT rauchen.
Und schon stecken Sie sich wieder eine an …
Problem
Problem
Problem!!!
Die Bekämpfung des »Schweinehundes«, oder des Trolls, macht diesen nur stärker. Ihre innere Fixierung auf das PROBLEM nagelt Sie in der Gegenwart – oder besser: in der Vergangenheit – fest. Denn dort sind Ihre Suchtgewohnheiten entstanden. Als Tröstungen und Belohnungen, als lustvolle Kompensationen, die durchaus ihren Sinn und Zweck für Sie hatten.
Sucht, so sollte man verstehen, kann man nur durch Genuss überwinden. Genuss ist die Freiheit des Sinnlichen.
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie könnten einfach in die Zukunft springen. Sie träfen dort auf eine Person, die Ihnen selbst ähnelt, aber mit dem Rauchen nichts am Hut hat. Für diese Person wäre das Rauchen völlig unwichtig, ihre Hirnstrukturen sprächen auf die Matrix »Zigarette«, oder »Doppelwhopper«, einfach null an. Ihre inneren Spannungen, die sie früher mit Zigaretten oder Essen lösten, haben sie durch andere Integrationen (oder Genüsse) zu lösen gelernt.
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie könnten mit diesem neuen Selbst in Verbindung treten. Sich soweit in dieses zukünftige Ich hineinfühlen, dass Sie mit ihm sozusagen verschmelzen…
So funktioniert Re-Gnose.
So geschieht Wandel: Wenn wir uns selbst als ZUKÜNFTIGE begreifen – und uns auf diese Weise mit uns selbst verbünden.
Die Zukunft zurückgewinnen
Kehren wir also zur Re-Gnose-Übung aus dem Text „Die Zukunft nach Corona” zurück.
Setzen Sie sich im Herbst 2020 in ein Straßencafé in einer Stadt. Sagen wir in Venedig, auf dem Markusplatz.
Und beobachten Sie, ob sich die Welt verändert hat.
Welche Menschen gehen über den Platz? Wie sehen diese Menschen aus? Welche Körperhaltungen haben sie? Hören Sie das Geräusch der Rollkoffer?
Was haben sie erlebt, in den dunklen oder hellen Tagen von Corona?
Gibt es Tauben? Wo sind eigentlich all die Tauben hin?
Sehen Sie Flugzeugstreifen am Himmel?
Wie riecht die Luft, die vom Meer herüberweht (eine sanfte Oktoberbrise / ein steifer Wind, der das nächste acqua alta ankündigt, das herbstliche Hochwasser)?
Wie sieht der Kellner aus, der Sie gleich bedienen wird. Er trägt eine Maske. Wie sieht diese Maske aus?
Schauen Sie zurück auf sich selbst, wie Sie in Zeiten des LOCKDOWNS waren. Was haben Sie gefühlt, was haben Sie erlebt? Wie haben Sie sich in der Zeit seitdem verändert?
Liegt da draußen, am Pier bereits wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff mit schwarzen Rußspuren am Schornstein und 3.000 Passagieren, die sich jetzt gleich in die bellissima, die schöne Stadt, ergießen werden?
Eine Re-Gnose ist eine geistige Technik, in der wir uns selbst in die Zukunft versetzen. Und von dort aus zurückschauen. Dadurch wird der Spannungsbogen, der uns mit der Zukunft verbindet, rekonstruiert.
Die Re-Gnose ermöglicht eine Perspektive der Bewältigung, des Wandels. Wir betrachten die Welt »von vorn«, aus der Sicht dessen, der eine Krise überstanden hat. Damit verändern wir die Richtung unseres Fragens. Wir fragen nicht: Was könnte alles schiefgehen? (Damit liefern wir uns dem Problem-Troll aus und erzeugen eine falsche Pro-Gnose).
Sondern: Wie wäre es, wenn wir es hinbekommen hätten?
Wir fragen nicht mehr: Warum ist diese Zukunft unmöglich?
Sondern: Wie sind wir eigentlich hierhergekommen?
Wie haben wir das geschafft?
Auf diese Weise verbinden wir uns wieder mit unserer inneren Zukunfts-Kompetenz. Unserem Future Mind.
Dadurch wird die Sicht frei auf die FREIsetzungen, die jede Krise mit sich bringt, wenn man sie annimmt, statt sie innerlich zu negieren.
Genau das haben viele Menschen in der Corona-Krise erlebt. Durch das zunächst äußerlich erzwungene Innehalten, das sie aber innerlich annahmen, haben sie etwas Neues in sich und ihrem Weltverhältnis entdeckt. Sie haben ihre Erwartungs-Routinen hinter sich gelassen und Selbst-Vertrauen entwickelt.
So wurden aus Einschränkungen neue Freiheiten.
Re-Gnose ist eine Bobachtung zweiter Ordnung; wir beobachten uns beim Beobachten selbst. Re-Gnose heißt »Wieder-Schöpfung«: Wir verwandeln uns selbst und erweitern unser Bewusstsein, indem wir die Welt aus einer neuen Perspektive betrachten.
Wir lernen, uns wieder zu WUNDERN. Wundern ist jener Prozess, in dem die Zukunft wieder lebendig wird, weil wir auf positive Weise ent-täuscht werden. Wir staunen, wenn wir die Welt in ihrer Ganzheit und Größe wahr-nehmen können. In ihrem Wesen als „verflochtene Welt” („Der Mönch und der Philosoph“, Matthieu Ricard).
In der Re-Gnose verstehen wir, dass das oberste Prinzip der Welt nicht der Untergang, der Verlust, das ENDE ist, sondern die EMERGENZ. Emergenz ist jene Eigenschaft von Systemen, die der Entropie entgegensteht. Jene spontane Formbildung, mit der sich alles immer wieder neu zusammensetzt. Das ist der Ursprung, die Botschaft des Lebens, deren Träger wir sind.
In der RE-Gnose erkennen wir, dass WIR SELBST es sind, die die Zukunft erzeugen. Wir streicheln die Katze, bis sie schnurrt. (Die Idee, dass wir »zu klein« dafür sind, ist nichts als eine Ausrede, eine Selbstabwertung, die uns immer wieder in die Opferhaltung, in die selbsterlernte Unmündigkeit bringt.)
Die Zukunft wird zum Wandel, der wir selber sind.
Früher haben mir die Gastgeber auf Zukunftskongressen oft eine billige Kristallkugel in die Hand gedrückt, wenn ich auf die Bühne ging. Ich habe mich dann immer ein wenig geärgert. Und geschämt. Heute bin ich damit im Reinen. Auf der Oberfläche einer gut polierten Kristallkugel sieht man immer nur sich selbst.
Gnothi Seauton stand über dem Eingangstor des Orakels von Delphi. Erkenne Dich selbst.
Vielleicht komme ich in Zukunft mit einer Kiste auf die Bühne. In der Kiste ist eine quietschlebendige Katze namens »Zukunft«. Diese Katze kann das Publikum aber nur sehen, wenn es in sich selbst hineinschaut. Sonst ist sie tot. Wäre das nicht schade?
At the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
T.S. Eliot, Four Quartets