85 – Am Ende des Streits

Was wir von der Corona-Krise wirklich lernen können

In meiner Jugend in den rebellischen Zeiten des vergangenen Jahrhunderts habe ich irgendwann einmal gelernt, dass Streit prinzipiell GUT ist. „Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!” lautete ein beliebter Sponti-Spruch. Alles muss unentwegt kritisiert, in Frage gestellt, bezweifelt werden – die Mächtigen, die Eltern, der Kapitalismus, die Welt generell. Wer nicht streitet, (protestiert, kritisiert, DAGEGEN ist), ist „unkritisch“ und „Opportunist““, er ist „konform“ und hat keine eigene „Meinung“.
Inzwischen bin ich mir da nicht mehr so sicher.
Womöglich haben sich die Dinge sogar umgedreht.

Nehmen wir eine typische deutsche Talkshow. Dort sitzen die „Herrschenden“, die Politiker, wie Sünder in den Sesseln. Und werden von den ModeratorInnen streithaft verhört. Ob sie nicht die geringste Reue zeigen ob ihrer UNFÄHIGKEIT?! Ob sie nicht eigentlich zurück­treten müssten, und ENDLICH einsehen müssen, dass sie auf ganzer Linie versagt haben? Zwischendurch werden Filme mit Schrecklichem gezeigt, Bilder, die Angst machen. Die Politiker winden sich auf ihren Stühlen, versuchen, cool und sachlich zu bleiben. Aber sie werden von einem höhnischen Moralismus niederkartätscht, der immer Recht hat.
Recht haben MUSS.
Im Boxkampf der Aufmerksamkeiten.
Im Triumph der Schlechterwisserei.

In der hypermedialen Gesellschaft, in der wir heute leben, sind „Meinungen“ zu einer Art Munition im Großen Aufmerksamkeitskampf geworden.
Bei „Meinungen“ handelt es sich meistens um Verengungen der Realität auf einen einzelnen Aspekt. Etwa „Die da Oben sind schuld!“ oder „Freiheit ist das einzig Wichtige!“

Meinungen sind zum großen Teil zu reinen Affekten geworden. Angefressenheiten, die sich in der der Abwertung Anderer ausleben. Anklagereien, die im Kreis herumfahren. Jede Debatte wird auf diese Weise zur „zweckbefreiten und absehbar ergebnislosen Kombination zweier Monologe“, wie Heidi Kastner es in ihrem Buch formuliert: „Heidi Kastner: Dummheit“ (S.41).

Was diesen Meinungskriegen fehlt, ist die Ebene der Reflexion, in der wir miteinander in Beziehung kommen, indem wir verschiedene Aspekte der Wirklichkeit austauschen. Der Transformationspsychologe Daniel J. Siegel schrieb in seinem Buch „Mindsight“: „Reflektieren erfordert eine unterstützende, sanfte Einstimmung auf das Selbst statt einer urteilenden Haltung, die verhört und abwertet. Reflexion ist ein mitfühlender Geisteszustand.“

Meinungskriege sind in ihrem Wesen narzisstisch geworden, weil sie nicht mehr dem Finden eines Weges, eines Konsens dienen, sondern dem Inszenieren des eigenen Egos. Sie entfesseln sich immer nur am Negativen. Niemals an Lösungen und Besserungen.
Destruktiver Streit verweigert die Zukunft.

Meinungskriege verlaufen oft nach den Gesetzen des Gegenruhms. Das heißt, dass wir unsere Identität und Wichtigkeit durch Gegnerschaften entwickeln. Je mehr Widerstand wir erfahren, desto mächtiger und ermächtigter fühlen wir uns.
Ich habe einige meiner Freunde an den Gegenruhm verloren. Es war plötzlich erregend, ein Rechter zu sein, wenn man früher ein Linker war. In dieser Umdrehung konnte man noch einmal die alte Lust an der Rebellion, am radikalen Dagegensein, erleben. In diese Falle rennen viele hinein – und landen in einem Shitstorm, den sie selbst mit angerührt haben.

Die Trotzkrise

Offensichtlich sind wir in eine Art Trotzkrise geraten.
Impf-Verweigerung ist ein Trotz, in dem ich mich ausschließlich auf meine eigenen Ängste fixiere. Man macht sich sozusagen zum Ober-Chef seiner Ängste, indem man sie nach außen als Vorwurf projiziert. Indem man Unterdrückungs- und Opfer-Konstrukte daraus baut, wird eine Grandiosität erzeugt, die selbsthypnotisch wirkt.
Ich traue der Welt nicht, weil ich mir selbst nicht traue.
Ich will wissen, wie weit ich gehen kann!
Ich möchte auch in meinem Trotz geliebt werden.
Sonst werde ich sehr wütend!

Wenn Kinder zwei, drei, vier Jahre alt sind, versuchen sie, die Macht des NEIN auszuprobieren. Das ist wunderbar, denn es signalisiert die erwachende Persönlichkeit. Bei seinen Trotzanfällen schaut das Kind allerdings immer sehr genau, ob die Mutter es noch liebt.
Die größere Trotzphase ist die Pubertät. Nicht nur Primaten, auch Gazellen pubertieren, indem sie ihre Kräfte und die Reaktionen der Älteren austesten. Affen verhalten sich dann „affig“. Gazellen rasen im Zickzack herum, was mittags in der Savanne ziemlich gefährlich ist (dort gibt es Löwen).

Die Pubertät ist eine geniale Erfindung der Evolution. Ohne Pubertät gäbe es keine Innovation, keine Fortpflanzung, keinen Wandel. Also die ganze Menschheit nicht. Pubertät heißt, Unterschiede setzen, Risiken zu suchen. Wirkungen auf die Welt und auf sich selbst auszuprobieren.

Marlon Brando fährt mit schwarzer Lederjacke auf einem schweren Motorrad in eine Kleinstadt irgendwo in Amerika ein. Am Zaun seines spießerhaften Einfamilienhauses steht ein verunsicherter Bürger und fragt: „Wogegen rebelliert ihr eigentlich?“
Marlon Brando: „WHAT HAVE YOU GOT?“

Rebellion ist großartig. Man sollte das Rebellische würdigen, es ist eine Gabe der Zukunft. Im Dauer-Zustand kann sich daraus jedoch eine mentale Regression entwickeln, ein Infantilismus, der in Erlernte Unmündigkeit mündet. Man bleibt dann im ewigen Meinen und Greinen stecken, das irgendwann in Bösartigkeit und Selbst-Sabotage mündet.

Das ewige Mimimi

Eine Pandemie ist Ereignis, das uns alle zum Zuhören und Reagieren zwingt. Eine Pandemie stellt unser Leben in lauter Paradoxien: Freiheit versus Verantwortung. Individualität gegen Zwang. Meinung gegen das, was für die Immunität zu tun ist.

Diese Paradoxien sind in einer Pandemie prinzipiell unauflösbar. Man macht zwangsweise immerzu Fehler. Man kann nur hindurchnavigieren. Und versuchen, das am wenigsten Schädliche zu tun. Das ist natürlich niemals genug, wenn man den Maßstab der Perfektion anlegt.

Wir erwarten von „der Politik“, dass sie die Paradoxie aufhebt wie eine Mutter, die alles „gut macht“. Wir erwarten Perfektion vom Staat, als wäre er ein Übervater, den wir gleichzeitig nach Belieben beschimpfen können.
Aber sind Politiker wirklich mächtig? Sind sie „verantwortlich“ für die Krise? Ebenso wie „die Politik“ könnte man „die Bevölkerung“ oder „die Gesellschaft“ beschuldigen.

Man könnte auch „die Medien“ beschimpfen. Haben „die Medien“ nicht mit ihrem Hang zu Sensationismus, Skandal und Übertreibung die Verängstigung unentwegt vorangetrieben? Hat man nicht die wackere Schar der Schwurbler erst regelrecht AUSGEBRÜTET, in dem jeder Vorwurf, jedes Dagegensein, populistisch für Einschaltquoten und clickbaiting genutzt wurde?

Es ist wohlfeil, Politikern heute vorzuwerfen, dass die „nicht früher etwas unternommen haben“. Dieselben Medien, dieselben Talkmaster, dieselben Kommentatoren wären wie der Teufel über ebendiese Politiker hergefallen, wenn sie auch nur daran GEDACHT hätten, früher Vorsorge zu treffen. Man kann sich leicht die Titel der Talkshows von Plasberg, Illner, Anne Will und Co. vorstellen:
„Diktatur der Vorsicht – will die Politik den totalen Lockdown-Staat?“
„Endstation der Freiheit – wie man durch Angstmache die Wirtschaft abwürgt!“
„Merkel im Corona-Wahn – hat die Freiheit noch eine Chance?“

Es ist das Wesen des pandemischen Vorhersage-Paradoxons, dass man es nie „richtig“ machen kann. Wenn man zu früh eingreift, wird nie das eintreten, was befürchtet wurde. Also war es falsch. Wenn es eintritt, wird das offensichtlich, was zu tun gewesen wäre, aber nie wirklich möglich war, moralisch rückwirkend eingeklagt.
So rattert das Karussell des Streits immerzu im Kreis herum, und alle hölzernen Figuren schütteln immerzu die Köpfe.

Das Katharsis-Prinzip

Die alten Griechen nannten den Moment, in dem die WAHRHEIT erscheint, die Katharsis. Die Reinigung von Affekten. „Durch das Durchleben von Jammer/Rührung und Schrecken/Schauder (von griechisch éleos und phóbos“), erfährt der Zuschauer der Tragödie als deren Wirkung eine Läuterung seiner Seele von diesen Erregungszuständen.“ (Wikipedia).

Eine Katharsis entsteht, wenn plötzlich DAS GANZE sichtbar wird. Dann entsteht eine eigentümliche Klarheit.
Kennen Sie das? Es ist, wie wenn man sich aus einer lärmenden Party auf den Balkon geht und tief Luft holt. Der Lärm verebbt, plötzlich sieht man die Zusammenhänge.
Wie alles wirklich ist.

Corona hat in vielen Ländern zu einer gesellschaftlichen Katharsis geführt.
In Amerika hat man danach einfach den Streit weitergeführt, ohne innezuhalten. So entstand eine Unversöhnlichkeits-Starre. In manchen südamerikanischen Ländern haben die Bürger Corona GEGEN die Herrschenden bewältigt (Beispiel Brasilien, wo die Impfquote enorm hoch ist). Dadurch ließ sich ein Stück Würde zurückerobern.

In China hat man sich von der Epidemie noch viel tiefer in den inneren Isolationismus hineinziehen lassen.
Frankreich hat den Weg der Konsequenz, der konstruktiven Entscheidung gewählt, der erstaunlich gut funktioniert hat. „Frei zu sein“, sagte Macron in seiner Corona-Rede vom 12. Juli, in der er eine Impfpflicht für Pflege- und Empathie-Berufe verkündete, „bedeutet in einem Land wie Frankreich auch, Verantwortung und Solidarität zu zeigen!“ Sofort stiegen die Impfraten. Und so ist es jetzt auch in Österreich und Deutschland.

Eine Eigenschaft des Trotzes ist, dass er sich unbewusst nach einem klaren Widerspruch sehnt.
Schweden hat konsequent auf die Selbstverantwortung seiner Bürger gesetzt. Also auf den Nicht-Trotz. Das war riskant, aber es hat eine Wirklichkeit erzeugt, auf die man sich beziehen konnte (nicht ganz so gut funktionierte das in der Schweiz).
In den südlichen europäischen Ländern – Italien, Spanien, Portugal – entstand in der Corona-Krise ein erstaunlicher Reifungs- und Integrations-Prozess. In diesen vorher besonders von Erregungs-Gräben durchzogenen Gesellschaften hat sich eine gesellschaftliche Re-Gnose vollzogen. Die Populisten verloren an Deutungsmacht, das Verhältnis zwischen Politik, Institutionen und Gesellschaft wurde plötzlich gestärkt. Und das Selbst-Vertrauen. In Italien, Spanien und Portugal hört man plötzlich nur noch selten die Formeln der Selbstabwertung á la „Wir können doch gar nichts, unser Land ist das Allerletzte!“

Die konstruktive Wende

Polarisierung ist das Zeichen unserer Epoche. Das Dagegensein ist die neue Konformität. Die Streitkultur ist destruktiv geworden, und aus diesem Sumpf wabert immer wieder das Monstrum hervor: Die Zerstörung der Gesellschaft durch die Macht der Bösartigkeit. Den destruktiven Populismus.
Aber jeder Trend erzeugt auch einen Gegentrend.

Es ist gut möglich, dass nun eine Bewegung der De-Polarisierung entsteht. Sie wäre die eigentliche, die wahre Rebellion unserer Zeit.
Ein starkes Zeichen dafür ist die Art, mit der die Ampel-Koalitionäre in Berlin ihren Vertrag ausgehandelt haben. Politik wird plötzlich nicht mehr als Feindschafts-Spiel verstanden, bei dem es immer darum geht, dem „politischen Gegner“ Vorteile zu entreißen. Sie wird wieder zu einem Lern-Prozess, zu einem Dialog mit und IN der Gesellschaft. Danach gab es ein riesiges Bedürfnis.

Robert Habeck formulierte sinngemäß so: „Das ist schon eine Zumutung. Man wird damit konfrontiert – oder konfrontiert sich selbst damit – dass der andere auch recht haben könnte.“

Fortschritt entsteht in der Versöhnung mit der Wirklichkeit zugunsten eines Win-Win-Ergebnisses. Wenn wir unser Denken und Fühlen an die reale Komplexität anpassen, entsteht Zukunft. Es geht darum, über den Streit und die innere Verworfenheit, die Trauer, dass nicht alles perfekt sein kann, hinauszuwachsen in ein lebendiges Verhältnis zur Welt.

Über die De-Polarisierung und ihre verschiedenen Formen – politische, mentale, soziale De-Polarisierung – möchte ich in der nächsten Kolumne berichten.