Vor einiger Zeit geriet ein kleines Spiel in Mode, als ironischer Widerstand gegen den präpotenten Jargon der Business-Welt. Es hieß das »BULLSHIT BINGO Spiel«.
Eine Gruppe von Freunden positionierte sich zum Beispiel in der letzten Reihe des »Visions-Seminars Verkaufsförderung« oder des »Deutschen Strategietages« oder auch der Volkswagen-Vollversammlung. Immer wenn auf der Bühne einer der Referenten „Nachhaltige Geschäftsstrategie” sagte, oder „Benchmark-Ability” … oder „Marktpenetration” oder „Proaktives Empowerment” oder „Werteorientiertes Management”, standen alle auf und schrien laut „BULLSHIT!”
Das war lustig. Aber auch anstrengend. Weil durch einen geheimnisvollen Hypnose-Effekt viele Zuhörer im Saal einfach an diesen Unsinn GLAUBTEN. Und sich irgendwie gestört fühlten bei ihren Glaubensprozessen….
Eine Begriffsdefinition für das schöne Wörtchen Bullshit stammt von Harry G. Frankfurt, einem amerikanischen Professor, der vor 20 Jahren ein kleines, gemeines Büchlein mit dem Titel „ON BULLSHIT” veröffentlichte. Frankfurt fragte sich ganz naiv, warum rund um die Uhr so unglaublich viel BULLSHIT erzählt wird, ohne dass das jemandem aufzufallen scheint.
Im Gegensatz zum Lügen, so Frankfurt, erfordert Bullshit keine echte geistige Leistung. Beim Lügen geht es ja immer auch um Wahrheit, die es zu verbergen gilt. Dafür braucht man erheblichen geistigen Aufwand. Beim Bullshit hingegen gelten die Gesetze der reinen Redundanz. Man erfährt durch Bullshit das, was man sowieso erwartete – und das macht angenehme Gefühle:
&bdauo;Bullshit ist jene Erzählung, in der es nicht im Geringsten mehr darum geht, eine Wahrheit durch bewusste Verfälschung zu kaschieren. Das Verhältnis des Bullshitters zu der ihm umgebenden Realität ist pure Gleichgültigkeit. Er verbreitet einfach nur »etwas«”, bei dem jeder nur nicken und zustimmen kann.”
Zukunfts-Bullshit hört sich zum Beispiel so an:
Viele Trends zeichnen sich deutlich im Heute ab. Die vorgestellten 30 Trends zeigen die neue Einstellung der Konsumenten. Letztlich bietet die große Verunsicherung, der wir ausgesetzt sind, uns allen große Chancen des Aufbruchs. Wir können uns von alten Regeln und Gewissheiten verabschieden, denn sie existieren nicht mehr! Es gibt die Chance zu neuen, revolutionären Entwicklungen in vielen Bereichen unseres Lebens! Es gilt, diese Veränderungen rechtzeitig zu erkennen, vorbereitet zu sein und die Chancen auch zu ergreifen…
Ähnlich klingen auch Verlautbarungen mancher Kollegen aus der Zukunfts-Zunft, wenn sie mit Texten wie diesen für ihre Seminare werben:
„Wir nehmen … Sie mit auf die Reise in eine Zukunftswelt des Jahres 2020: Food-Konzerne entwickeln Margarine mit Neuropushern, Musikmajors bieten Halsbänder mit denen jeder die Stimme seines Stars erhält, Pharmakonzerne bieten Doping für Gehör und Geruchssinn, immer mehr greift auch der Inbody-Chip um sich. Kommende Generationen werden den menschlichen Körper weniger als naturgegeben, sondern mehr als optimierungsbedürftige Hülle sehen … die Lebenswelten und die Bedürfnisse Ihrer Kunden werden sich in den kommenden Jahren komplett verändern!!!
Die Zukunfts-Klischee-Erzählung unserer Tage geht etwa so:
In der Zukunft sind Roboter allgegenwärtig. Sie pflegen unsere Kranken, bevölkern die Stadt, sind uns aber unheimlich. Sie bieten uns Unterhaltung, Sex, Komfort &ndashM; und dann nehmen unsere Jobs weg.
In der Zukunft sitzen wir fröhlich in Anzügen oder feinem Kostüm in unseren Häusern auf dem Sofa und bedienen alles mit einer Fernbedienung, oder besser noch mit Gesten- oder Sprachsteuerung. Wenn wir im automatisch fahrenden Auto sitzen, werfen wir die Waschmaschine an, oder den Herd, der dann automatisch einen Braten brät… Der Kühlschrank ist intelligent und all unser Leben »smart vernetzt«… (bitte automatisch Text ergänzen…).
In Zukunft wird alles immer schneller und sensationeller und automatischer und gefährlicher!
Kaum jemandem fällt auf, dass diese Morgen-Bilder uralter, abgestandener Kaffeesatz sind. Das elektronisch-automatische Utopia, das uns hier beschworen wird, ist mindestens 100 Jahre alt. In den Zukunftsbildern meiner Kindheit in den 60er Jahren wimmelt es nur so von Haushalten, in denen Männer mit Pfeife fröhlich Rasenroboter dirigieren und »Denkmaschinen« die Arbeit übernehmen, während die fröhliche Hausfrau sich vor dem Spiegel schminkte. Am meisten grassiert der Bullshit heute beim großen Hype unserer Tage der »Künstlichen Intelligenz«. Die ganze Debatte darum krankt an dem, was der System-Soziologe Nicolas Luhmann einmal als »Kategorienfehler« bezeichnete. Als Beispiel für diesen typischen Denkfehler nannte er den Versuch eines Bauern, Bratkartoffeln anzubauen.
In der dämonisierten Künstlichen Intelligenz-Debatte verwechseln wir dauernd die Kategorie der Intelligenz – des formalen Lösens von Problemen – mit Bewusstsein und den dazugehörigen Emotionen. Wir projizieren munter menschliche Motive auf digitale Prozesse. Wir verwechseln das Mechanische mit dem Organischen. Wir halten letztendlich Metaphern für Prophezeiungen. Der anthropomorphe Animismus, mit dem wir Computern und Robotern ständig menschliche Motive unterschieben, zerstört dabei unmerklich unseren Wirklichkeits-Sinn. Er führt zu einer ständige Steigerung von Hysterie-Debatten, in denen wir uns grenzenlos vor der Zukunft fürchten – und sie uns gleichzeitig vollkommen egal wird. Denn tief innen ahnen wir, dass wir es eigentlich nur mit Narrationen zu tun haben, mit reinen Fiktionen, die mit der wahren Zukunft nicht das Geringste zu tun haben.
Leider befällt diese Krankheit auch die Klügsten. In der jüngsten Ausgabe der WirtschaftsWoche (16.3.2018) nimmt Miriam Meckel die Position der futuristischen Vermutungs-Apokalyptikerin ein. In der Titelgeschichte „Geschäftsmodell Gehirn” geht es irgendwie um Hirn-Implantate, Mensch-Maschine-Denk-Schnittstellen und Gedankendiebstahl. Das Titelbild der WIWO Ausgabe zeigt dazu einen Kopf mit einem USB-STECKER! (siehe oben).
„Aktuell arbeiten etwa dreißig Unternehmen weltweit an der neurotechnischen Eroberung des Gehirns. Sie wollen mit Hilfe neuer Technologien an der Erweiterung des Denkens durch Neurostimulation, Neuromodulation, Hirn-Apps und der Entwicklung von Hirn-Computer-Schnittstellen mitwirken… Es entsteht ein harter Wettbewerb darum, wer zuerst das Nervensystem kontrolliert und eine für den Massenmarkt taugliche Technologie anbieten wird für Gedankenlesen oder den Brainchat, das Plaudern von Hirn zu Hirn… Früher haben wir Mofas frisiert – heute sind unsere grauen Zellen dran… Die Autocomplete-Funktion die uns zum Beispiel Google anbietet, um uns zu helfen, die richtige Suche zu starten, würde ins Gehirn wandern…
Und so weiter. Formulierungen wie „könnte, würde…” und „Wissenschaftler behaupten …” und „Wettbewerb beginnt…” und „Schon haben die ersten Firmen APPS entwickelt…” verweisen in eine Sphäre der Unwiderlegbarkeit, die sich allein aus dem angstvollen Gerücht speist. Wie oft haben wir schon erlebt, dass sich solche Vermutungen als Hype erwiesen, dass spektakuläre Geschäftsmodelle sich als Fake, oder einfach nur als Missverständnis herausstellten? Aber egal, was „sein könnte”, „könnte ja irgendwie sein…” – oder?
Es könnte allerdings auch sein, dass dieser „Journalismus des Raunens” nicht unerheblich zu unserem heutigen postfaktischen Problem beigetragen hat – zu einer öffentlichen Sphäre der Hysterisierung und „Vermeinungen” (Sascha Lobo).
Ich schätze Miriam Meckel sehr, und gerade deshalb tut es weh. Es ist traurig, dass diejenigen, die sich geistig um unsere Zukunft kümmern können, so oft den alten Reflexen erliegen. Ein tragisches Beispiel ist der früh verstorbene Frank Schirrmacher, Ex-Herausgeber der FAZ, der mit seinem feuilletonistischen Zukunfts-Raunen zu unserer heutigen Zukunfts-Hysterie mehr als beigetragen hat. Es gelang ihm, die Erweiterung der Lebensspannen in der modernen Welt als monströse Weltverschwörung umzudeuten („Methusalem-Komplott”). Das Internet war für ihn eine Art demiurgische Black Box, eine Büchse der Pandora, aus der ausschließlich die Knechtung des Menschen entspringen konnte.
Auf diese Weise gehen TECHNO-HYPE – die Vorstellung, dass Technologie ALLES kann – und TECHNO-PHOBIE – die Dämonisierung der Technik – eine nahtlose Allianz ein. Genau das ist »Future Bullshit«: Die Ersetzung der Zukunft durch Erregungs-Leere. Das ist ein durchaus ähnlicher Prozess wie in der Politik, wo ganz Links und ganz Rechts mehr und mehr fusionieren. Dabei sind wir längst viel weiter in der Zukunftsdebatte. Wir sind mitten in einer »Digitalen Revision«, in der die medialen Fragen neu gestellt werden. Wir können allmählich verstehen, wie Technologie und Kultur zusammenhängen und sich in ihrer Evolution gegenseitig bedingen. Wir können plausible Modelle bauen für das, was sich technologisch durchsetzt, und das was scheitern wird. Für einen solchen aufgeklärten, humanistischen Futurismus müssten wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Zu DIFFERENZIEREN zwischen Magie und Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit und kindlich-ängstlicher Übertreibung. Es gilt, in Richtung Zukunft erwachsen zu werden. Ich weiß, das ist schwer. Ich versuche es jeden Tag.
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An der Einstellung zum Wetter entscheiden sich viele unserer Zukunftsbilder. Das war schon in Urzeiten so, als die Menschen Blitz und Donner als gefühlte Strafen codierten, oder Überschwemmungen als Anzeichen göttlichen Zorns. Heute hat die religiöse Wetterfühligkeit die Gestalt von »Global Warming« angenommen.
Alles ist nun Zeichen, dass es demnächst besonders schlimm über uns kommt. Regen, Schnee, warme Sommer, kühle Sommer, gar ein Sturm – all das ist doch nicht normal! Auch der kalte und schneereiche Februar ist wieder einmal der BEWEIS, dass das Klima »aus den Fugen« gerät.
Wie können wir diese »cognitive bias«, diese Weltwahrnehmungs-Verzerrung, etwas lindern? Das versucht Günther Aigner, ein Schneeforscher aus Kitzbühel, (www.zukunft-skisport.at). Er hält seit vielen Jahren inspirierende Vorträge über die Zukunft des Schnees in den Alpen.
Dafür tut er etwas ganz Simples: Er misst Schneehöhen und Temperaturen in Wintersportgebieten über längere Zeiträume. Und hat dabei etwas sehr Interessantes festgestellt: Die Schneehöhen haben seit 100 Jahren so gut wie gar nicht abgenommen. Auch die mittleren Temperaturen auf 1.000 oder 2.000 Meter Höhe in den Alpen oszillieren um einen Wert, der kaum von langfristigen Mittel abweicht.
Es gab in den letzten 50 Jahren wärmere Winter, aber auch kältere. Die Winter werden auch nicht generell kürzer. Momentan sieht es sogar so aus, als ob es wieder längere Winter und mehr Schnee gibt.
Wie das? Hören wir nicht in jedem Jahr den Sound der alpinen Tourismusindustrie, dass wegen des Klimawandels »demnächst« kein Skifahren mehr möglich sein wird? Dass die Saison immer kürzer wird? Dass es einen »Megatrend grüne Pisten« gibt oder „demnächst die Tiroler Wein anbauen werden”? Das erfordert dringend Subventionen! Ganze Regionen sind existenzbedroht! Man muss neue Gletscher zum Skifahren erschließen, ganz hoch hinaus! Man muss ganz neue Schneisen in den Wald schlagen, Straßen bis auf 3.000 Meter Höhe!
Die Sache mit dem Schnee ist ein gutes Beispiel dafür, wie negative Zukunftsaussagen eine eigene Bedarfs-Logik entwickeln. Sie erzeugen ihre eigene eine Spirale an meistens falschen Rück-Schlüssen. In Sachen Schnee ist die Aufrüstung bislang allenfalls mit Schneekanonen erfolgt, das ist nicht ganz so schlimm. Aber es könnte zu massiven Fehlentscheidungen kommen, etwa wenn ganze Landstriche sich vom Skifahren verabschieden.
Mit dem Verweis auf katastrophale Trends kann man auch prima von den wahren Problemen ablenken, in diesem Fall etwa einer Über-Kommerzialisierung des Skisport, die immer mehr Skiorte in einen einzigen Alkohol-Rummel verwandelt. Dabei entstehen neue kommerzielle Zwänge: Eine Saison MUSS 100 Tage Vollschnee haben, sonst gilt sie als Pleite; schließlich muss man all die teuren Anlagen bezahlen!!!
Auf diese Weise werden einfach die Kriterien verschoben für das, was als »normal« gilt – ein Katastrophierungs-Prinzip, dass wir auch in anderen Bereichen kennen. Auch früher schon gab es Weihnachtstauwetter und verregnete Januare. Die haben wir nur vergessen – und erinnern uns nur an den »herrlichen Schnee« unsrer Kindheit.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass durch Übertreibung die ganze Klimapolitik unglaubwürdig wird. »Fake News« eben: Wenn plötzlich die Winter wieder schneereich werden, glaubt keiner mehr an »Global Warming«. Übrigens hat Günther Aigner festgestellt, dass es »Global Warming« in den Alpen sehr wohl gibt. Aber eben im Sommer. In der warmen Saison sind die Temperaturen tatsächlich um 1,5 Grad gestiegen. Damit erklärt sich auch der Rückgang der Gletscher. Das Klima ist komplex. Die menschliche Wahrnehmung leider nicht so sehr. Zukunftsannahmen, vor allem negative, sind oft durch eigene Interessen und mediale Hysterisierungen geprägt. Das ist für Zukunftsforscher eine wichtige Botschaft. Dagegen hilft nur »Futuristische Gelassenheit«.
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Muss uns die Politik endlich wieder „richtige Zukunfts-Visionen” liefern?
Februar 2018
Jetzt geht es wieder richtig los mit dem großen politischen Katastrophen-Geschrei. KRISE! titelt der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe in 1.000-Punkt-Lettern, und schreibt über die Politik, die „auseinanderbricht“, weil „die Volksparteien das Volk nicht mehr erreichen“, weil das politische System „dysfunktional“ geworden ist, weil …
Meine Güte. Welches Titelbild würde der Spiegel eigentlich bringen, wenn WIRKLICH einmal eine Krise eintritt? Könnte es sein, dass die schwierigen Koalitionsverhandlungen eher ein Zeichen für die STABILITÄT unserer Demokratie sind? Ich frage ja nur. Und wäre es möglich, dass das derzeitige Gewurstel auch mit dem destruktiven Skandalismus vieler (nein, nicht aller) Medien zu tun hat? Man hat den Eindruck, dass die Politik wie eine Art Dschungelcamp inszeniert wird, eine Veranstaltung, die vor allem dazu dient, Klick- und Einschaltquoten zu steigern.
Die häufigste Journalistenfrage in den Talkshows: „Aber wollen Sie nicht doch Angela Merkel stürzen???”. Von STERN bis SPIEGEL, von ARD bis ZDF stimmen alle in den AFD-Chor von den „Altparteien” ein. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, nennt das die „gehetzte Politik”.
Bemängelt wird besonders das Fehlen von „Visionen”. So gut wie alle sind sich einig: „Die Politik” MUSS endlich wieder „die große Richtung vorgeben”. Es braucht, so tönt es überall, einen „Großen Wurf”.
Mir wird dabei, gerade weil ich mich ein bisschen mit Zukunftsvisionen auskenne, etwas übel. Der Ruf nach einer erlösenden Vision verrät ein grundlegendes Missverständnis gegenüber der Politik. Und vielleicht steckt hier sogar der eigentliche Grund für die Turbulenzen im politischen System.
Das Fatale des letzten Wahlkampfes – und der Fluch der SPD – war ja gerade, dass ENDLICH WIEDER der „große Wurf” versucht werden sollte. GERECHTIGKEIT! Als politische Parole ist das ein Teufels-Begriff. Er markiert ein moralisches Maximum, das niemals zu erreichen ist. Er suggeriert etwas, was die Politik in Wirklichkeit nie leisten kann. Gerechtigkeit ist nämlich kein objektiver Zustand, kein Ziel, das man strategisch oder taktisch erreichen kann. Sondern eine durch und durch emotionale Wahrnehmungsform.
Die Welt ist, seien wir ehrlich, IMMER ungerecht. Egal, wie sehr wir auch Chancen und Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die Unterschiede zwischen Menschen lassen sich einfach nicht abstellen (und wenn ja, dann nur durch den Preis der Despotie; das hatten wir schon in mehreren Varianten). In den Millionen Entscheidungen eines Lebens kann ungeheuer viel schiefgehen. Aber auch gelingen. Überall spielt der verdammte Zufall eine Rolle. Man kann, je komplexer die Gesellschaft wird, leicht straucheln. Aber auch überraschend Erfolg haben. Das ist DOPPELT ungerecht!
Weil die Welt „kontingent” ist, das heißt von unendlichen Möglichkeiten durchzogen, bedeutet das für die Gerechtigkeit: Sie kann immer nur IM NEGATIVEN VERGLEICHSMODUS erlebt werden. Als subjektive UN-Gerechtigkeit! Als Zorn-Attacke. Als Defizit. Gerechtigkeit hat sozusagen nur einen negativen Fußabdruck, keinen positiven. Wenn dem Einen etwas gegeben wird, ist das sofort ungerecht. Denn man SELBST, oder die eigene Gruppe bekommt womöglich gerade nichts.
Jede Gerechtigkeitsdebatte erzeugt dabei sofort Ansprüche, die ins Bizarre und Unbegrenzte steigen müssen; sie ist wie eine Hydra, der man, wenn man ihr einen Kopf abschlägt, immer neue nachwachsen. Wie bitte? Geld für neue Kindergärten? Und wir Rentner? Werden wieder über den Tisch gezogen. Mehr Mütter- Witwenrente, Zusatzrente? – das ist reine Gerontokratie! Krankenkassen-Ärzte sollen mehr Geld kriegen? Wird den Ärzten nicht schon genug Geld hinterhergeworfen? Elektroautos? Nur was fürs grüne Milieu, unsereins bliebt bei einem anständigen Verbrenner! Schnelles, teures Internet für alle? Wozu brauch ich Internet, das ist doch nur was für die Eliten! Undsoweiter…
Das heißt im Klartext: Die Menschen (Wähler) sind in Wahrheit gar nicht an Gerechtigkeit interessiert. Sondern nur an Ungerechtigkeit. Sie empören sich gerne, lassen aber einen Kandidaten, der etwas verspricht, was sie eigentlich nicht glauben und was nie passieren kann, sofort wieder fallen. In diese Falle ist die SPD hineingetappt wie ein großer, gutmütiger Bär.
Gerechtigkeit-Kampagnen verwandeln den politischen Diskurs in eine Spalter-Arena, eine endlose Neid-Spirale. Auf diese Weise wird der Kern des sozialen Kontraktes zerstört. Georg Cremer, einer der wenigen erleuchteten Armutsforscher, hat das in einem ZEIT-Online-Interview auf den Punkt gebracht:
„Die Abstiegspanik in der Mitte macht unsere Gesellschaft unsolidarischer. Eine große Mehrheit der Menschen sagt, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Wenn man die gleichen Menschen aber fragt, was man gegen diese Ungerechtigkeit tun kann, dann wird die Besserstellung von Hartz-IV-Empfängern oder Hilfen für Menschen mit Migrationshintergrund nur von einem Viertel genannt. Sie treiben eher Gerechtigkeitsfragen um, die in der Mitte der Gesellschaft eine Rolle spielen, dass der Lohnabstand zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen gewahrt bleibt oder gleiche Arbeit auch gleich bezahlt wird. Das sind auch wichtige Fragen. Aber wir brauchen eine Mitte, die mit den Menschen am Rand empathisch ist und nicht selbst in Angst erstarrt. Dann hat Politik für Randgruppen eine Chance.”
Das zweite Kernproblem der Gerechtigkeits-Parole ist ihre rein LINEARE Dimension. Sie bleibt so gut wie immer auf der alten primitiven Umverteilungs-Ebene stecken. Geld soll alles lösen. Aber Geld wozu?
Was passiert, wenn man, wie im Koalitionsvertrag verhandelt, 8.000 neue Pfleger finanziert? Ändert sich dann wirklich etwas in der Alterspflege? Wohl kaum, die Defizite werden nur sichtbarer, denn das Problem liegt viel tiefer. Ändert das schnelle Internet in Süd-Sachsen die miese Laune der Ansässigen und die Investitionsfreude von Außen? Wohl kaum. Können 1 Million schnell in den Markt gedrückte Wohnungen etwas an der Lebensqualität der Städte verbessern? Vielleicht ein bisschen. Vielleicht sind billige Wohnungen aber auch nur eine Täuschung, was die wahren Probleme des Wohnens betrifft. Die haben nämlich weniger mit Quadratmeter zu tun, sondern mit Nutzungen, mit QUALITÄTEN.
Der Grund, warum die alten Links-Rechts-Achsen nicht mehr funktionieren (und warum die Linke „am Ende” erscheint,) liegen darin, dass in einer entwickelten Wohlstands-Gesellschaft Umverteilungen einen ständig sinkenden Grenznutzen haben. Eine echte Zukunftspolitik entsteht erst dann, wenn wir verstehen, dass an einem bestimmten Punkt der sozialen Komplexität nur komplett neue Systeme in die Zukunft führen.
Unser „Gesundheitssystem” zum Beispiel: Es ist in Wirklichkeit ein Krankheits-System, in dem ALLE Spieler gewinnen, die an Krankheit Geld verdienen. Diese fundamentale Fehlsteuerung, die die Kosten dauernd in die Höhe treibt und den Patienten umso mehr zu einer Art Melkkuh macht, je kränker er ist, kann man nur durch ein System überwinden, das auf GESUNDHEIT und HEILUNG ausgerichtet ist (das geht sehr wohl, aber das würde hier zu weit führen).
Wenn man mehr Geld in Schulen gibt, dann ist das prinzipiell gut, aber wenn man damit nur mehr überforderte und schlechte Lehrer damit finanziert, verschärft man nur die Misere. Das Elend der Alterspflege besteht in Wirklichkeit in der Vereinsamung der Menschen, in der sozialen Isolation, die die institutionelle Pflege zu einer hoffnungslosen Verwahranstalt macht. Wie könnte man das ändern? Eben NICHT, indem man die alten Institutionen aufrüstet. Sondern in dem man die Beziehungen zwischen Alt und Jung, die gesellschaftlichen Konnektome, neu vernetzt. DANN macht mehr Geld auch Sinn: Zum Beispiel in intergenerativen Wohnformen, in denen Alt und Jung in neuen Siedlungsformen zusammenleben, die auch so etwas wie »Heimat« werden können. Eine Alternative zu einem Wohnungsbau, der nur eine Million Standardwohnungen hinknallt, die in zwanzig Jahren schon wieder leer stehen, wären Co-Living-Projekte. Davon gibt es inzwischen mehrere Tausend in Deutschland. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, Baukredite zu bekommen.
Das alles erscheint nur utopisch. Elitär irgendwie. Aber genau das ist das wahre Wesen des Fortschrittes. Früher hatten allenfalls die Fürsten ein Wasserklo und eine Kutsche. Fortschritt besteht nicht darin, den befürchteten Mangel umzuverteilen, sondern das Bessere, Komplexere, für immer mehr Menschen zugänglich zu machen. Das bedingt allerdings auch, dass Menschen sich ändern wollen – in Richtung einer besseren Zukunft.
Ist eine ehrliche, qualitative und »radikale« gesellschaftliche Zukunftsdebatte überhaupt möglich? Vielleicht schon. In Island hat man nach der Finanzkrise, die das Land völlig in die Pleite riss, einen breiten Zukunfts-Bürgerprozess organisiert, in dem sich die Gesellschaft neue, QUALITATIVE Ziele gesetzt hat (und ein Punk wurde Bürgermeister der Hauptstadt).
Neue Demokratieformen mit mehr Partizipation gibt es durchaus – man muss nur hinschauen (etwa ins Ministerium für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, wo meine Freundin Gisela Erler neue Formen der Beteiligungs-Demokratie entwickelt). Die Zukunft wird mehr und mehr auf der kommunalen Ebene entschieden. Neben dem viel beklagten Großstadt-Trend gibt es längst eine »Progressive Provinz«, mit charismatischen Bürgermeistern und aktiven Gemeinden, die ihre Identität nicht im Hass gegen Flüchtlinge suchen.
Eine solche Zukunfts-Politik agiert IMMER jenseits von Rechts und Links, von Populismus und Angst. Es ist nicht mehr eine lineare, sondern eine DREIDIMENSIONALE Politik. Sie umfasst nicht nur die Verteilungsachse, sondern auch die Beziehungsebene, den konkreten Menschen, sie setzt auf Innovationen der Systeme und Institutionen. Sie spricht nicht nur die Brieftasche und den Bauch an, sondern das Herz und die Fantasie.
Visionen funktionieren immer dann, wenn sie Menschen zu einem Prozess der Selbstveränderung, der inneren Emanzipation, des NEU-Denkens und NEU-Fühlens animieren. Das ist genau der Weg von Macron, der mit seiner politischen Vitalität auf den Willen Vieler zur Umgestaltung zielt. Seine Kunst ist es, die Verbitterung in Energie umzuformen.
Das heißt auch: Zukunfts-Politik muss provozieren. Sie muss unbequem sein. Sie muss uns in den Komfortzonen der Rechts-Links-Blödheit stören. Sie kann nicht einfach den Frustrierten nach dem Mund reden („die kleinen Leute mitnehmen”), sie muss sie auch zur Aktivität herausfordern.
Letztendes geht es nicht darum, Ängste zu BEDIENEN, wie Linke und Rechte das verzweifelt versuchen, sondern sie in Richtung auf neue gesellschaftliche Kooperationen zu ÜBERWINDEN. Politik kann dabei nur wirken, wenn die Gesellschaft, die »vielen Einzelnen«, selbst bereit für einen Wandlungsprozess sind. Das ist die Erfahrung meiner Generation. Als in der Willi-Brandt-Ära die Parole „Mehr Demokratie wagen” aufkam, wollte eine große Mehrheit genau das.
Alle wichtigen Reformen, man denke an die Schwulenrechte, oder auch die Energiewende, entstanden IN der Gesellschaft – und wurden dann von der Politik aufgegriffen. Auch heute gibt es, allen Unkenrufen zum Trotz, den Willen zum Fortschritts-Wandel aus dem Inneren der Gesellschaft heraus. Neo-Politik besteht in der Kunst, diese Sehnsucht der Herzen zu spüren, ihr Worte und Richtung zu verleihen, jenseits der alten Kisten und Schachteln, in denen der Schnee von gestern moralisch verpackt wird.
Es mag ja sein: Noch sind wir nicht soweit. Noch spürt man wenig von einer Aufbruchsstimmung, dafür umso mehr von Angst und Hysterie. Aber man kann das Politische nicht hetzen. Bis zu neuen Modernisierungs-Mehrheiten ist die vielgeschmähte GROKO einfach des Beste, was wir haben. Wir sollten ihr dankbar sein. Habe ich schon gesagt, dass Dankbarkeit eine wichtige Zukunfts-Eigenschaft ist, vielleicht die wichtigste überhaupt?
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Vor zehn Jahren prognostizierte ich den „Digital Backlash”, den Punkt, an dem die unbegrenzte digitale Euphorie umkippt und sich Ernüchterung, aber auch eine segensreiche Revision breit machen wird. Nun hat es einige Jahre länger gedauert. Aber jetzt ist es soweit. Zum ersten Mal wird weltweit ernsthaft über die Folgeschäden der Sozialen Medien diskutiert.
Die Rolle von Facebook und Twitter in der Trump-Revolution brachte das digitale Fass zum Überlaufen: Kann ein Super-Medium sich vollkommen aus der Frage heraushalten, wie es benutzt wird? Kann das digitale Universum völlig frei von menschlichen Umgangs-Kriterien, von Moral und Wahrheitsfragen bleiben? Nach unendlichen Shitstorms, Cybermobbings, Hass-Blasen, Bot-Plagen und einer weitgehenden Zerstörung der gesellschaftlichen Diskurs-Fähigkeit reiben wir uns die Augen. Und realisieren plötzlich, was im Namen des Götzen Digitalisierung alles geschehen ist.
Das heißt auch, dass es Abschied zu nehmen gilt von den revolutionär-infantilen Euphorien, die mit dem Netz als Freiheitsbringer verbunden waren. Netz-Euphorie war lange Jahre lang so cool, dass Widerspruch zwecklos war. Auf vielen Konferenzen dominierten die stakkato-sprechenden digitalen Jünglinge, die dem andächtig lauschenden Publikum – „Wir sind ja leider keine digital Natives” – lauter wohlklingenden Cyber-Unsinn um die Ohren hauten. Irgendwas Schickes mit Internet der Dinge, Brain-Enhancing, Smart Mobs und rasender Künstlicher Intelligenz.
Bis vor kurzem galten die „Influencer” als die großen Popstars der Gegenwart. Jetzt hat zum ersten Mal ein Hotel (in Dublin) die Luft aus der Imagination herausgelassen, indem es einer Influencerin (Elle Darby) die Lizenz zum Schmarotzen entzog. Siehe: www.stern.de/neon.
Selbst Mark Zuckerberg hat heute eingesehen, dass der Wind sich gedreht hat. Er versprach in mehreren Interviews, Facebook radikal „umzubauen”. Nun gut, das kann auch eine Behauptung sein wie „Dieselaggregate werden immer sauberer”. Aber der Trend ist eindeutig und irreversibel. WIRED als Leitmedium des Digitalismus brachte eine Titelgeschichte über „The Great Tech Panic of 2017”, eine gründliche Abrechnung mit den hyperdigitalen Mythen. Längst herrscht eine Art digitaler Depression: In jedem amerikanischen Medium wird heute die Frage der seelischen Folgeschäden von Social Media und die Über-Macht der digitalen Monopolisten debattiert.
Fünfzehn Jahre stiegen die Tech-Aktien der großen Monopolisten (Apple, Facebook, Amazon etc.). Wetten, dass es in den nächsten Monaten dort steil bergab geht?
Viele Märkte des Digitalen stagnieren heute oder erfüllen ihre disruptiven Versprechen nicht. Das digitale Buch hat das Papierbuch nicht ersetzt. Bitcoin bleibt ein Hype (auch wenn Blockchain bleiben wird). Die Virtuelle Realität, der Megahype des vorletzten Jahres, ist in ein paar durchaus sinnvollen Simulationsanwendungen und einigen Spielen steckengeblieben. Ja, Menschen haben diese komischen Brillen auf, aber man kommt sich immer noch einsam in ihnen vor. Der digitale Kaiser steht bisweilen ziemlich nackt da.
Digitalisierung kann weder die Bildungsfrage noch das Gesundheitswesen „erlösen”, dazu braucht es klügere Systeme, nicht nur mehr Daten. Künstliche Intelligenz steckt in Wahrheit noch in einem embryonalen Frühstadium (aber schon fürchten sich alle rund um die Uhr). Wir ahnen, dass sich die hohen Erwartungen an das autonom fahrende Auto so schnell nicht erfüllen werden. Um Autos wirklich vollautomatisch fahren zu lassen, müssen wir alle Städte „digitalistisch” umbauen, und die Autobahnen dazu. Ist das wirklich die Zukunft? Oder nur der feuchte Folgetraum verunsicherter Automanager?
Nein, es geht nicht um eine neue Technikfeindlichkeit. Es geht endlich wieder um KONTEXTE. Um ein tieferes Verstehen des Verhältnisses zwischen Mensch und Technologie. Um digitale Erwachsenheit. Die Internet-Illusion bestand darin, dass man mit dem Digitalen das Menschliche und Zwischenmenschliche, das Bewährte und Analoge einfach ÜBERSCHREIBEN wollte. Diese Illusionen erinnern an viele andere Revolutionen, die sich am Ende als menschenfeindlich herausstellten. Aber ich bin zuversichtlich.
Immer in 20-Jahres-Zyklen kommt es zu einem großen Paradigmenwechsel. Das Pendel schlägt von einer eher linear-technizistischen Weltsicht wieder in eine Humanistische. Die Achtsamkeits-Bewegung mit ihrer Fragestellung, wie der menschliche MIND die Zukunft gestalten kann, statt sie zu erleiden, gewinnt an Stimme.
Die Fragen werden frisch gestellt: „Wie können wir unsere Seelen vor der Überreizung schützen?” „Wie können wir die paranoischen Epidemien stoppen, die den Populismus füttern?” „Wie können wir BESSER DENKEN lernen – um die Zukunft besser zu gestalten?”
Und im Zentrum von allem: „Wie nutzen wir real-digitale Systeme für echten humanen Fortschritt?”
Noch einige Teil-Trends der digitalen Revision:
Facebook Fatigue
Social-Media-Plattformen verlieren inzwischen massenhaft User, weil die tägliche Pflege von Kommunikationsströmen die Menschen auf Dauer überfordert und sozial ermüdet und negative Hass-Feedbacks inzwischen den Spaß verderben. Facebook hat nicht nur Menschen verbunden, sondern auch auf viele Weise das Böse in die Welt gebracht.
Uber-ruption
Das Disruptionsplattform UBER gerät selbst in die Disruption, weil sie den Ausgleich zwischen den Interessen von Fahrern, Passagieren und Stadtregierungen nicht hinbekommt. In ähnliche Probleme driftet AirBnb ab: Nebenvermietungen verwüsten die Wohlstrukturen ganzer Stadtteile.
Twittertropie
Wer sich lange im Radius von Twitter-Botschaften aufhält, verliert die Lust an den 144 Zeichen. Nicht nur Trump zeigt: es handelt es sich meistens um Aufmerksamkeits-Operationen und manipulative Botschaften. Da hilft auch die Verdoppelung auf 288 Zeichen nichts.
Amazorn
Wollen wir wirklich in einer Welt von Lieferwagen-Kolonnen und Drohnen-Schwärmen leben und in unserer Wohnung ständig mit dialogisierenden Lautsprechern sprechen, die uns bereitwillig Klopapier und Beruhigungspillen nachbestellen? Amazon bringt in seinem Wahn, jeden noch so fernen Punkt des Universums mit seiner Lieferlogistik zu verbinden, immer mehr Menschen gegen sich auf. Mehr und mehr auch die Kartellbehörden. Und inzwischen auch die Politik.
RealDigital
Die neuen Synthesen zwischen der sinnlichen, haptischen, menschlichen Welt und den digitalen Möglichkeiten. Plattformen, die auf die Kräfte der realen menschlichen Kommunikation setzten, ohne sie monopolisieren zu wollen. Synthesen zwischen Handwerk und Vernetzung. Die zweite Welle der Internet-Unternehmen, die sich nicht aus der Idee speist, die Welt zu übernehmen und möglichst schnell einen cashout zu veranstalten. Sondern das Digitale für den Menschen und seine Emanzipation zu nutzen.
OMline
Der Zustand, in den wir zwischen der digitalen Echtzeit-Welt und der analogen Real-Welt souverän differenzieren können. Die Kunst, das Smartphone ausgeschaltet zu lassen, wenn man Menschen Auge zu Auge begegnet. Die Fähigkeit, in Familien, Freundesgruppen, Business-Kontexten zu leben, ohne dauernd gestört, genervt, abgelenkt zu sein. Die Einsicht, zu verstehen, dass das der eigene Wert nicht von der Anzahl der LIKES abhängig ist.
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Was der Humanistische Futurismus über die Zukunft der Sprachassistenten zu sagen hat.
Januar 2018
Ein technologisches Gespenst geht um – wieder einmal. Eine Technologie spaltet die Gemüter. Die einen können sich vor lauter Zukunfts-Euphorie gar nicht mehr einkriegen: KÜNSTLICHE INTELLIGENZ kommt jetzt in unsere Haushalte, wird unser Privatleben einfach und genial komfortabel machen! Die anderen sehen die finale Versklavung des Menschen durch die kapitalistische Digitalindustrie kommen. Die Rede ist von den neuen Sprachassistenten: Google Now, Alexa von Amazon, Siri in Lautsprecherform, demnächst wird auch Facebook einen sprachlich versierten Assistenten auf den Markt bringen.
Sascha Lobo schreibt zum Thema in seiner SPIEGEL-Kolumne:
In jeder deutschen Fußgängerzone wäre man vor 30 Jahren blau geschlagen worden allein für die Frage, ob man eine „Wohnzimmerwanze“ kaufen würde, die jedes Wort nach Amerika funken kann… Die Weltmacht Bequemlichkeit schlägt alles, sogar deutsche Bedenken. Wer 2008 ein Smartphone mit Touchscreen in die Hand nahm, spürte, die physische Handy-Tastatur ist alt. …Jetzt zieht das Reden mit dem Netz herauf, Smart Speaker mit digitalen Assistenten, angetrieben von sogenannter künstlicher Intelligenz…. Das mag auf manche wirken wie ein Rückschritt, aber es ist das Gegenteil: „progress of no return“, Fortschritt ohne Wiederkehr. Die Plattformkonzerne, die heute für so viele das Netz sind, erobern die älteste Kommunikationsform der Menschheit: das Gespräch. Und alle machen mit. Alexa regiert Deutschland. www.spiegel.de/netzwelt
Weltmacht Bequemlichkeit. Fortschritt ohne Wiederkehr. Das ist wunderbar formuliert. Aber setzt sich tatsächlich alles, was technisch und spektakulär erscheint, im Lebensstil und Massenmarkt durch? Dann würden wir heute alle mit Flugautos durch die Luft fliegen, Rucksack-Atomkraftwerke nutzen und uns nur noch von Pillen ernähren, wie es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prophezeit wurde. Mit der Denkungsart des technologischen Determinismus hat sich die Zukunftsforschung (und der Feuilleton-Journalismus) schon oft blamiert. Ohne dass es weiter auffiel. Schließlich wurde bald die nächste Super-Technologie durchs Dorf getrieben, die „garantiert“ alles radikal umwälzen wird….
Ich möchte diesem Schwarzweiß-Denken einen anderen Prognose-Ansatz gegenüberstellen: Den Humanistischen Futurismus.
Humanistischer Futurismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Zukunft. Er fragt vom „Humanum” aus, was am Ende der Nutzen, der wahre Fortschritt einer Technik sein wird.
Humanistischer Futurismus sieht die Zukunft nicht als zwangsläufiges Ergebnis von linearen technischen Trends. Sondern als Evolutionsprozess. Mensch und Technik befinden sich in einer ständigen dynamischen Co-Evolution. Menschen adaptieren sich zwar an Technik, aber nie vollständig und immer „ungenau”. Technik passt sich auf dem Wege der Flops und Hypes an menschliche Bedürfnisse an. Der so genannte Exaptations-Effekt (Ablenkung des technischen Pfades) führt dazu, dass Techniken oftmals nicht so genutzt werden, wie sie geplant waren.
Humanistischer Futurismus setzt sich auch mit den „Future Biases”, den Verzerrungen auseinander, denen das menschliche Hirn beim Prognostizieren unterliegt. Wir GLAUBEN gern an das, was wir fürchten. Wir sehen gerne Gespenster an der Wand, wenn das Feuer flackert. Das haben wir in der Ur-Höhle gelernt, in einer Zeit, in der es zum Überleben sinnvoller war, Ängste möglichst dramatisch zu übertreiben.
Humanistischer Futurismus versucht, komplexe Kontexte zu verstehen. Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Aus Trends und Gegentrends entwickeln sich neue Synthesen. Die Zukunft entsteht in lebendigen Wechselwirkungen, in Synthesen und Symbiosen. Um diese zu verstehen, braucht man eine ganzheitliche Sicht der werdenden Dinge.
Meine Prognose zu den Sprachassistenten:
Manche Techniken oder Technologien scheitern am Markt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln. Aus manchem Hype ist über Nacht schon ein Flop geworden. Man denke an Google Glass, diese semivirtuelle Superbrille, die im Massenmarkt scheiterte und heute nur in kleinen Nischen in Gebrauch ist – bei der Lagerarbeit, bei Kampfpiloten. Sprachassistenten werden eine größere Nische erobern, das ist klar. Aber werden sie auch Massen-Geräte, die in jedem Haushalt zu finden sind, wie Kühlschränke oder Dunstabzugshauben oder Fernsehgeräte?
Es gibt Leute, die sprechen gerne mit Maschinen. Aber es gibt auch eine Menge Menschen, denen das auf keinen Fall tun werden. Nicht, weil sie Angst vor BIG BROTHER haben. Sondern weil sie es als extrem unangenehm empfinden.
Das ist das sogenannte Uncanny-Valley-Syndrom – das Tal des Unwohlseins. Wenn man Roboter sehr menschenähnlich konstruiert, dann erzeugt der Umgang mit ihnen ein tiefes Verunsicherungsgefühl. Für Autisten oder Psychopathen, auch für viele Japaner, spielt das keine große Rolle. Aber für andere Menschen erzeugt der Umgang mit einem sehr menschenähnlichen Roboter ein existentielles Schwindel-Gefühl. Das liegt daran, dass wir von der Evolution auf die verlässliche seelische Wahrnehmung eines Gegenübers geprägt sind. Wir wollen wissen, ob wir es mit einem echten Menschen zu tun haben. Einem Geist oder einer Person. Unser soziales Hirn ist darauf angewiesen, diese Unterscheidung zu treffen. Für unsere Psyche geht es hier ums Überleben.
Sprachassistenten erzeugen ziemlich schnell eine personale Illusion. Kinder fragen Siri sofort nach ihrer Lieblingsfarbe und ihren besten Freunden. Menschliche Stimmen führen sofort zu einem hohen „Anthropomorphing”-Effekt – wir projizieren menschliche Eigenschaften in die Maschine hinein. Und hier liegt das erste Paradox dieser Technologie: Je „klüger” die Assistenten werden, desto irritierter reagiert unsere Psyche.
Obendrein erzeugen Sprachassistenten ein hohes Maß an sozialer Interferenz. Sie stören, wenn mehrere Menschen im Raum sind die feinen Abstimmungen der sozialen Kommunikation. Im Auto und in Single-Haushalten funktionieren sie ganz gut. Aber wenn man nicht allein ist, führen sie zu Aufmerksamkeits-Problemen: Mit wem redest Du? Flirtest Du mit mir oder mit Siri? Computerpsychologen haben dafür den Namen Camilla-Syndrom erfunden.
Das zweite Hindernis für einen breiten Massenmarkt ist die Komplexität. Wenn man das Licht oder die Musik steuern will, muss das Gerät mit Spotify und dem Lichtbus-System verbunden sein. Dadurch eignet es sich auf Dauer nur zum Gebrauch in hochvernetzten Haushalten. Der Markt für „Smart Homes” kommt aber nur langsam in Gang. Aufwand und Wartung, die ständige Neuprogrammierung von „intelligenten Häusern” erfordert immer noch enormen Zeit- und Aufmerksamkeits-Aufwand.
Mechanische Lichtschalter liegen inzwischen übrigens wieder im Trend.
Das dritte Hindernis für einen Massenmarkt der Assistenten möchte ich die „Kommunikative Disruptions-Illusion” nennen. Wir glauben fälschlicherweise, dass alle neuen Kulturtechniken die alten komplett abschaffen. Doch das Fernsehen hat nicht das Kino abgeschafft, die Zeitung nicht das Flugblatt, Videotelefonie nicht das akustische Telefonieren, und das E-Book nicht das analoge Buch auf Papier. Der Buchumsatz hat in den letzten Jahren nur um wenige Prozent abgenommen, und wenn nicht alles täuscht, erlebt das Lesen demnächst eine Renaissance. Und so wird das Reden mit Computern nicht die anderen Eingabemedien ersetzen.
„Eine neue Kommunikationsform verdrängt eine alte nicht, sondern führt diese auf ihre eigentliche Stärke zurück”.
Wolfgang Riepl, ein Historiker, formulierte das bereits 1909. So hat das Internet zwar das Fernsehen disruptiert, aber auch zu epischen Erzählweisen (zurück)geführt. Das Netz hat die alten Zeitungen zerlegt. Aber nun erlebt Qualitätsjournalismus eine Renaissance. Ebenso wie der Füllfederhalter.
Sprachsteuerung erscheint im ersten Moment enorm convenient: man braucht kein Interface und keine Finger mehr, wie schön! Aber das Interface „Mund und Hirn” ist komplizierter als man denkt. Im Dialog mit diesen Maschinen muss man formulieren, was man will, oder zu wollen glaubt, man muss ständig argumentieren, neuformulieren, modulieren…
Wissen wir überhaupt, was wir fragen wollen? Wissen wir, was wir wollen?
Vielleicht wird am Ende alles ganz banal. Ich vermute, dass den meisten Käufern die intelligenten Assistenten schnell langweilig werden. Auch wenn Millionen verkauft werden und maschinelles „deep learning” angeblich bald jede Frage beantwortet, halten sie nicht, was sie versprechen. Oder sie gehen einem mit ihrer Halbmenschenart auf die Nerven. Irgendwann stehen sie nur noch auf der Kommode und verstauben. Oder werden nur noch für Insel-Lösungen benutzt, wie das Aufrufen der Musik-Bibliothek. Dann wandern sie, wie so viele unserer intelligenten Gadgets, in den Keller. In die Schublade mit dem Elektronik- und Digitalmüll. Haben sie mal in ihre eigene digitale Entsorgungskiste geschaut, was da alles schon drin liegt? iPods und iWatches, unzählige Bluetooth-Lautsprecher und WLAN-gesteuerte Zahnbürsten, Black Boxes und Top Boxes, jede Menge intelligenter Fitnessbänder (auch das ein Markt, der einmal einen Mega-Markt versprach). Und Kabel, Kabel, Kabel, obwohl wir doch längst in der drahtlosen Zeit leben (sollten).
Humanistischer Futurismus ist auch die Kunst, mit technischen Desillusionen zu leben. Und dabei trotzdem die Zukunft zu sehen.
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„Er musste erst mit dem Kopf gegen die Bäume rennen, ehe er merkte, dass er auf dem Holzweg war.”
Wilhelm Busch
Wenn sich das Jahr rundet, fassen viele Menschen gute Vorsätze. Man kann geteilter Meinung sein, ob das sinnvoll ist. Aber auch ich möchte am Ende dieses Jahres 2017 einen Vorsatz fassen:
Ich möchte in Zukunft BESSER IRREN!
Am Jahresende kommen viele Journalisten zu mir. Und wollen wissen, was denn das Jahr 2018 so „bringen wird“. Als handele es sich bei der Zukunft um eine Art Bescherung. Dabei wird mir als Erstes keine Frage häufiger gestellt als diese: Wie oft haben Sie mit ihren Prognosen danebengelegen?
Das ist einerseits eine sehr verständliche Frage. Gleichzeitig ein bisschen naiv. Ebenso könnte man einen Politiker fragen, wann er denn gerade geschwindelt hat, einen Richter, wann er ein Fehlurteil gesprochen hat, oder einen Journalisten, wo er gerade die Wahrheit verdreht hat. Wir sind alle “self-biased”: Wir können uns, selbst wenn wir es wollen, nur schwer selbst einschätzen. Vor allem, wenn es um die Wahrheit geht (frei nach Karl Valentin).
Das Seltsame ist, dass die Journalisten eigentlich nicht das geringste Interesse an der Antwort haben.
Ich weiß nicht, woran das liegt. Aber immer, wenn ich anfange zu antworten, wenden Sie sich schon rein körperlich ab. Der Stift, mit dem sie sich Notizen machten, senkt sich müde der Stuhllehne zu. Dann verschwindet er irgendwie in der Jackentasche. Sie wechseln das Thema.
Was ist denn nächstes Jahr denn so angesagt?
In diesem Moment ahne ich, dass es bei der Zukunft gar nicht um die Zukunft geht.
Und bei Prognosen eigentlich nicht um Prognosen.
Aber um was dann?
Vielleicht ist es die wahre Aufgabe des Futuristen, möglichst sinnvoll zu irren.
Hier also mein erster Irrtum:
Im Jahr 2005 habe ich auf einer öffentlichen Veranstaltung gesagt: Von Facebook wird in 5 Jahren niemand mehr reden!
Zu meiner Verteidigung kann ich nur die damalige Lage anführen: Der “Neue Markt” war 2001 mit dem ersten Digital-Crash zusammengebrochen. Die digitale Revolution fraß – einstweilen – ihre Kinder. Es herrschte eine Art Wildwest-Atmosphäre, in der sich schnell neue Startups gründeten, die rasch wieder verglühten. Internet-Giganten wie AOL, MySpace, Yahoo waren an einem Tag riesig, am nächsten Tag wurden sie schon aufgekauft oder gar eingestellt.
Ich ahnte damals, dass mit Facebook ein riesiges Problem auf uns zukommen würde. Es war klar, dass Facebook eine monopolitische Strategie verfolgen würde – ein riesiger Datenstaubsauger. Und dass der Algorithmus der Sozialen Netzwerke fatale Auswirkungen auf unsere kommunikativen Strukturen haben würde. Shitstorm und Cybermobbing, Hass-Speech und Verschwörungs-Blasen – Netz-Narzismus und digitale Dumpfheit – all das war schon am Horizont absehbar. Facebook basiert auf einem kommunikativen Feedback-Fehler. In der Herrschaft der Likes entsteht lediglich die ILLUSION von Beziehung. 1.000 Freunde sind keine Freunde mehr. Das aber muss früher oder später ins Unglück, in den Hass oder den Fake führen.
Ich war zornig, dass meine geliebte digitale Revolution erhebliche Nebenwirkungen zu zeigen begann. Ich unterschätzte völlig den Plattform-Effekt – jene Magnetwirkung, mit der unweigerlich alle Nutzer auf EINE Plattform gesogen werden. Ich ging davon aus, dass sich in der Dynamik der Startup-Kultur die “richtigen” Sozialen Netzwerke durchsetzen würde – Firmen, die von echtem, humanistischen Enthusiasmus getragen wurden. Die sich Gedanken über die Folgeschäden ihrer Geschäftsmodelle und Codes machen würden. Und sie korrigierten. Wishful Thinking.
Ein typischer blauäugiger Prognose-Fehler: Man wünscht sich etwas. Man hofft auf den Sieg des Guten. Man moralisiert. Man erklärt zur Zukunft, was man präferiert.
Mein zweiter Zukunftsfehler, vom dem ich berichten möchte, fand auf politischem Feld statt. 2014 war ich zu einem Kamingespräch einer konservativen deutschen Partei eingeladen. Im kalten Januar saß ich mit etwa 100 Parteimitgliedern, dabei einige Landtags-, Europa-, Bundestagsabgeordnete, vor einem Kamin, in dem allerdings kein Feuer brannte. Das Thema lautete “Die Zukunft der Politik”.
Vorsichtig tastete ich mich vor. Ich versuchte, die Möglichkeiten einer systemischen Politik anzusprechen. Das Zeitalter von Links und Rechts, so meine These, geht zu Ende. Die alten Spaltungen der politischen Lager, die das Industriezeitalter geprägt hatten, sind obsolet geworden. Das ist der Grund für die derzeitige politische Verwirrung: Die alten Achsensysteme des Politischen funktionieren nicht mehr, die Verantwortungs-Ebenen stimmen nicht mehr mit der globalen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts überein. Ich stellte den Begriff der GLOKALisierung vor. Nach der Parole “Global denken, lokal handeln”, würde sich in der Zukunft eine neue SYNTHESE zwischen dem Globalen und dem Lokalen, zwischen Heimat und Weltoffenheit, Lokalität und Universalität durchsetzen.
Dabei wird politische Macht einerseits an die höhere, europäische, andererseits an die lokale Ebene abgegeben. Im Lokalen ist Demokratie erfahrbar, konkret und praktisch, ein Bürgermeister als Ideologe ist immer fehl am Platz. Das Nationale hingegen ist den großen globalen Problemen nicht mehr gewachsen und muss deshalb an Wichtigkeit verlieren. Würde nicht auf Dauer ein Europa der Regionen mehr Sinn machen als der ewige Streit der Nationen? Und ist das nicht auch die Grund-Idee des wahrhaft Konservativen – Subsidiarität?
Ich biss auf Granit.
Im Publikum saßen eine Menge junge Männer mit Seitenscheitel und strammem Blick. Sie meldeten sich der Reihe nach zu Wort. Und insistierten mit scharfer Stimme, dass doch wohl eher das NATIONALE die Zukunft des Politischen ausmachen würde! Der Nationalstaat sei nun mal das originäre Gefäß, in dem Geschichte gestaltet wird! Europa – es war die Zeit der Griechenlandkrise – sei ein künstliches, bürokratisches Konstrukt!
Die feschen Jungs sollten recht behalten. Die Polarisierung zwischen den ideologischen Lagern ist in den letzten Jahren zurückgekehrt. Der Nationalstaat erlebt in einigen europäischen Ländern eine reaktionäre Renaissance, und Trump hat mit seinem „Amerika zuerst!“ eine Zeitenwende eingeleitet.
Wie man sich doch irren kann…
Oder doch nicht?
Der dritte Irrtum betrifft den Kern-Schauplatz des Futurologischen: die Technologie. Dazu muss ich – zum besseren Verständnis – sagen: Ich bin ein Digital Native der ersten Stunde. Meinen ersten Computer, einen C64, kaufte ich in den 80-er Jahren. Ich habe sogar ein bisschen Programmieren gelernt (heute nennt man das „coding“). Ich bin in keiner Weise technikfeindlich, war immer ein glühender Verfechter der digitalen Möglichkeiten.
Und gerade deshalb skeptisch, ob alle Versprechungen des Technologischen immer auch so eintreten, wie sie uns verkauft werden.
In meinem Buch “Technolution” von 2008 wurde diese Skepsis in Bezug auf das iPhone deutlich, das gerade auf den Markt gekommen war:
„In der Tat hat die Idee eines All-in-One-Gerätes etwas Plausibles. Trotzdem bleibt es, so meine These, eine Missgeburt der Innovationsgeschichte, eine Monstrosität… Komplexität hat Folgekosten, die in sinkendem Grenznutzen von Einzelfunktionen bestehen. In der Natur gibt es nur wenige überlebende Universalisten (zum Beispiel den Menschen). Wer im Baumarkt Werkzeuge kauft, denkt oft daran, die Vielzahl der benötigten Geräte zu reduzieren. Er erwirbt Kombigeräte, Zangen, die Schraubenzieher im Griff haben. Bohrmaschinen, mit denen man auch hämmern, schleifen kann. Die Erfahrung ist immer die Gleiche: Nach ein, zwei Jahren liegt das Kombigerät in der hintersten Ecke des Werkzeugschranks, während der alte Hammer mit dem abgesplitterten Griff immer noch benutzt wird.” (Technolution S. 59)
Tatsächlich ist das Smartphone DIE Universalmaschine unseres Lebens geworden – vom Kalenderführen bis zum Pulsmessen, vom Zahlmittel bis zur Meditations-Uhr, vom Bordkarten-Lesegerät bis zur Schlafhilfe… WO hatte ich falsch gedacht?
Oder hatte ich gar nicht SO falsch gedacht?
In seinem aktuellen TED-Vortrag „Why our screens make us less happy” schlägt Adam Alter vor, EINZELNE Funktionen des iPhones abzuschalten. “Am Wochenende nur auf Flight Mode. Dann kann man noch die Kamera verwenden, aber sonst nichts.”
Frenetischer Beifall. Ich kenne in meinem Bekanntenkreis bereits -zig Leute, die sich demnächst ein einfacheres Smartphone, ja sogar wieder ein „Handy“ kaufen wollen, oder nur noch bestimmte Funktionen benutzen. Keiner, den die endlosen Code-Eingebungen und Störungen, die das universelle Smartphone mit sich gebracht haben, nicht zutiefst nerven würden.
Was derzeit boomt, sind Füllfederhalter. Büttenpapier. Polaroid-Filme kommen wieder. Vinyl-Platten. Bibliotheken. „Die Rückkehr des Analogen“ haben wir diesen Trend genannt.
Könnte es sein, dass man eine Prognose nur hartnäckig so lange aufrechterhalten muss, bis sie dann irgendwann DOCH NOCH eintritt?
So einfach ist es sicher nicht. Aber hinter einer Prognose steckt immer ein System – ein weiterreichender Zusammenhang. Eine Prognose ist ohne System wertlos. Und vice versa.
Facebook, revisited.
Mehr als ein Jahrzehnt nach meiner blauäugigen Fehlprognose mehren sich die Anzeichen für einen Tipping Point. Viele Nutzer sind so genervt von den Zumutungen der sozialen Medienwelt, von den Nervositäten und Verheerungen, die das ständige „Ich bin da!“ in unserem Alltag anrichten, dass sie sich wieder verabschieden. Dass viele Accounts veröden, schlägt sich in der Statistik noch kaum nieder. Aber man kann spüren, dass der Hype seinen Zenit überschritten hat.
Nach der russischen Beeinflussung der US-Wahl kann Facebook den Hass und die Desorientierung, die sein Algorithmus hervorruft, nicht mehr leugnen. Das Konstrukt „Wir sind für die Inhalte nicht verantwortlich!“, mit dem Facebook jahrelang operierte, neigt sich dem Ende zu.
In diesem Jahr, 2017, meldeten sich ehemalige Facebook-Manager zu Wort, wie Chamath Palihapitiya, der öffentlich bekundete, dass Facebook „die Gesellschaft auseinanderreißt“. Sean Parker, einer der Gründer, sagte in einem vielbeachteten Interview, „den Facebook-Gründern sei von Anfang an bewusst gewesen, dass das soziale Internet die Psyche von Menschen manipuliere. Aber wir haben es trotzdem gemacht!“ (siehe: www.faz.net)
„Soziale Medien nutzen eine Schwäche in der menschlichen Psyche aus. Sie ändern unseren Umgang mit der Gesellschaft und untereinander. Der Dopamin-Kick durch die unmittelbare soziale Bestätigung wirkt toxisch auf unsere Seelen. Gott allein weiß, was das mit den Gehirnen unserer Kinder macht.“
Sudan Wu, einer der Ur-Investoren von Silicon Valley, äußerte sich kürzlich in einem flammenden Aufruf im digitalen Zentralorgan WIRED:
It’s crystal clear that Silicon Valley’s chief executives are no longer merely startup founders… They’re societal leaders too, oligarchs shaping the very nature of our identities, communications, and relationships. In a world where software and algorithms run almost every part of our lives – where Google and Facebook control close to 70 percent of all digital advertising, and smartphone penetration is nearing 80 percent – creating innovative software and launching indispensable apps is no longer enough. Racking up a stratospheric market valuation without significant consideration of the product or company’s broader societal impact is reckless and irresponsible.
Es ist kristallklar, dass die Chefs von Silicon Valley nicht mehr nur einfach Startup-Gründer sind… Es sind gesellschaftliche Führer, Oligarchen, die die Natur unserer Identitäten, Kommunikationen und Beziehungen formen… In einer Welt, in der Software-Algorithmen bald jedenTeil unseres Lebens formen, Google und Facebook 70 Prozent des digitalen Anzeigengeschäfts dominieren und Smartphones eine Abdeckung von 80 Prozent erreichen, ist es nicht mehr genug, innovative Software und unverzichtbare APPS zu produzieren. Eine übermächtige Marktmacht anzuhäufen ohne den breiteren sozialen Impact des Unternehmens zu berücksichtigen, ist rücksichtslos und unverantwortlich!
Im Netz tobt endlich eine riesige Debatte und auch die Politik reagiert. Oder WIRD reagieren. Facebook wird nicht verschwinden, aber dieses riesige „Menschenexperiment“ (Elke Schmitter) wird in eine neue Stufe übertreten. Allein in Berlin wurden 1.500 „Hass-Moderatoren“ eingestellt. Es scheint heute nicht mehr unmöglich, dass sich eine echte Alternative zu den Datenkraken entwickelt. Dass Staaten die digitalen Plattform-Konzerne einschränken oder gar zerschlagen.
Und der home-run des Nationalismus? Auch hier gibt es paradoxe Wirkungen. Der BREXIT hat die Zustimmung zu Europa eher erhöht; ausgerechnet im neonationalistischen Polen liegt die Zustimmung der Bevölkerung für das europäische Projekt bei 75 Prozent. Und die neuen Separatismus-Bewegungen? Nein, das muss nicht heißen, dass wir einen neuen europäischen Bürgerkrieg schlittern. Jakob Augstein schrieb in seiner SPIEGEL-Kolumne im Oktober 2017:
Die Katalanen zeigen eben nicht die hässliche Fratze des Nationalismus, sondern lassen ihre Nationalfahnen bei „Refugees Welcome“- Demonstrationen wehen. Von wegen dahrendorfsche Dystopie der Stammesgesellschaft. In Barcelona wird ein fröhlicher, moderner, pluralistischer Patriotismus gefeiert, der seine Heimat im Herzen Europas finden will!“
Produktives Zukunfts-Munkeln:
Man kann sich irren, auch wenn man recht hat.
Damit keine Missverständnisse auftreten: Ich will meine Fehler nicht kleinreden. Ich war blöd, blauäugig, ich lag daneben. Punkt.
Aber je mehr ich im Zukunftsgeschäft tätig bin, desto mehr denke ich aber darüber nach, was der wahre Sinn und Wert von „Prognosen“ ist. Im Rahmen von Management-Consultings habe ich allzu oft erlebt, welche fatalen Nebeneffekte der Glaube an eine einzige präzise End-Prognose haben kann. Nicht selten wünscht sich das Management eine sichere, deterministische Welt – die Konsequenz ist eine Art Planwirtschaft mit sehr kurzfristigen Horizonten.
Wie groß ist denn der Markt für Elektroautos in den nächsten zwei Jahren, Herr Horx? Bitte in genauen Zahlen! Sehen sie! (dann manipulieren wir halt die Abgaswerte…).
Gute Prognosen lassen uns stattdessen mit einer Zukunft in VERBINDUNG treten. Sie lassen uns die Gegenwart aus der Perspektive einer zukünftigen LÖSUNG sehen. Eine gute Prognose leitet Licht durch den Spalt des Wandels und zeigt, welche Prozesse darunterliegen. Gute Prognostik fällt nicht nur eine „Sachprognose“, sondern auch eine „Metaprognose“ – sie beleuchtet die Dualität von Trend und Gegentrend. Sie macht eine Evolutions-Diagnose.
Prognosen sind dann sinnvoll, wenn sie uns helfen, die Welt mit neuen, komplexeren Augen zu betrachten.
Mein Neujahrs-Vorsatz: Ich werde vorsichtiger mit kurzfristigen Zustands-Prognosen sein – und gleichzeitig hartnäckiger, was die systemischen KONTEXTE betrifft.
Ich werde noch besser zwischen (linearen) Trends und (komplexer) Zukunft unterscheiden.
Außerdem warte ich immer noch darauf, dass mich jemand fragt, wo ich denn RECHT hatte…
Aber das ist eigentlich nicht so wichtig. Es geht ja nicht ums Rechthaben. Es geht um besser irren! Schöner irren! Endlich RICHTIG irren!
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein erleuchtetes 2018!
Buchtipp:
Großartig ist Jaron Laniers neues Buch „Dawn of the New Everything – über die Entstehung der Virtuellen Realität, die Fehlsteuerung des Internet und die KI-Illusion”. Jaron ist ein Prophet, der den Mut hatte, zu irren – und dabei Recht behielt. Einstweilen nur in Englisch erhältich auf [amazon_link asins=’1627794093′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’582c50c6-0046-11e8-8e77-6387067fdb87′].
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Braucht Deutschland allerschnellstens eine neue Regierung?
Dezember 2017
„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht. Sondern dass man mit neuen Augen sieht.”
Marcel Proust
Auf unserem letzten Zukunfts-Tag hielt die Philosophin Nathalie Knapp eine Rede, in der sie die Kraft der Unsicherheit pries. Dabei deklarierte sie das Publikum zu einer Versammlung von „Göttern“, die über das Wesen der Zukunft Entscheidungsmacht hatten. Sie könnten, wenn sie denn wollten, jede Zukunfts-Unsicherheit nach dem Vortrag einfach per Abstimmung abschaffen. Zack – und für immer wäre alles Unsichere aus der Welt.
Die Briten würden dann nicht für den Brexit stimmen, beziehungsweise gestimmt haben. Der Troll Trump würde nicht zum US-Präsidenten gewählt worden sein, sondern Hillary, die alles so weiter gemacht hätte wie wir es von Amerika gewohnt sind. Die Jamaika-Koalitionäre hätten sich problemlos geeinigt und Deutschland hätte längst eine stabile Regierung.
Unser Partner würde sich immer klar und liebevoll und eindeutig verhalten – niemals käme Zweifel auf, ob und wie die Liebe hält. Die Bankzinsen lägen bei konstant fünf Prozent. Die Bundesbahn würde ihre Züge mit uhrwerkhafter Genauigkeit fahren lassen. Man müsste sich niemals über pubertierende Kinder aufregen, die zu viel Videospiele spielen oder auf Smartphones starren. Und so etwas obskur-monströses wie Bitcoin gäbe es einfach nicht. Geschweige denn „Künstliche Intelligenz“ oder ähnliche Zukunfts-Menetekel.
Wäre das nicht wunderbar? Wenn alles so wäre, wie wir es immer schon erwartet haben, gewohnt sind, uns in unserem Sicherheits- und Kontinuitätsbedürfnis wünschen?
Das ist vielleicht der größte Wunsch unserer Zeit: Dass endlich alles still wird. Das plötzlich alle Unsicherheit einer großen, tiefen Gewissheit weicht. Nichts anderes ist der Kern des alten Weihnachtsmythos.
Wie macht man die Welt wieder frisch?
So lautete hingegen die zentrale Frage des polnischen Philosophen Zygmund Baumann in seinen letzten Lebensjahren. Antwort: Durch ausgehaltene Unsicherheiten.
Unsichere Zeiten, sagte Nathalie Knapp, sind in Wahrheit fruchtbare Zeiten. Sie verändern unseren Blick, wenn wir sie aushalten. Sie ermöglichen uns neue Wahrnehmungen. Plötzlich wird das scharf, was vorher unscharf war. Plötzlich wird sichtbar, was früher unter dem Lärm der Erwartungen verborgen blieb.
Zum Beispiel die Politik. Etwas Überraschendes ist passiert. Obwohl Deutschland keine aktive, sondern nur eine amtierende Regierung hat, fahren die U-Bahnen weiter, fliegen die Flugzeuge, werden Kinder geboren, ringen Firmen um Marktanteile, boomt die Börse. Die Weihnachtsmärkte sind voll mit fröhlichen Leuten, und die Weihnachtsfeiern sind, nun gut, wie immer. Der Euro ist ein kräftiges Zahlungsmittel und eigentlich dreht sich die Erde weiter um die Sonne, obwohl es in den Meinungszeitungen unentwegt raunt, es müsse sogleich eine gigantische Krise über uns fallen, wenn es keine „starke Regierung“ gibt.
Könnte es sein, dass die Gesellschaft in ihrer Selbstorganisation inzwischen viel weiter, viel autonomer und robuster ist, als wir denken? Und die große Politik womöglich gar nicht mehr so existentiell für unser Leben ist, wie uns das in jeder Talkshow, jeder Politik-Diskussion ständig vorgemacht wird?
Wenn man die Unsicherheit aushielt, konnte man sehen: Die Verhandlungen der Jamaika-Koalition sind daran gescheitert, dass zwischen den Parteien immer noch die ideologischen Kriege der Vergangenheit geführt werden. Weltbild-Schlachten, die längst ihren Sinn verloren haben. Und hinter denen nicht selten private, individuelle Nöte verborgen sind. Narzissmen, die sich im Politischen nur tarnen.
Gesellschaftliche Spaltungen werden aus Angst gemacht. Dabei geht es immer um die Frage: Kooperation oder Konflikt. Populismus nutzt den Konflikt, die Bösartigkeit, um die Unsicherheit zu beenden. Es eröffnet sich aber auch ein anderer Weg: Selbstbewusste Gelassenheit. Warum nicht eine Minderheitsregierung probieren, die zu einer neuen Debattenkultur führen könnte, in der man sich gegenseitig mehr zuhören müsste? Warum nicht eine offene Kooperation statt einer Groko? Müssen wir politisch immer im alten Muster weitermachen, bin in alle Ewigkeit?
Reale gesellschaftlicher Entscheidungen, so können wir erkennen, verlagern ihr Standbein zurück ins Lokale, Pragmatische. In einer Gemeinde, einer Stadt, steht der Bürgermeister in einer direkten Beziehung zu den Bürgern. Rechts und Links zählen da wenig. Deshalb gibt es jetzt das „Parlament der Globalen Bürgermeister“, das sich längst entscheiden hat, die Klimapolitik in die eigene Hand zu nehmen. Das Lokale wird als Bezugsgröße der Demokratie wichtiger, und gleichzeitig das Globale. Oder Europäische. Die neue politische Ordnung wird GLOKAL. Heimat und Planet, das sind die wichtigen Achsen unsrer Existenz. Der Nationalstaat ist hingegen in vieler Hinsicht überfordert, zu groß, zu klein zugleich, schwerfällig und anfällig für den populistischen Virus.
Politik neu zu denken, jenseits der ideologischen Bunker, als dynamische MODERATIOn gesellschaftlicher, ökonomischer, technologischer Kräfte – das ist das große Zukunftsprojekt, das den Rückfall in den Nationalismus aufhalten kann. Dabei sind wir nicht am Anfang. Die skandinavischen Länder, die Schweiz, Kanada, die Macron-Bewegung zeigen, wie man vom Jammern und Spalten zu einer neuen Dynamik kommen kann. Macron und seine Bewegung sind weder links noch rechts. Sie sind zukunftsorientiert. Darum geht es. Aber es funktioniert nur, wenn es einen Bewusstseinswandel gibt.
Die Welt wird wieder frisch, wenn wir unsere seelischen Perspektiven ändern. Wenn wir von den Lösungen, nicht den Problemen her denken. Das heißt: der Unsicherheit den Raum schenken, der ihr gebührt. Nur so entwickelt unser Hirn das, wozu es von der Evolution geschaffen wurde: neue Konnektome.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!
Die nächste Kolumne erscheint als Neujahrsbotschaft.
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Wie man den Kopf vom hysterischen Medienmüll wieder frei bekommt – und die Zukunft zurückkehrt.
Dezember 2017
Immer Anfang Dezember gehe ich auf Süßigkeiten-Diät. Diese Lawine an Lebkuchen, Stollen, Plätzchen, die in den Adventstagen unentwegt ins Haus gespült wird, ist des Teufels. Aber nicht, weil ich Süßigkeiten nicht mag, sondern weil das ZUVIEL den Geschmack verdirbt. Es ist wunderbar, WIRKLICH frischen Lebkuchen zu essen! An Weihnachten! Aber nicht, wenn man schon so übersättigt (und überzuckert) ist, dass sich ein breiiges, klebriges Gefühl im Körper und in jeder Pore ausbreitet, so dass jeder Genuss auf der Strecke bleibt.
Ich tue das nicht, um Askese zu üben, sondern aus hedonistischen Gründen (und auch ein bisschen um nicht fett zu werden).
Ähnlich geht es mit mit den Medien. Ich habe mein Leben lang tausende von Büchern gelesen, jeden Tag ein, zwei Tageszeitungen gelesen, so gut wie alle Ausgaben von STERNSPIEGELZEIT, zumindest die wichtigsten Artikel. Ich habe Millionen von Features, Talkshows, Debatten reingezogen. Serien geschaut, alle skandinavischen. Alle SciFi-Filme geschaut. Und dann kamen die vielen, vielen Websites, unendlich viele Studien, all das, was das Netz an Überfülle mit sich bringt – und dann auch noch die Kommentare. Und die Kommentare zu den Kommentaren. Ein Zukunftsforscher muss das alles wissen, kennen, beurteilen, verstehen…
Oder nicht?
Seit etwa einem Jahr, genauer, seit der Wahl von Trump, versuche ich es in regelmäßigen Abständen mit MEDIENFASTEN. Das ist eine echt interessante Erfahrung. Wenn die endlosen Clicks und Links plötzlich aufhören, die Ketten von Erregungen und Gegenerregungen, von Debatten und Streitereien, von Vermutungen, Meinungen und Meinungen über Meinungen, die sich wie eine einzige chronische Entzündung durch unseren memetischen Kosmos ziehen. Wenn die jeweiligen Untergänge plötzlich nicht mehr stattfinden. Weder das apokalyptische Insektensterben, noch die Weihnachtsmarkt-Terroralarme, noch die jeweiligen Deutschland-geht-unter Talkshows bei Maischberger und Co. Wenn all die besorgten Gesichter, die das JEWEILS SCHLECHTE beklagen, betrauern, bestreiten, plötzlich nicht mehr in meinem Gesichtsfeld sind.
Dann, ja dann, kann man plötzlich wieder viel klarer sehen, Sascha Lobo hat mal das schöne Bonmot von der Vermeinung der Welt geprägt. Der öffentliche Diskurs ist ein Minenfeld geworden. Jeder muss etwas meinen, irgendetwas maulen, sich unentwegt aufregen. Meinungen sind wie Entzündungs-Epidemien, die sich gegenseitig hochschaukeln. Aber geht es im Kern eigentlich noch um irgendetwas?
Nein, ich glaube nicht, dass Medien lügen. Es hat sich nur etwas SUBSTANTIELLES in unserer medialen Umwelt verändert. Das Internet hat beschleunigt, was sich schon lange ankündigte: Der mediale Overkill, der sich aus einer simplen Tatsache ergibt. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Hirnen, aber Millionen von Kanälen. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmefähigen, aber Quadrillionen von Schreien nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist die wahrhaft knappe Ressource unserer Zeit. Und wie erregt man Aufmerksamkeit? Durch Übertreibung, Polemik, Beleidigung, Angstmachen, falsche Rückschlüsse. Durch Cliffhanger und das so genannte Clickbaiting, bei dem einen ein kleiner Bissen vorgeworfen wird, als Appetitanreger, irgendwas mit kleinen Kindern, Sex oder Tieren oder Unfällen…
Hör mir zu, sagen die Schlagzeilen, ich bin wichtig! Angela Merkel ist am Ende. Oder vielleicht nicht!
Schalt mich ein und bleib dran, sagt die Talkshow (oder der Tatort am Sonntag). Alles wird schlimm, und immer schlimmer!
Klick mich an, sagen die Milliarden von Info-Bruchstücken, die mir etwas über niedliche Katzen, die von Autos überfahren werden, oder die Liebesprobleme Jugendlicher und weiblichen Orgasmus versprechen. Websites wie FOCUS und STERN sind darin besonders übel.
Klick mich an, sagt das hartnäckige Banner, das mir unentwegt auf dem Bildschirm kleben bleibt, damit ich irgendeinen idiotischen SUV anschaue oder einen Telefontarif für nix, aber auf drei Jahre fest, kaufe.
Hass mich, sagt der Troll in seinem Hating-Kommentar. Denn er sehnt sich so unendlich nach Anerkennung, nach GESEHENWERDEN, dass er sich unentwegt rüpelhaft benehmen muss. Immerhin damit kann er Wirkung erzeugen. Und wie!
Natürlich kann man gar nicht „ohne” Medien leben. Das würde der Kopf gar nicht aushalten. Deshalb nutze ich für meinen (meist einmonatigen) Exodus aus der Erregungsspirale eine strenge Auswahl von seltenen, selektiv gewählten Medien, sozusagen Almased für den Erregungsentzug. Die teilen folgende Eigenschaften:
Sie sind nie alarmistisch, sensationell oder „clickbaiting”-verseucht.
Sie sind nicht grundpessimistisch. Sie zeigen auch das Schöne, ohne Negatives zu leugnen.
Sie verbreiten etwas Nachdenkliches und Liebevolles gegenüber der Welt.
Sie wollen mir nicht ständig irgendetwas verkaufen.
Sie sind meistens analog auf Papier, aber nicht nur.
Hier meine Diät-Medien:
Monocle – Website, Magazin und „Monocle Minute”
Die Stil- und Cool-Plattform Monocle, in deren Mittelpunkt der globale Flaneur Tyler Brûlé steht, ist zu einem großen und starken Medien-Imperium geworden. Vordergründig geht es immer um die kreativen Hotspots der Welt, um Mode, Design, tolle Läden, Cafés, Bars von Vancouver bis Shanghai (auch mal Tübingen). Aber MONOCLE hat sich inzwischen zu einer Nachrichtenagentur für die Kreative Klasse gemausert. Man hat den Ehrgeiz, eine globale Voll-Zeitung zu werden und das gelingt immer besser. MONOCLE bringt Berichte über Nordkorea ebenso wie die schönsten neuen Designhotel-Besprechungen. Monocle-Lektüre macht immer Lust auf Menschen, Berührung, Wirklichkeit – und Verbesserung. Die Plattform zeigt die Welt aus der globalen Metaperspektive, wobei auch Armut, Krieg und Elend nicht ausgeschlossen, aber IMMER in Würde und Hoffnung gezeigt wird. Alles ist Kultur, oder kann Kultur werden, alles ist Feuilleton im konstruktiven Sinne. Vielleicht ist dieser Zukunftsoptimismus das einfach „the gay way of feeling”, aber für mich (Hetero) hat es heilsame Wirkung. https://monocle.com
Perspective Daily
Deutschlands einzige Website für Konstruktiven Journalismus. Die Plattform bringt einmal am Tag einen locker geschriebenen Text darüber, dass nicht alles schlechter wird, auch wenn es oft so scheint. Oft haben die Texte einen kognitionspsychologischen Hintergrund und zeigen uns unsere „cognitive biases” auf, unsere Fehl-Filter beim Weltbetrachten. https://perspective-daily.de
Brand Eins
Es ist immer noch ein Phänomen, wie die Wirtschaftszeitung mit der höchsten verkauften Auflage und den wenigsten Anzeigen so wunderbare kluge Texte präsentiert. In diesem Magazin, das irgendwie nur Offline geht, wird selbst Herr Müller von der Prokura-Abteilung zu einem Superhelden der Neuen Ökonomie. Das Schöne ist, dass hier noch nicht mal der Versuch gemacht wird, mit schrillem Sensationismus und populististischer Übertreibung (wie etwa in der Wirtschaftswoche) zu arbeiten. Alles ist echt, authentisch, und wenn man sich hineinliest, das Gegenteil von sterbenslangweilig (wie es sich zunächst anfühlt). www.brandeins.de
NZZ –Neue Zürcher Zeitung
Von allen Tageszeitungen ist die NZZ immer noch diejenige, die (fast) allen Negativ-Trends des Medialen widersteht. Auch die Art und Weise der Debatte ist auf eine genuin-stoische schweizerische Weise un-hysterisch, ja stoisch und irgendwie sehr cool. Die NZZ glaubt kaum eine der apokalyptischen Übertreibungen, die die Debatten- und Politikteile der deutschen Medien füllen. Als neulich wieder einmal eine Studie „bewies”, dass der Anteil der Muslime in Deutschland steigen wird, berichteten die deutschen Leitmedien AfD-gerecht auf ihren Titelseiten. Der entsprechende Text in der NZZ hatte die Überschrift. „Wir geraten nicht unter die Herrschaft des Halbmonds – die wachsende Anzahl der Muslime in der Schweiz ist kein Grund zum Alarmismus.” Das muss man erstmal können. www.nzz.ch
Diese beiden Bildbände zeigen, wie schön die Welt in ihrer bunten Widersprüchlichkeit und Lebendigkeit tatsächlich ist. Schönheit wird unterschätzt; sie ist ein Wegweiser in die evolutionäre Zukunft.
Und wer wirklich unter Weltuntergangs- und Der-Mensch-ist-immer-schlechter-Depression leidet, dem seien die beiden Paddington-Bär-Filme empfohlen. Geheimmedizin gegen den inneren Apokalyptiker, wirkt garantiert nicht nur für Kinder!
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Am 4. Dezember erscheint der neue ZUKUNFTS-REPORT 2018, das Jahrbuch des Zukunftsinstituts. Einige Texte und Thesen habe ich in den letzten Wochen in dieser Kolumne vorgestellt. Hier nun als Abschluss der Vorschau das Editorial:
Über Resonanz, den Schlüsselbegriff unserer Epoche
Übertreibung ist die Wahrheit,
die ihre Laune verloren hat.
Khalil Gibran
Gibt es so etwas wie ein Schlüsselwort unserer Epoche, ein Codewort, das uns die Phänomene der Gegenwart erschließen kann? Ja, das gibt es: RESONANZ!
Der Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem gleichnamigen Werk die Resonanz als Grundlage unserer Weltbeziehung entschlüsselt. Vom ersten Atemzug an wollen wir wahrgenommen, gesehen, erkannt werden. Ob wir im Leben Glück erleben, hängt fundamental mit unserer Wirksamkeit zusammen. Kunst, Kultur, Musik, Gespräch, selbst das gemeinsame Essen verbinden uns mit der Welt, den Anderen, der Zukunft. Resonanz ist die Grundlage jener Lebendigkeit, die uns befähigt, die Lebens-Angst zu überwinden. Liebe und Spiritualität erschließen schließlich jene Resonanzen, die über unser Selbst hinausweisen.
Heute leben wir in einer doppelten Resonanzkrise. Einerseits zerfallen in der globalen Konnektivität alte Bindungen und Gewissheiten; so entsteht ein Verlorenheits-Gefühl, das leicht in Zorn und Hass umkippt. Gleichzeitig leben wir plötzlich mitten in einem gigantischen medialen Hyper-Resonanzraum, der uns mit seinen unendlichen Reizen in einen Zustand ständiger Über-Erregung versetzt. Die „sozialen“ Medien mit ihren LIKES und WANTS und SMILES greifen dabei tief in unsere Resonanz-Sehnsüchte ein. Sie erzeugen unaufhörlich Resonanz-Simulationen, die sich immer wieder als Illusionen, Selbsttäuschung oder nackter Betrug herausstellen.
Elke Schmitter beschrieb das in ihrer SPIEGEL-Kolumne so: „Die historisch vorbildlose Öffentlichkeit im Netz hat keine Ränder; Fiktive Beziehungen, die aus Projektionen bestehen; Offenbarungen ohne leibliches Gegenüber – das Gegenteil all dessen, worin wir Menschenwesen trainiert sind: zu identifizieren, wer da spricht, in einer geteilten Situation, die auf Resonanz gegründet ist.”
Der alte Wortzauberer Peter Sloterdijk hat das die Dünnwandige Welt genannt. Alles scheint mit Allem zusammenzuhängen. Alles schaukelt sich hoch. Entzündet sich. Irgendwann erscheint das Leben wie eine einzige Fehlermeldung. Das Resultat sind die mentalen Panik-Epidemien unserer Tage, jene „Mindwars”, in denen Gerüchte, Lügen, Übertreibungen, Hysterien blühen. Da ist der Populismus mit seiner viralen Bösartigkeit. Die Trolls im Internet, die ihre unerlöste Sehnsucht nach Wirksamkeit durch Hasstiraden und Abwertung anderer erfüllen. Dem Selbstmord-Terroristen wird im globalen Medien-Echo endlich jene Aufmerksamkeit, ja Anerkennung zuteil, die ihn sonst nie erreichte. Auch der schlecht gelaunte Moralismus der „political correctness” speist sich in Wahrheit aus (innerem) Resonanzmangel.
Gegen den Wahn unserer Zeit hat sich inzwischen Widerstand formiert; die ACHTSAMKEITS-Bewegung. Als Antwort auf die medial-kollektiven Hysterien versuchen immer mehr Menschen, den fatalen Reiz-Reaktionsmustern zu entkommen. „Nicht alles glauben, nicht alles fürchten, nicht alles liken!” – wie neulich ein erleuchteter Freund formulierte. Es geht um mentale Techniken der Gelassenheit. Natürlich kann man das leicht als „spritualistisch” oder weltfremd verdammen. Aber es geht um nichts anders die Rückgewinnung der Selbstwirksamkeit, der inneren Integrität.
So ist das oft: Die wahren Zukunftstrends entwickeln sich als Gegenbewegung gegen die Krisen der Zeit. Für das hypervernetzte Zeitalter brauchen wir neue innere Tugenden. Wie können wir in Unsicherheiten das Schweben üben? Welche Zukunfts-Sportarten erfüllen unser Bedürfnis nach Resonanz? Wie könnte ein neues Europa vernetzt und verbunden sein? Gibt es eine neue „Smart-Gott” – Spiritualität? Kann Heimat modern sein? Aus diesen-Fragen heraus spüren wir ins Jahr 2018 hinein. Und wie immer weit darüber hinaus – in die menschliche Zukunft.
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Neuro-Futurismus ist eine Weiterentwicklung der Zukunftsforschung, die sich mit der Art und Weise beschäftigt, wie wir mental Zukunft konstruieren – und wie diese Konstruktionen auf uns rückwirken und wiederum die reale Zukunft beeinflussen können.
Menschen sind Zukunfts-Wesen, weil sie von der Evolution zu Voraus-Sehern geprägt wurden. Unser großes Hirn macht es möglich und unabwendbar, dass wir uns ständig das Kommende vorstellen. Dies dient letztendlich dazu, unsere Möglichkeiten zum Verbessern der Lebenssituation auszuloten und unsere Chancen zum Überleben zu erhöhen.
Unsere Vorstellungen der Zukunft sind jedoch stark von inneren Klischees und „Biases” – kognitiven Verzerrungen – geprägt. Beim Vorwärtsschauen schauen wir in Wirklichkeit immer in die VERGANGENHEIT. Die australische Kognitionspsychologin Donna Rose Addis erforscht in ihrem „Memory Lab” seit vielen Jahren, wie sehr Erinnerung und Zukunfts-Vision zusammenhängen. Im Hirnscanner sind erstaunlicherweise beide Vorgänge kaum zu unterscheiden. Um den guten, alten Däniken zu zitieren: WIR ERINNERN UNS AN DIE ZUKUNFT! Wir projizieren ALTE Vorstellungen in das Morgen hinein. Dabei spielen vor allem Ängste, Befürchtungen und „gewitterte Gefahren“ eine Rolle.
Im Laufe der sozialen Evolution haben sich fundamentale Zukunfts-Mythen herausgebildet – Utopien und Dystopien spiegeln gesellschaftliche Ängste oder Sehnsüchte wieder. Solche Narrationen wirken auf dem Wege der self-fulfilling prophecy oder der self-denying prophecy auf die Wirklichkeit zurück. Sie dienen als „Pro-Gnosis” – als Vor-Schöpfung kommender Realitäten. Wir erzeugen auf vielfältige Weise jene Zukunft selbst, die als wahrscheinlich, zwingend oder befürchtet erscheint.
Der Neurofuturismus sieht die Zukunft nicht als einen objektiven Zustand, der durch „Voraussage” entschlüsselt werden muss. Sondern als Ergebnis von Bewältigungs-Prozessen, in denen Menschen neue Möglichkeitsräume erschließen. In dieser Betrachtung ist Zukunft keine Kategorie, sondern eine evolutionäre FÄHIGKEIT. Eine KOMPETENZ: Das ZUKÜNFTIGE entsteht in uns selbst als „prä-diktischer“ Prozess. Die Zukunft dient dabei als SPIEGEL, in dem wir uns selbst besser erkennen können.
„Die Größten Zukunftsirrtümer entstehen aus der Verwechslung von Metaphern und Prophezeiungen.”
Marina Warner
Über den feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen „Zukunft” und dem „Zukünftigen”.
Die Zukunft:
Ein imaginierter, fixierter Zustand in einem bestimmten Zeit-Ausschnitt und Wirklichkeitsbereich. Da man sich „die Zukunft” in ihrer ganzen Komplexität nicht wirklich vorstellen kann, nimmt man irgendein Symbol, etwa den „Roboter” oder das „Flugauto” oder auch den „Digitalen Diktator”, um die kognitive Differenz zum Heute zu definieren. Zukunftsbilder sind illustrative Narrative, das heißt sie wirken nur durch ihre Erzählungskraft und finden ausschließlich im Hirn statt. Sie basieren meist auf Einengungen von Teilbereichen des Lebens, auf Ideologismen und Be-Fürchtungen, etwa durch Überbetonung von Technik oder des Katastrophischen.
Das Zukünftige:
Ein Wort, der sich durch die Begriffe „Potential” und „Latenz” am besten erschließt. Das Zukünftige ist das „mögliche Bessere”, das bereits latent in der Gegenwart angelegt ist und zur Entfaltung drängt. Das Zukünftige selektiert die Zukunft als Verbesserung, als das Komplexere und Schönere, als QUALITATIVES neues Ergebnis von (sozialer, kultureller, ökonomischer) Evolution.
Im Unterschied zur „Zukunft“ ist das Zukünftige immer REAL in dem Sinne, dass es mit dem Bestehenden verknüpft ist; es ist „die Zukunft in Verbindung”. Die Zukunft „kommt auf einen zu” oder „über uns”, sie ist kaum beeinflussbar. Das Zukünftige hingegen entsteht durch unsere Erkenntnisse und Entscheidungen – aus unserer inneren Verbindung zum Werdenden und zum Wandel.
„Die Zukunft verursacht die Gegenwart. Die Zukunft kann nämlich ganz grundsätzlich nur deshalb aus der Gegenwart wachsen, weil ebendiese Gegenwart bereits vom Licht der möglichen Zukunft genährt wird.”
Nathalie Knapp
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Was passiert, wenn der Trend zur Hyper-Urbanisierung sich wieder umdreht?
Dann enstehen neue, spannende Synthesen zwischen dem Ländlichen und dem Urbanen. Die Keimzellen dieser „Urbanen Ruralität” sind heute schon sichtbar.
Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Zukunftsreport 2018.
Ist der ländliche Raum dem Untergang geweiht? So scheint es. Unablässig erhöht sich die Leuchtkraft der Städte. Unwiderruflich wachsen die „Schwarmstädte“, in denen Kreativität und Komplexität ein abwechslungsreiches Leben bieten. Während der Megatrend Urbanisierung Menschen, Ideen und Arbeit in die Metropolen saugt, fallen gleichzeitig ganze Landstriche der Ödnis, Frustration und Verlassenheit anheim. In den aufgelassenen ländlichen Flächen verabschiedet sich die Zukunft in eine ewige Rückständigkeit. Schulen werden geschlossen, Buslinien gekappt, ärztliche Versorgung wird eingestellt. Populismus grassiert.
Aber ist wirklich alles so eindimensional und hoffnungslos?
Zum Basiswissen der Zukunftsforschung zählt auch die Erkenntnis, dass jeder Trend irgendwann einen Gegentrend erzeugt. In den nächsten Jahren wird sich deshalb die Sehnsucht in Richtung Urbanität wieder umkehren: Dörfer, Kleinstädte und Regionen können eine Renaissance erleben. In den Konzepten der Progressiven Provinz finden Beziehungsqualität und Weltoffenheit auf neue Weise zusammen – und erzeugen eine neue Vitalität des Lokalen.
Schon heute gibt es Regionen in Deutschland und Europa, die von ihrer Topografie her Provinz sind – sich aber mitten in einem vitalen Aufstieg befinden. Abgelegene Dörfer, in die plötzlich das Leben einkehrt. Denn längst verläuft der Bruch zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Urbanisierung zwischen den Regionen. Deshalb gibt es zwei Provinzen: In der einen verkriechen sich die Bewohner in Passivität und Opfermentalität, in der anderen herrscht ein Klima der Offenheit und des Wandels. Hier hat sich eine kulturelle Urbanisierung durchgesetzt, ohne die chaotisierenden Nachteile der Großstadt in Kauf zu nehmen. Solche Orte wollen es wissen. Sie reinnovieren sich selbst.
Überall entstehen Future Regions, Modern Towns und Zukunftsdörfer – und plötzlich steigt die Bewohnerzahl wieder an!
„Agronica“ nannte der italienische Architekt Andrea Branzi einmal den von den Bedingungen der elektronischen Kommunikation umgestalteten ländlichen Raum. Aber das Internet allein kann die Verödungsgefahr nicht lösen. Dörfer, Städte, Gemeinden sind – so wie die großen Städte – soziale Organismen, die in ihrem Wesen aus Kommunikation bestehen, aus Beziehungen. Das Netz löst Verbindungsfragen, aber keine Beziehungsfragen. Deshalb ist die Frage, wie Neo-Regionen entstehen, vor allem eine Frage nach den Beziehungen der Bewohner.
Die Kraft der kooperativen Empathie
Die Sehnsucht nach der Provinz kannten schon die alten Griechen, die in ihrer Flucht vor der „Polis“ nach dem paradiesischen Land „Arkadien“ suchten. Diese Geschichte wiederholt sich bis heute immer wieder: Die Sehnsucht nach Intensität, Individualität und Selbstverwirklichung zieht die Menschen in die Stadt. Aber wenn eine Lebensbiografie in städtischer Entfremdung stockt, wenn man in einer bestimmten Lebensphase das Tempo nicht mehr halten kann, dann werden neue Pläne geschmiedet. Dann wird das kleine Haus in der Toskana gekauft, die Hütte in einem spanischen Gebirgsdorf oder am See in Schweden. Dann wird mit unendlicher Geduld der Bauernhof in Brandenburg renoviert. Dort, wo die Kinder glücklicher aufwachsen sollen als zwischen Beton und Verkehrsstress.
Solche Idyllen-Träume scheiterten oft an individuellen Überforderungen, an der Illusion von Autonomie, die oftmals ein Resultat innerer Verbitterungen ist. Die nächste urbane Exodus-Welle wird deshalb anders verlaufen: Es geht nicht um Flucht, sondern um das Ankommen. Es geht nicht um die Landlust-Apfelkuchen-Romantik, die immer nur eine städtische Halluzination ist, sondern um eine dynamische soziale Nähe, die in kleineren Lebenseinheiten besser zu finden ist. Es geht im Kern um ein neues regionales oder dörfliches Selbstbewusstsein, das auch Rückkehrer und Neuankömmlinge integrieren kann.
Während Dörfer und Kleinstädte früher versuchten, mit durchbetonierten Gewerbeparks an die urbane Welt anzuschließen, überwindet die nächste Phase der Provinzrenaissance die Topografie der Industriegesellschaft. Gerade die Wissensgesellschaft eröffnet dem Neo-Lokalen neue Märkte und Chancen, sowohl im Boom der Lebensqualität (von Biolandbau bis Gourmet-Bauernhof) als auch im menschlichen Beziehungswesen (von Gesundheits- und Therapieleistungen bis zu Sport und Naturerleben). Design, Kultur und Kunst sowie die Gastronomie können gerade in der tiefsten Provinz die entscheidende vitalisierende Rolle spielen.
Technologie ist wichtig, aber nicht alles. Im Kern der ruralen Renaissance stehen die lebendigen Beziehungen zwischen Menschen. Längst sind es nicht mehr nur Fußballvereine und freiwillige Feuerwehren, die die ländliche Zivilgesellschaft ausmachen. Längst gibt es auch Yogagruppen, Segelflugvereine, Gourmet-Vereinigungen, Unternehmer-Clubs. Kleinstädte, Dörfer und Regionen können sich selbst neu erfinden, wenn sie ihre sozialen Potenziale heben: Der Standortvorteil gegenüber der Großstadt ist die kooperative Empathie.
Die fünf Pfeiler der Progressiven Provinz
Lokale Visionäre
Die Renaissance des Ortes braucht charismatische Bürgermeister: aus den Großstädten Zurückgekehrte und Vielgereiste, die ihre Wurzeln wiederentdecken und zu Change-Agents des Ländlichen werden. Die Heimkehrer bringen Impulse (und bisweilen auch Kapital) in den Ort und verändern das Klima in Richtung Zukunft – wenn man ihnen Spielräume lässt.
Transitorische Architekturen
So idyllisch ländliche Architekturen sein können – ohne eine Spannung der Formen kann sich keine Zukunftsdynamik entwickeln. Deshalb braucht es neben dem alten Fachwerkhaus ein modernes Designgebäude, eine Schule mit Öko-Architektur, ein Brutal-Beton-Gemeindehaus oder andere „Provokationen“, die das provinzielle Idyll produktiv stören. Nicht alle Projekte werden gleich einen „Bilbao-Effekt“ erzeugen. Aber sie erzeugen eine notwendige Spannungselektrizität zwischen Tradition und Moderne im dörflichen oder kleinstädtischen Raum.
Offenheit nach außen
Auch Dörfer haben immer schon Fremde aufgenommen – und von ihnen profitiert. Fahrendes Volk brachte Waren und Ideen, reisende Knechte und Mägde prägten die Weiler des Mittelalters. In der mittelalterlichen Kleinstadt entstanden die ersten gelungenen Formen urbaner Öffentlichkeit. Weltoffenheit ist gerade für das Dorf oder die Kleinstadt existenziell: Wenn das lokale Klima von Depression und Abwehrängsten geprägt ist, kommt eine Negativspirale in Gang. Wer möchte schon dorthin, wo das Misstrauen herrscht, die Neidkultur und das Schweigen – das über Nacht in Grölen umschlagen kann?
Clusterbranding und Storytelling
Wie jeder Mensch hat jede Kleinstadt, jedes Dorf ein ganz eigenes Potenzial, einen spezifischen Charakter und ein besonderes Talent. Eine eigene Geschichte. Das kann ein bestimmtes Handwerk sein oder eine regionale Spezialität, ein Brauchtum, eine Charaktereigenschaft, ein Naturphänomen. Oder besondere Mythen und Märchen, menschliche Tragödien oder Dramen. Lokale Innovationspolitik muss, wie im modernen Marketing, dieses Unterschiedliche herausarbeiten, den „Unique Selling Point“ eines Dorfes, einer Kleinstadt oder Region. Und diesem „Geheimnis“ Sprache und Gestalt verleihen – so, dass es als Botschaft für eine bessere Zukunft dechiffrierbar wird.
Selbstvertrauen
Im Unterschied zu Nationalstolz, der immer eine gefährliche Komponente der Abwertung anderer enthält, kann Regionalstolz charmant und einladend sein. Die Liebe zur Heimat ist die Grundlage selbstbewussten Wandels. Aber diese Heimatliebe kann glokal sein: Sie muss sich nicht abgrenzen, sondern kann sich auf die ganze Welt beziehen, der man etwas Eigenes, Spezifisches hinzufügt (und eben nicht gegenüberstellt).
Beispiele für Zukunftsregionen, Zukunftsdörfer, Zukunftsorte
Wacken – Heavy Metal’s wilde Heimat
Es war einmal ein Generationskonflikt, der über die Parameter “Laute Musik gegen genervte reaktionäre Alte” ausgetragen wurde. Lang vorbei. Das kleine Dorf Wacken, mitten im Schleswig-Holsteinischen Plattland gelegen, ist Bespiel für eine historische Allianz der besonderen Art. Die 1.800 Einwohner lieben inzwischen (größtenteils) den Heavy-Metal-Zirkus, der einmal im Jahr für eine gute Woche über sie herfällt; besonders beliebt sind Selfies von grauen Omis mit wilden Langhaarigen.
Der Kitzbühel-Kufstein-Cluster
Die Gebiete um Kufstein und Kitzbühel am Inntal-Eingang der Alpen sind ein typisches Beispiel: hier siedelt sich nicht nur “Old Money” aus den Städten an, sondern auch interessante Start-Ups und Kleinunternehmen im kreativen Sektoren, vor allem in der Gastronomie und der Kultur. In Erl bei Kufstein errichtete ein reich gewordener Ex-Kufsteiner eine futuristische Konzert-Festhalle – auch die Provinz braucht ihre Leuchtturm-Projekte.
Erlau, ein alter Bahnhof in Sachsen
Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Erlau steht unter Denkmalschutz und stand seit mehr als 20 Jahren leer – bis Studenten vor fünf Jahren auf die Idee kamen, das Gebäude zu einem „Zentrum der Generationen“ zu verwandeln. www.generationenbahnhof.de
Gersbach im Schwarzwald
Das Dorf Gersbach im Schwarzwald hat im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ vor 13 Jahren 98 von 100 Punkten erhalten. Kein Dorf bekam jemals mehr. Nur drei Jahre später folgte die europäische Goldmedaille. Mit mehreren Projekten antworten die rund 700 Dorfbewohner auf die Herausforderungen der Zukunft. Das Ziel der kleinen Gemeinde ist sanfter Tourismus. Das örtliche Vereinsleben spielt eine große Rolle. www.schwarzwald-geniessen.de/de/orte/Gersbach
Zukunftsregion Zwickau
18 Kommunen mit rund 122.000 Einwohnern haben sich im „Zwickauer Land“ zusammen getan und die „Zukunftsregion Zwickau“ gegründet. Unter dem Motto „Gemeinsam Zukunft gestalten“ stellt sie produzierenden Betrieben eine Plattform für den Vertrieb regionaler Produkte zur Verfügung, fördert Projekte und berät. www.zukunftsregion-zwickau.de
Künstlerkolonie Dötlingen
Die Gemeinde mit rund 6.000 Einwohnern im Oldenburger Land will wieder werden, was sie vor 100 Jahren schon einmal war: eine kleine, kreative Künstlerkolonie, wo Bremer Bürger in der Sommerfrische Erholung suchten. „Kein Museumsdorf“, wie der Bürgermeister betont, sondern eine vitale, lebenswerte Gemeinde. Dötlingen will in der ersten Liga der Künstlerdörfer mitspielen. www.doetlingen.de
Duchroth bei Mainz
Das 600-Seelen-Weindorf in Rheinland-Pfalz liegt in einer landschaftlich schönen Gegend und mitten in einem „strukturschwachen Gebiet“:. Mehr als 20 leer stehende Scheunen, Gehöfte und Wohngebäude wurden saniert oder umgebaut. Eine Kooperation mit der Hochschule Offenbach ermöglicht es jungen Künstlern, die Landschaft der Weinbaugemeinde als Ausstellungsort zu nutzen. Das jüngste Projekt der Dorferneuerung ist ein historischer Bauernhof, der saniert und zum Künstler- und Dorftreff umgebaut wurde. www.duchroth.de www.landschaftland.de
Coconat, Bad Belzig
CoWorking Spaces gehören in vielen Städten inzwischen zum Standard der digitalen Arbeitswelt. Im ländlichen Raum dagegen sind sie noch unbekannt. Der Grund liegt nahe: lediglich Schreibtische zur Verfügung zu stellen, reicht nicht aus. Entscheidend ist die Netzwerkbildung, die Stadt und Land miteinander verknüpft. „Coconat“ ist ein Projekt in Bad-Belzig, einer Gemeinde mit 11.000 Einwohnern zwischen Berlin und Leipzig. Das Projekt richtet sich an Berliner und Leipziger, die eine Auszeit von der hektischen Großstadt suchen und bietet ihnen die Möglichkeit, Arbeit und Entspannung zu verbinden. www.coconat-space.com
Hitzacker im Wendland
Mitten auf einem Acker im ehemaligen Zonenrandgebiet im niedersächsischen Wendland entsteht ein interkulturelles Mehrgenerationendorf. Alte und junge Menschen, Deutsche und Zugewanderte, gut Situierte und weniger Wohlhabende sollen hier eine neue Heimat finden. zufluchtwendland.de/dorfprojekt
Hirschlanden: eine Brauerei bringt Leben ins Dorf
Ein Dorf ohne Gaststätte? Die 430 Einwohner der Gemeinde Hirschlanden im Neckar-Odenwald-Kreis in Baden-Württemberg wollten einen Ort der Begegnung und fanden ihn im historischen Rathaus. Das seit mehr als 15 Jahren leer stehende Gebäude wurde saniert und bietet heute Platz für ein Museum, einen Dorfladen und die neue Brauerei, die kleinste Zollbrauerei Deutschlands. hirschbraeu-hirschlanden.de
Gaggenau: Mehr Lebenszeit für Alle!
Die badische Kleinstadt wird zum bürgerschaftlichen Experimentierfeld. Noch nie gab es in Deutschland einen vergleichbaren Großversuch: Um herauszufinden, wie man die Voraussetzungen für ein weiteres Jahr Lebenszeit schaffen kann, untersuchen Forscher seit zwei Jahren, was eine Stadt tun kann, damit ihre Bürger älter und glücklicher werden. Das Projekt ist auf acht Jahre angelegt und soll jedem der fast 30.000 Einwohner im Schnitt ein gutes Lebensjahr mehr bringen. www.gaggenau.de
Hochalpine Heimat-Enklaven
Können abgelegene Bergdörfer mit neuem Leben erfüllt werden? Im Bergdorf VRIN in Graubünden, wo man zu 99 Prozent Rätoromanisch spricht, sozialisierte man in den 80er Jahren den gesamten Grund und bildete eine Reihe von Genossenschaften. Neue Gebäude in alter Holzbauweise entstanden, der Ort konnte seine Einwohnerzahl stabilisieren. Ähnlich SOGLIO, ebenfalls in Graubünden, wo allerdings italienisch gesprochen wird und der Tourismus mit 20.000 Übernachtungen pro Jahr eine größere Rolle spielt. Dort hat der Architekt Armando Ruinelli einen modernen Design-Baustil entwickelt, der auf der ursprünglichen Architektur des Ortes aufbaut. Auf diese Weise entstanden alpine Designbauten, die auch für stilbewusste Städter attraktiv sind. Ähnlich die Geschichte von VALS, wo der Architekt Peter Zumthor eine ikonographische THERME baute, die als Leuchtturmprojekt für den hochalpinen Design-Stil gilt.
Lüneburg 2030+
2015 hat sich die Weltgemeinschaft, die Vereinten Nationen, auf 17 Nachhaltigkeitsziele geeinigt: die Milleniumsziele. Städte und Gemeinden spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben zunächst 25 Visionen für ihre Stadt von morgen entwickelt. 2018 sollen konkrete Maßnahmen („Lüneburger Lösungen“) folgen, die getestet und umgesetzt werden können. Die Themenfelder reichen dabei von der Gestaltung des Stadtlebens über Wirtschaften, kreative Kultur, Vernetzen und Versorgen bis hin zum Klimaschutz. www.lueneburg2030.de
BürgerEnergie Jena: 100 Prozent Ökostrom
Die Energiewende wird zum Projekt der Bürgergesellschaft. Bundesweit gibt es rund 700 Energiegenossenschaften in Bürgerhand. Jena gehört zu den ältesten und ist Trendsetter. Als erste in Ostdeutschland liefert Jena zu 100 Prozent Ökostrom. Mit der Beteiligung der Bürger am kommunalen Stadtwerk steht die Energiegenossenschaft für die Demokratisierung der Energieversorgung. www.buergerenergie-jena.de
Die achtsame Region: Die Reise zum Ich
Achtsamkeit ist im Trend. Immer mehr Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern Achtsamkeitsseminare und -trainings an. Die neue Bewegung erreicht jetzt auch Städte und Regionen. In der Region Allgäu haben sich Hotels, Bauernhöfe, Restaurants, Gesundheitsberufe und Bäder zusammen getan und bieten ihren Einwohnern und Gästen „Alpenwellness“: nachhaltige Erholung, sanften Tourismus und Wege zu einer neuen Balance und einem gesünderen Lebensstil. www.allgaeu.de/achtsamkeit
Willkommen in Görlitz!
Anders als in anderen Orten in Ostdeutschland, wo zum Teil Hunderte gegen geplante Gemeinschaftsunterkünfte protestierten, gab es in Görlitz keine Proteste gegen Asylbewerber. Die kleine sächsische Stadt an der Grenze zu Polen engagiert sich seit 2014 in der Integration der neuen Geflüchteten und hat Erfahrung mit Vertreibung und Flüchtlingen. Heute leben in der Stadt 157 Familien mit rund 700 Personen aus 17 Nationen. www.willkommensbuendnis-gr.de
Mehr Flüchtlinge! Das Goslarer Modell
„Mehr Flüchtlinge nach Goslar“, forderte der Oberbürgermeister der Stadt Goslar Oliver Junk bereits im Herbst 2014. Das Modell Goslar bietet ein „Integrationsvollpaket“ für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive. Sie erhalten Sprach- und Fortbildungskurse, Betriebspraktika und kulturelle Integration. Inzwischen gibt es ein Integrationszentrum, das von Sprach- und Kulturkursen über einen Gesundheitscheck bis zu Verkehrserziehung und Berufsorientierung alles unter einem Dach bietet. www.goslar.de
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Was hat Dunkelheit mit der Zukunft zu tun?
Eine ganze Menge…
Oktober 2017
By Svein-Magne Tunli – tunliweb.no (own work), via Wikimedia Commons
Die herbstliche Zeitumstellung erinnert uns daran, dass jetzt die dunkle Zeit kommt. Unweigerlich neigt sich die Sonne dem Horizont zu und die Zeitschriften sind voll von Tips, wie man „die depressive Jahreszeit übersteht”. Depressiv? Klar, in der Über-Optimierungs-Kultur ist alles, was nicht dem Optimum entspricht, ein Riesenproblem. Ein Menetekel. Der Zeitgeist der Hysterisierung ist unentwegt auf der Suche nach Gefahren. Am Ende werden wir alle sterben, wenn nicht an Terrorismus, Neoliberalismus, Separatismus oder Islamismus womöglich an der Dunkelkrankheit.
Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die etwas über die innere Konsistenz unserer Zukunfts-Erwartung aussagt. Sie spielt in Tromsø, Europas nördlichster „Großstadt” (nun ja, 75.000 Einwohner). Dort ist es praktisch ab jetzt, Anfang November, rund um die Uhr radikal dunkel. Die Sonne meldet sich, wenn überhaupt, als schwacher Schein am Horizont. Müssen Tromsøs Einwohner nicht ein massives Depressions-Problem haben? Licht wirkt ja, wie zahlreiche Studien festgestellt haben, direkt auf unser Serotonin-System, auf die Stimmungs-Substanzen in unserem Hirn. Haben die Skandinavier nicht sowieso erhöhte Selbstmordraten? MUSS man da nicht um die Gesundheit der Nordbewohner besorgt sein (wie Anne Will fragen würde)?
Kari Leibowitz, eine junge Stanford-Psychologin, zog im Winter 2015/16 in diese Stadt am Rande des Polarkreises und untersuchte genau diesen den „Winterblues”. Dabei nutzte sie Erkenntnisse der Psychologie-Professorin Alia Crum, die sich mit den inneren Einstellungen von Menschen, den mindsets, beschäftigt. Mindsets sind Erwartungsbilder, Narrative, mit denen Menschen ihre Umwelt und die Zukunft wahrnehmen. Mit Hilfe von stress mindset measure entwickelte Leibowitz eine „Wie hältst du es mit dem Winter?”-Skala.
Die Befragten konnten auf einer Skala wählen zwischen „Es gibt viele Aspekte am Winter, an denen man sich erfreuen kann” oder „Ich finde die Wintermonate dunkel und deprimierend und versuche, so viel wie möglich wegzufahren.”
Erstaunlicherweise sahen viele Tromsø-Bewohner die Dunkelheit überhaupt nicht als „Problem”. Sie nahmen sie noch nicht einmal als „dunkel” wahr! Sondern im Gegenteil als eine Jahreszeit des Lichts! Im Winter legt man in Tromsø viele Strecken auf Skiern zurück, treibt Sport, schaut gemeinsam Filme und rückt sozial zusammen. Und feiert das Leben. Das Feuer in all seinen Varianten, von Kerzen bis Fackeln bis Kino, spielt eine besondere Rolle.
Im Januar gibt es in Tromsø ein großes internationales Filmfestival, das trotz Nullgraden teilweise im Freien stattfindet.„Als der November kam, waren Cafés und Restaurants, die heimischen Wohnzimmer und sogar der Arbeitsplatz von Kerzen erleuchtet. Im Laufe der folgenden Monate konnte ich mit eigenen, staunenden Augen sehen, dass die Polarnacht keineswegs absolute Dunkelheit bedeutete, sondern vielmehr eine Zeit voller bunter Farben und weichem, indirektem Licht war.”, schreibt Leibowitz in ihrem Bericht.
Die Geschichte erzählt uns etwas von der Adaptivität des Menschen – und unserer inneren Freiheit. Die Tromsøer können dem Winter seine besten Seiten abgewinnen, weil sie ihren MIND – ihre inneren Erwartungs-Gefühle – in eine Form der BEJAHUNG gebracht haben. Statt am Problem entlangzujammern („Es ist viel zu dunkel!”) gestalten sie ihre Wirklichkeit entlang von Möglichkeiten. Dieser „Possibilismus” – im Gegensatz zu Optimismus und Pessimismus – ist schöpferisch, weil er die Welt im wahrsten Sinn des Wortes in neues Licht taucht. Licht wird im Dunklen erst schön!
„Paying attention to what we are paying attention!”
Wenn wir das Rauschen der medialen Angstmachmaschine abschalten, wachen wir in einer Wirklichkeit auf, in der die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen wieder wichtig werden. Die Realität kehrt zurück – als formbare Wirklichkeit, in der wir etwas bewirken können. Das ist das Gegenteil des „Postfaktischen”: Wir gehen zurück ins Lebendige. Dabei geht es nicht um Abwendung oder Ignoranz der Weltverhältnisse, sondern um die Wiedergewinnung der inneren Deutungsmacht.
„Wenn wir innerlich blind sind, lassen wir zu, dass die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft dominiert.” – in diesem Satz der Kognitionspsychologin Ellen Langer, die vor 25 Jahren den Begriff der „Mindfulness” – Achtsamkeit – erfand, konzentriert sich die Krankheit unserer Zeit. Aber jetzt kann man spüren, wie die Stimmung kippt. Immer mehr Menschen lassen sich nicht mehr ängstigen von der Angst, mit der uns das mediale System rund um die Uhr überfüttert. Es gibt einen fühlbaren Widerstand gegen den Hysterisierungs-Drang, der uns rund um die Uhr am Zappeln halten will, gegen immer neue monströse Gefahren, Übertreibungen und Verdächtigungen, Vermutungen über das Drohende und Dramatisierungen von einzelnen Problemen.
Immer mehr Menschen verlassen die Stressfelder der Übermedialisierung. Facebook verliert zum ersten Mal User. Smartphones werden heruntergefahren. Bücher wieder in die Hand genommen. Selbst Trump und die AFD werden endlich egal – womöglich die beste Methode, wie wir sie bekämpfen können!
Sybille Berg hat diese antihysterische Resistenz sehr poetisch in ihrem SPIEGEL-Blog unter der Zeile „Keine Angst vor der Dunkelheit” beschrieben. Ich darf zitieren:
„Winterfasten, die Angst relativieren, die Nervosität runterfahren, das exponentielle Wachstum wachsen lassen…
Das Netz ist immer noch ausgeschaltet, also die dunkle Seite des Netzes. Die Irremachende. Tee. Gutes Licht. Bücher.
Oder Menschen treffen, Menschen, reale Menschen. Nett zu den Menschen sein, die man trifft. Menschenzeug machen, Kino, Singen, Sport, Tofu grillen, auf dem Sofa liegen, ins Dunkle sehen, sich freuen, dass es Menschen gibt, reale, die in Ordnung sind, und nicht irgendwelche Verbrecher, die man nicht kennt, irgendwo im Netz, die vielleicht nicht existieren, oder auch auf einem Sofa liegen und ins Dunkel sehen. So könnte das gehen, mit der Dunkelheit. So könnte eine Entmistung des Gehirnes funktionieren.”
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Politik ist die Architektur des Sozialen. Sie muss die Komplexität der Gesellschaft in produktiver Weise organisieren. Dabei gilt es, das Konkurrenzspiel der Gruppen, Institutionen, Interessen und Machtansprüche so zu arrangieren, dass für möglichst viele ein „Win-Win-Spiel” herauskommt. Politik kann dabei nie alles alleine lösen. Sie ist auf gesellschaftliche Autonomie-Prozesse angewiesen, auf Eigeninitiative, Vernunft, Zivilgesellschaft, Lernprozesse, Emanzipation. Sie ist das Coaching gesellschaftlicher Kooperation. Wichtigster Treibstoff dieses Prozesses ist die Ressource des Vertrauens – vor allem des Vertrauens in die Zukunft.
Im Zuge des populistischen Furors entsteht allerdings derzeit eine INFANTILISIERUNG des Politischen. Alte, längst sinnlos gewordene Links-Rechts-Ideologien werden wiederbelebt. Politik soll nun ALLES lösen – jede Ungerechtigkeit, jede Notlage, jedes Unglück. Sie wird eine Funktion gesellschaftlicher Erregungen und Wutausbrüche. Unter dem Stichwort GERECHTIGKEIT werden unentwegt Ansprüche formuliert, deren Legitimität sich nicht mehr aus dem Gesamten, sondern aus Einzelinteressen speist – es geht nur um die Angst vor dem Wegnehmen, nie um die Möglichkeit zum Hinzufügen. Politik wird zunehmend als ANSPRUCHS-SYSTEM codiert, in dem Politiker lediglich die Funktion von Service-Personal erfüllen, das „den Willen des Volkes” exekutieren soll. Der Populismus mit seinem manipulativen Kommunikations-Stil verwandelt Politiker in Getriebene, die bizarre Heilserwartungen zu erfüllen haben – oder zum Opfer von Hassattacken werden. Der Philosoph Peter Sloterdik spricht von der „dünnwandigen Welt” des Gesellschaftlichen.
Jeder Trend gebiert einen Gegentrend. Das Gegenmodell zur populistischen Erregungspolitik heute schon sichtbar. Nennen wir es COOL-POLITIK. Politik als produktives Zukunfts-System kann nur wirken, wenn eine gewisse DISTANZ zu den gesellschaftlichen Emotionsströmen existiert. Das heisst nicht Emotionslosigkeit, aber mentale Diskretion. Helmut Schmidt regierte mit hanseatischer Kühle und ließ sich nie von (auch damals schon existierenden) Affektstürmen beeinflussen. Helmut Kohl wurde für sein „Aussitzen” kritisiert – er saß immerhin sehr erfolgreich die deutsche Einheit aus. Angela Merkels moderativer Stil wird ihr unentwegt vorgeworfen. Und ist doch gleichzeitig das Erfolgsrezept in übererregten Zeiten.
COOL-POLITIK zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht von der Angst, sondern von den Möglichkeiten verbesserter Kooperation aus agiert. Träger sind einstweilen charismatische Männer wie Trudeau, Macron oder Andras Fekete-Györ, Chef der ungarischen Momentum-Bewegung. In den nächsten Jahren werden aber auch jüngere Frauen auf die Bühne dieses neuen Politikstils treten. Systemische „Bewegungspolitik” löst auf Dauer die alte Links-Rechts-Polarisierung zugunsten einer dynamischen Mitte auf.
„Was die politische Sphäre angeht, so wird sie unter den Bedingungen der dünnwandigen Welt umso besser erfüllen, je mehr es ihr gelingt, sich gegen Überforderungen abzugrenzen, die von einer aufgereizten Wunschgesellschaft auf sie projiziert werden.”
Peter Sloterdijk
COOL-POLITIK ist VISIONS-MANAGEMENT
Es geht um die Zukunft, aber diese Zukunft wird nicht als hehre „Utopie” oder gesellschaftliche Transzendenz dargestellt, sondern als Transformations-Prozess, an dem ALLE Verantwortung tragen.
COOL POLITIK ist GANZHEITLICH
Sie überwindet das Polarisierungsschema von „Rechts und Links” zugunsten eines systemischen Verständnisses der gesellschaftlichen Prozesse. Kapital und Arbeit, Bürger und Staat, Freiheit und Sicherheit stehen in einem ständigen dynamischen Verhältnis zueinander; eines der beiden generell zu priorisieren wäre grundfalsch!
COOL-POLITIK ist PRAGMATISTISCH statt ideologisch
Sie arbeitet durch Trial-and-Error-Methoden, durch Testen sozialer Modelle. Sie scheut sich nicht, Maßnahmen zurückzunehmen, die nicht funktionieren.
COOL POLITIK ist RESILIENZPOLITIK
Sie nutzt Krisen, um Alternativen klarzustellen und Fortschritt voranzutreiben.
COOL POLITIK übt die PRAXIS DER GELASSENHEIT
Sie hat unendliche Geduld und richtet sich am Machbaren aus, ohne fundamentale Grenzlinien zu setzen. Sie scheut keine Kompromisse, wenn die Ziele dabei sichtbar bleiben.
COOL POLITIK ist eine Politik der EBENEN-KLÄRUNG
Sie weist Verantwortungen dort zu, wo sie in einem komplexen System hingehören – Lokal, Regional, National, Kontinental, Global. Individuum/ Institution/ Zivilgesellschaft/ Gesetze/ Staatseingriff. Die zentrale mentale Botschaft lautet: Es ist komplex, muss aber nicht kompliziert sein!
Possibilismus
Vom engl. „possible” = möglich.
Eine innere Zukunfts-Haltung jenseits von Optimismus und Pessimismus. Der Begriff wurde von Hans Rosling, dem globalen Daten-Guru erfunden. Auf die Frage eines Journalisten: „Woher nehmen Sie eigentlich ihren unerschütterlichen Optimismus???” antwortete er sinngemäss: „Ich bin weder Optimist noch Pessimist, beides sind verkürzte Haltungen, Ideologien. Ich bin POSSIBILIST – ich glaube an das Mögliche! “ Vorher hatte Hans auf der Bühne etwas “scheinbar Unmögliches” gemacht – ein Schwert geschluckt. Und behauptet: Die weltweite Armut ist besiegbar!
Possibilismus ist eine Lebenshaltung, die auf dem Möglichen basiert, das sich zwischen dem UNVERMEIDLICHEN (= zufälligen) und dem PLANBAREN (= gestaltbaren) entwickelt. Vom OPTIMISMUS unterscheidet er sich dadurch, dass er das Negative weder ausklammert noch ignoriert. Vom Pessimismus unterscheidet er sich durch einen Verzicht von Jammerei und Schlechtmacherei, wie er in jeder Meinungsdebatte heute üblich ist. In der Welthaltung des Possibilismus verzichten wir auf das SCHLECHT-MACHEN („Awfulizing”) der Welt, und die damit verbundene Verstärkung von Furcht und Angst, inklusive der Häme und Schadenfreude, die dem mürrischen Pessimismus eigen ist.
Possibilismus ist eine Haltung der SELBSTVERANTWORTUNG, aber auch einer pro-aktiven Bescheidenheit. Sie nimmt jene Spiel- und Handlungsräume wahr, über die wir als Menschen verfügen, ohne ALLES gleichzeitig lösen zu können. Positiver Wandel ist möglich – die Geschichte beweist das. In unserem eigenen Leben haben wir Segnungen erfahren, die wir würdigen und als Hoffnungsargument wirksam machen können.
Possibilismus ist eine BEZIEHUNGS-HALTUNG: Wer bewusst in Bindungen in Beziehungen lebt, weiss, dass man mit seinen eigenen Depressionen und Verbitterungen die Mitmenschen anstecken kann. Possibilismus ist eine reflektierte Haltung, die der Achtsamkeit nahesteht: Wandel wird von Menschen erzeugt, setzt aber auch unseren INNEREN Wandel voraus.
Possibilisten distanzieren sich vom Resonanzsystem der Medien, die uns jeden Tag in den Furor oder die Angst versetzen wollen, um unsere Aufmerksamkeits-Ressourcen auszubeuten. Possibilismus ist REFLEXIVER FUTURISMUS: Man sieht die Gegenwart von einer (gelungenen Zukunft) aus. Und fragt sich, wie man dorthinkommt…
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Zukunfts- und Trendforscher irren. Aber auf welche Weise irren sie? In diesem Essay versuche ich, die Irrtümer der Prognostik aus der Perspektive der Kognitions-Psychologie zu erkunden. Die Grundthese: Wir Prognostiker irren sozusagen stellvertretend für alle anderen. Wir sind Teil einer medialen Vorher- und Voraussage-Industrie, die ihre Resonanz aus den Tiefenschichten der humanen Psyche bezieht.
Fehlprognosen spiegeln dabei den fehlbaren menschlichen Geist; sie geben vor allem Auskunft über unsere inneren Weltkonstruktionen, unsere Miss-Konzeptionen von Wandel und Wirklichkeit. Nur wenn wir das erkennen, können wir „wahre” Zukunftsprognosen machen.
Übersicht:
Wishful Thinking: Die Zukunft als psychologischer Wunschraum.
Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer absolut einmalig turbulenten Zeit zu leben.
Trend-Opportunismus: Der naive Trend-Glaube an oberflächliche Phänomene.
Immerschlimmerismus: Die Projektion der eigenen Depression auf die Zukunft.
Linearismus: Die Zukunft liegt nie geradeaus!
Im nächsten Teil:
Techno-Hyping: Der Glaube an die Technik als alleinigen Zukunfts-Treiber.
Metaphorimus: Die Verwechselung von Metaphern und Prophezeiungen.
Kausalitäts-Falle: Die falsche Ableitung von Phänomenen.
Wishful Thinking: Die Zukunft als innerer Wunschtraum
Wenn Ray Kurzweil, der Prophet der Singularität, eine Bühne betritt, wird es auf eine ganz besondere Weise still. Ganz anders als bei Vorträgen auf normalen Konferenz, wo es Rascheln und Unruhe im Saal gibt, wenn eine Rede anfängt, ersterben alle Geräusche und Gespräche. Es entsteht die Stille einer Kirche, eines heiligen Ortes, eines Sanktums.
Das ist kein Zufall. Wie in der Kirche geht es um Erlösung.
Ray Kurzweil prophezeit mit der SINGULARITÄT jenen Punkt, an dem Technologie mit der menschlichen Existenz konvergiert. Irgendwann in den nächsten 30, 40 Jahren, so Kurzweil, wird die technische Beschleunigung so gewaltig geworden sein, dass unser Sein in die Superintelligenz der Computer aufgenommen wird. Unser Bewusstsein wird dann auf Quantencomputern laufen, wir können alle Krankheiten heilen; und ob wir überhaupt noch einen Körper brauchen, ist dann eher zweitrangig.
Das Erstaunliche ist, dass Ray Kurzweil immer rational klingt, obwohl er ein völlig metaphysisches Weltbild vertritt. Alles wirkt unausweichlich, vorherbestimmt. Alles verläuft in Kurven, die steil nach oben ragen, die wie Bilanzerwartungen eines Investmentbankers. Die Singularität ist ein Theorem, das wie die Existenz Gottes niemals widerlegbar ist. Ray Kurzweil übersetzt die Tröstungs-Geschichte der Religion in eine hypertechnische Zukunfts-Narration: eine Tröstung, bei der von der Zukunft endlich erwarten können, was keine Gegenwart erlösen kann.
Treten wir einen Schritt zurück und betrachten Ray Kurzweil von der menschlichen Seite. Man spürt hinter der Fassade des Visionärs eine große Traurigkeit. Man spürt, dass es sich um einen sensiblen, unglaublich verletzlichen und verletzten Menschen handelt.
Kurzweil hat mit 22 Jahren seinen Vater verloren, den er sehr liebte. In einer Szene in einem Film von John Berman wischt sich Kurzweile eine Träne am Grab seines Vaters ab: abcnews.go.com
Ray Kurzweils Vater Frederic („Fritz Friedrich”), geboren 1912 in Wien, war ein Multitalent, ein Autor, Komponist, Dirigent und Humanist. Und wahrscheinlich ebenfalls ein charismatischer, tief sensibler Mensch. Ray hat in seinem Haus in Newton-Massachusetts Kisten von Briefen, Dokumenten und Fotos von seinem Vater gesammelt. Er ist sich sicher, dass die Technik demnächst in der Lage ist, aus diesem Material einen authentischen Avatar zu formen. Eine künstliche Figur, die spricht wie sein Vater, denkt wie sein Vater, vielleicht sogar agiert wie sein Vater.
„Ich werde in der Lage sein, mit seiner Re-Kreation zu sprechen”, sagt Kurzweil. „Am Ende würde diese Repräsentation vielleicht sogar realistischer sein als mein Vater selbst, wäre er noch am Leben.”
STALKER, einer der mystischen Sci-Fi-Filme des Russen Andrei Tarkowski, handelt von der Reise zu einem mystischen Raum, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die drei Protagonisten, die in die „verbotene Zone” aufbrechen, um diesen Raum zu suchen, wissen am Ende selbst nicht mehr genau, was sie dort suchen. Sie sind verängstigt von den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, und deren Konsequenzen sie fürchten. Sie zerstreiten sich über die Frage, ob man den Wunsch-Raum nicht besser zerstören sollte. www.imdb.com de.wikipedia.org
In den 60er Jahren stellte Hermann Kahn, der Meister der spektakulären Zukunftsforschung, eine ganze Reihe herausragender Prognosen auf. Eine davon lautete: Spätestens im Jahr 2000 wird es Schlankheitspillen geben, die uns auf ein exaktes Wunschgewicht bringen! Kahn wog fast 200 Kilo und starb an Herzinfarkt.
Die Zukunft ist ein Wunschbaukasten, der mit unseren inneren Illusionen, Hoffnungen und Sehnsüchten gefüttert ist. Das Internet wird die Demokratie befördern und alle kreativ machen – wer wünschte sich das nicht? Wir werden unsterblich, Krebs wird geheilt, Roboter werden uns in ewige Bequemlichkeit entlassen – all diese Hoffnungen sind zutiefst kindliche Wunsch-Phantasien.
Selbst Dystopien sind in gewisser Weise Wunschprodukte: Wir sind enttäuscht vom Gang der Dinge, zornig auf “die Menschheit”, so dass wir den großen Untergang als gerechte Strafe herbeiwünschen. Soll doch alles zum Teufel gehen, wenn die Welt nicht nach unseren Wünschen tanzt!
Wenn Sie eine großartige Zukunfts-Vision hören – fragen Sie sich zuerst: Wie sieht das seelische Handicap aus, die Verletzung, die der Protagonist dieser Vision mit sich herumschleppt? Wovor läuft er Richtung Zukunft davon? Aber tun sie dies bitte mit Herzlichkeit und Zuneigung. Wir sind alle nur sterbliche Wesen, die versuchen, mit unseren inneren Abgründen zurechtzukommen. Die Zukunft bietet dafür reichhaltiges Material.
Kurzform:
Zukunfts-Visionen entstammen immer auch inneren Sehnsüchten und transzendentalen Spannungen. Sie haben mit unverarbeiteten Ängsten oder persönlichen Traumata zu tun. Wir neigen dazu, aus unseren existentiellen Gefühlen ein Zukunftsbild zu formen, das uns trösten und halten kann.
Die Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer einmaligen, turbulenten, sensationellen Zeit zu leben
Nie war die Lage der Welt so instabil, so auf der Kippe! Nie gab es so viele Verunsicherungen, Gefahren, chaotische Veränderungen, Krisen, rasende Wandlungsprozesse! Nie war alles so gefährlich, dramatisch und existentiell! Wir leben in jeder Hinsicht – sozial, ökonomisch, ökologisch – in einer Peak-Zeit, einer Gipfel-Epoche, einer dramatischen absoluten Entscheidungs-Ära!
Es sind die entscheidenden Jahre der Menschheit!
Wir haben noch 50 Jahre Zeit bis zum Weltuntergang!
Das sagt zum Beispiel Stephen Hawking, das Genie mit der schrecklichen Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselt, aber gerade da seine Autorität über viele Jahre nur noch erhöht hat. Hawking will dass „wir” schnell auf den Mars auswandern, damit die Menschheit noch eine Chance hat.
Um die These von der gefährlichsten aller Zeiten zu überprüfen, sollten wir uns in die Lage unserer Vorfahren versetzen. Diese müssten es ja – wenn die These stimmt – im Vergleich zu uns besser und ruhiger gehabt haben. Schließlich lebten sie in der guten, alten Zeit.
Seit mindestens 200.000 Jahren zogen unsere Homo-Sapiens-Vorfahren in kleinen, verstreuten bands and tribes durch die Savannengebiete der Erde. Sie wurden gejagt von Tieren und versuchten selbst welche zu jagen. Das Leben war geprägt von Krankheit und Tod. Viele unserer Ur-Vorfahren blieben durch den Faustkeil des Nachbarstamms auf der Strecke, bevor sie sich fortpflanzen konnten. Mindestens einmal, vor etwa 80.000 Jahren, so behaupten die Anthropologen, gab es ein „human bottleneck”. Die Gesamt-Anzahl aller lebenden Menschen lag damals bei unter 2000. Eine kritische Masse, die tatsächlich zum Aussterben hätte führen könne. Homo Sapiens war an den Rand der Evolution gedrängt.
Als die ersten Bauernkulturen entstanden – als die Jäger und Sammler sesshaft wurden – wurde die Lage nicht besser, sondern dramatischer. Epidemien entstanden dadurch, dass Menschen plötzlich auf engstem Raum zusammenlebten. Die ersten Städte zerfielen schnell zu Ruinen, weil sich die Bewohner in andauernden inneren Kriegen befanden, wenn die Ernte ausfiel. In der Zeit der „großen Reiche” – Ägypten, Rom, Inkas, Maya – lebten Abermillionen Menschen als Sklaven ein kurzes, prekäres Leben. Mord und Völkermord waren an der Tagesordnung; gegen die ständigen politischen Turbulenzen im römischen Reich, inclusive Sklavenmord und Krieg, erscheinen die heutigen Krisen der EU wie ein sanfter Abendwind.
Im Mittelalter gingen Seuchen um, die die europäische Bevölkerung um die Hälfte reduzierten. Klerus und Adel betrieben regelmäßig Ausrottungskriege. In Asien entwickelten sich die ersten stabilen Feudal-Bauernkulturen, deren Bevölkerung längere Zeit in Frieden lebte. Bis die Mongolen einfielen und bis nach Japan vordrangen. Abgesehen von kurzen Blütezeiten, etwa der Renaissance, die aber niemals eine ganze Generation und nur wenige Stadtstaaten umfasste, gab es kaum einmal für eine Generation Kontinuität und Sicherheit, Aufschwung und Fortschritt. Menschliches Leben war eigentlich immer „nasty, brutish and short”, wie Thomas Hobbes formulierte. Wohlstand kannte nur eine winzige Überschicht, und selbst deren Kinder starben mit 14 an Diphtherie oder Schwindsucht.
Auch der Beginn der Industriegesellschaft änderte das nicht wesentlich. Bis ins 20. Jahrhundert erlebte praktisch jede europäische Generation einen mörderischen Krieg mit Konsequenzen für das eigene Leben. Unsere Großeltern erlitten dann einen echten Weltuntergang, einen Zivilisationsbruch, ein ungeheures Massenmorden. In meiner Kindheit standen sich zwei Supermächte bis an die Zähne nuklear aufgerüstet gegenüber. Das ist noch einmal gut gegangen.
Aber ruhige Zeiten? Wann – wenn nicht heute?
Andererseits gilt: Turbulenz ist die Konstante des Komplexen. Das Zeitalter der Globalisierung bringt notwendigerweise Turbulenzen mit sich, aber viele dieser Turbulenzen führen auch zu neuen Lösungen und Stabilisierungen. Allerdings bringt uns das mediale System heute jede Spannung, jeden Konflikt, jede Abweichung vom Erwarteten, vom Normalen, das wir als „Friede, Wohlstand, Wachstum” definieren, so nahe wie möglich. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie erzeugt einen Zwang zur Dramatisierung, Zuspitzung, Übertreibung.
Vielleicht hat die Idee einer extraordinären Schlüsselzeit, der finalen Entscheidungs-Epoche, in der wir leben, auch etwas mit einem narzisstisch gefärbten Individualismus zu tun. Eine Art Über-Stolz, eine Grandiositäts-Sehnsucht: Alles wirklich Wichtige soll in meiner Lebenszeit passiert sein! Dass sich unsere Epoche im Nachhinein auch wieder nur als eine Zeit wie viele anderen erweist – turbulent, gefährlich, schwierig, aber auch über weite Strecken ganz normal – halten wir nicht gerne aus.
Kurzform:
Gegenwarts-Eitelkeit lässt uns die Vergangenheit nostalgisch verklären und die Konstanten des Fortschritts ignorieren. Durch die Definition einer „Ausnahmesituation” wird unser Bedürfnis nach Besonderheit und Drama befriedigt. Aber die Zukunft wird vielleicht viel „normaler” als wir denken.
Trend-Opportunismus – Trendgläubigkeit oder „Trend-Hysterie”
Haben sie schon einmal vom PUSSY SLAPPING-Trend gehört?
Das ist ein Jugend-Trend. Zumindest war es einer. Im Sommer 2017 ging er durch viele Medien. Mädchen auf Schulhöfen haben die Angewohnheit entwickelt, sich gegenseitig auf die Pussy zu schlagen.
„Bedenklicher Trend auf den Schulhöfen!!! Was sagt es uns über die Gesellschaft, in der wir leben? Unglaublich! Ein wahnsinnig sensationeller Trend!
Natürlich ist Pussy-Slapping kein echtes Phänomen. Irgendwelche Mädchen-Gruppen mögen diesen skurrilen Brauch irgendwann mal in einigen Schulen zu Spaß praktiziert und gepostet haben. Und irgendjemand, der die Seiten einer Zeitung oder die digitalen Spalten einer Website füllen musste, machte daraus einen „Trend”. In ziemlich eindeutig voyeuristischer Absicht.
Die armen Hospitantinnen, die im Frühjahr 2017 von zahlreichen Boulevard-Medien in Schulen geschickt wurden, um den Trend zu verifizieren, fanden keinerlei Anzeichen für massenhaftes Pussyschlagen. Ein Fake. Ein peinlicher, obszöner Blödsinn. Wieder mal „so ein Trend”. Aber was sagt uns das über „die Trends”?
Wer macht eigentlich Trends?
In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann das Wort „Trend”, ursprünglich eher aus der Statistik und dem Börsenwesen stammend, seine große Karriere. Trendforschung war plötzlich das „große Ding”. Im Jahr 1994 erschien Faith Popcorns berühmtes Buch „Clicking”. Darin definierte die leicht skurrile Amerikanerin all die schönen Trend-Begriffe wie „Cocooning” und „Clanning” und „Egonomics”, die heute noch durch jeden Anfängerkurs im Marketing geistern. Faith Popcorn tat das keineswegs oberflächlich. Sie argumentierte aus der Sicht der Gesellschafts-Beobachterin mit einem durchaus soziologischen Blick.
„Cocooning” zum Beispiel definierte sie als jene Rückzugs-Operation, in der sich viele Amerikaner in der US-Wirtschaftskrise der 90er Jahre auf die eigenen vier Wände zurückzog. Ihr „Eva-lution”-Begriff zielt auf die neuen, selbstbewussten Großstädterinnen und den Wandel im Geschlechterverhältnis. Ihren Begriff „Down-Aging”, der den subjektiven Verjüngungseffekt benennt, der paradoxerweise mit der Verlängerung unserer Lebenszeit einherkommt, nutzen wir noch heute in der systemischen Prognostik. Faith’s größte Gabe war aber ihr Talent zum WORDING: Ihre Begriffe klangen einfach dermaßen poetisch und ein-leuchtend, dass sie sich wunderbar dazu eigneten, sie einfach als Verkaufs-Formeln zu benutzen.
Eine Trendbehauptung wirkt mit drei Effekten auf unser Hirn. Erstens ist ein Trend immer eine willkommene und entlastende VEREINFACHUNG: Aus dem Meer der Möglichkeiten wird ein isoliertes Phänomen herausgehoben und zum ICON gemacht. Zweitens erzeugt ein Trend durch sein „Naming”, („Cocooning”, „PussySlapping” etc.) einen neuronalen REIZ. Als neu-gierige Sprach-Wesen sind wir fasziniert, wenn wir mit neuen Worten konfrontiert werden. Vor allem wenn es sanft und irgendwie GUT klingt.
Drittens SCHMEICHELN Trends oft unseren Bedürfnissen oder Interessen. Wenn wir zum Beispiel Investmentbroker sind, geben wir gerne den Prognose-Trend-Kurven einen Drall nach oben. Wenn wir vor etwas warnen wollen, nehmen wir die Kurve mit dem höchsten ”Absturz-Effekt”. Dabei wählen wir nach Belieben Ausschnitte und Abschnitte. Wir nutzten Trends im Sinne einer EXPECTATION BIAS: Wir ERWARTEN etwas und nehmen Trends als Beweis, dass es so kommen soll…
Einer unserer Kunden sagte einmal zu uns: „Wir haben hier ein Produkt, was sich überhaupt nicht mehr am Markt verkauft. Können sie uns dafür einen TREND erfinden?”
Wenn Trends dargestellt werden, geht es nicht selten darum, sie jemandem zu verkaufen. Trends sind „operative Meme”, von denen man sich Motivationen erhofft. Marketing-Leute verkaufen den Firmen, für die sie arbeiten, Trends, als Beratungsdienstleitungen für Innovationen. Politiker verkaufen Trends, um gewählt zu werden – als Bedrohungen oder als Versprechungen. Journalisten verkaufen Trends, weil sie „interessante Inhalte” verkaufen müssen – und dafür jedes noch so kleine Phänomen, jede halbseidene Vermutung, ausschlachten.
Trends suggerieren Differenzierungs-Wissen: Sie handeln von Phänomenen, von denen nur WENIGE wissen. „Exklusiv” eben. Das erzeugt ein Vorteils-Versprechen, das Gier erzeugt – und damit den Impuls, „mitzurennen”. Man möchte auf keinen Fall etwas verpassen! Man möchte an vorderster Front mitverdienen! Das Ergebnis ist ein riesiger Haufen ziemlich unnützer Innovationen und undurchdachter „Brand-Extentions”, die sich am Markt nicht bewährt haben. Zum Beispiel Wellness-Salami und Wellness-Filzlatschen und Wellness-Gummibärchen und Wellness-Wasser, Oder Hiphop-Socken und Einhorn-Eis und Cocooning-Sofas…
Immerschlimmerismus –Immer weiter, immer mehr…
Es ist immer wieder erstaunlich, wie zäh sich bestimmte Annahmen halten, wenn sie einmal unter der inneren Rubrik TREND eingespeichert sind. In Zeiten des wildgewordenen Populismus erweist dieses Zähigkeits-Problem plötzlich seine tiefe Problematik. Es taucht in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen auf als nur in der Welt von Marketing und Konsum.
Die Kriminalität nimmt immer weiter zu” – in fast allen Sektoren nimmt die Kriminalität weiter ab, auch weltweit.
„Die Globalisierung lähmt die Weltwirtschaft, weil sie immer mehr Ungleichheit erzeugt” – die Weltwirtschaft wächst längst kräftig, auch in ungleichen Gesellschaften.
„Die Computer werden immer schneller und schneller.” – hier wird auf das Moor´sche Gesetz Bezug genommen, ein „Trend” zu ständiger Verdoppelung der Rechengeschwindigkeiten und Verbilligung der Chips. Dieses Gesetz ist seit 2015 gebrochen, aber kein Berater, kein Zukunfts-Speaker, nimmt die entsprechende Folie aus seinem Vortrag. Es klingt so gut. Man hat sich dran gewohnt.
„Die Deutschen werden immer weniger und älter!”. Dieses Mantra hat die gesamte Zukunftsdebatte in den letzten Jahren dominiert. Ob es um Renten ging, die Ausländer-Angst oder die allgemeine Zukunftsfrage – das Vergreisen und Aussterben des „eigenen Stammes” ist immer ein gutes Schreckgespenst. Die schwierige Wahrheit: Die deutsche Bevölkerung wird auf Jahrzehnte WACHSEN, nicht nur aufgrund von (meist europäischer) Immigration, sondern auch, weil die Geburtenrate wieder steigt. Ab 2040 wird der Durchschnitt der Bevölkerung wieder JÜNGER!
Am zähesten halten sich jene Trend-Gerüchte, mit denen man drohen, und Angst machen kann. In Wirklichkeit gibt es keinen Trend, der nicht irgendwann an seinen Peak, seinen „Tipping-Point” Gipfel oder Sättigungsgrad kommt. Der plötzlich ausläuft oder abflacht. Oder einfach verschwindet. Oder nie wirklich da war, wie Pussy Slapping.
Kurzform:
Wir sind leichtgläubig in Bezug auf Trendbehauptungen, weil sie uns eine Deutungsmacht verheißen, uns amüsieren und unterhalten, und für bestimmte Interessen nutzbar sind. Wir vergessen, dass jeder Trend irgendwann einen „Peak” erreicht und danach abflaut. Wir ignorieren, dass jeder Trend einen Gegentrend hat.
Und hier die wahre Meisterin aller Zukunftsirrtümer. Sozusagen der Generalirrtum, der alle anderen verbindet: Das Geradeausdenken.
Die Welt, in der wir leben, ist komplex. Es gibt in ihr unglaubliche Schönheit, aber auch ein großes Durcheinander. Unser Hirn ist auch komplex. Aber es ist begrenzt in seinen Kapazitäten, in seinen Möglichkeiten, die Welt zu konstruieren. Wir sind nicht allzu gut im Parallel-Denken, im Multitasking und zusammenfügen verschiedener Abstraktionsebenen. Wir sind nicht wirklich motiviert, wenn es um das Verstehen von Systemen geht. Denn Systeme sind meistens „langsam”. Sie lassen wenig Wirksamkeit zu. Weil das so ist, präferieren wir Trends, die eine eindeutige Verlaufslinie haben: Aufwärts oder abwärts!
Wenn wir einen Trend darstellen, tun wir das meistens mit einer Gerade. Manchmal auch mit einer akzelerativen Kurve, deren Annahmen entweder aus Angst entstehen – negative Übertreibung – oder aus Gier – positive Übertreibung. Fast immer vergleichen wir einen Vergangenheitswert A mit einem Gegenwartswert B und ziehen danach eine weitere Aufwärtsbewegung nach vorne, zu C. Je nachdem, wie begeistert wir sind, oder was wir gerade verkaufen wollen (Eine Geschäftsmöglichkeit oder eine Angst), machen wir noch einen Strick-Schwung nach oben.
Was wir dabei gerne ignorieren, sind die Prozesse, die im Verlauf einer solchen Prognose IMMER auftreten.
Der Wert, den wir für die Vergangenheit annehmen, ist oft falsch, weil er in ganz anderen Kontexten stattfand. Wenn wir etwa über Misshandlung in der Ehe oder sexuellen Missbrauch eine Trendlinie zeichnen wollen, haben wir in der Vergangenheit meist gar kein Daten-Material, weil nichts von dem Unglück in die Öffentlichkeit drang.
Wir vergessen den KONTEXTWANDEL, der auf dem Weg der Geraden (oder Kurve) von heute bis zum Zeitpunkt C stattfindet.
Wir schneiden gerne „hinten ab” Im Netz kursieren zum Beispiel hunderte von Kurven zur Bevölkerungsexplosion, die allesamt an jenem Punkt abgeschnitten sind, an die die Kurve nicht mehr steil nach oben geht, sondern abflacht, um dann irgendwann abzufallen. So entsteht der Eindruck der „Explosion”. Wenn, dann müssten wir unsere Trendkurve immer als SIGMOID zeichnen – als erst aufsteigende, kulminierende und dann abflachende Kurve.
Kurzform:
Linearismus ist die kognitive Rückfall-Form unseres Hirns in eine einfache gerade Linien- oder Kurvenlogik. Dabei werden Veränderungsphänomene aus ihrem Kontext isoliert und systemische Zusammenhänge ignoriert. Wir starren auf einen Trendverlauf und ignorieren die Komplexität.
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Manche Märkte sind so etwas wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Gummibärchen zum Beispiel gehen immer, rund um die Uhr. Red Bull ist eine verlässliche Substanz, solange es Clubs, pubertierende Söhne und Lastwagen gibt. Ebenso lässt sich die Droge Benzin – bis auf weiteres – von früh bis abends garantiert verkaufen. Zu einem der lukrativsten Weltmärkte gehörte bislang der Rasiermarkt. Gesichts-Haare wachsen 24/7, und so gehören Gillette und Wilkinson zu den Weltfirmen mit der größten Profitmarge und der – bislang – kleinsten Konkurrenz.
Doch jetzt entsteht rund um das meist männliche Barthaar ein eine neue, weitaus spannendere Markt-Ökonomie. Wer hätte gedacht, dass innerhalb kurzer Zeit die Selbstverständlichkeit der täglichen Rasur kippen könnte? Jahrelang hatte die Rasierindustrie den Männern beigebracht, dass jeder noch so kleine Rest des Barthaares mit lasergefrästen High-Tech-Platin-Supertech-Methoden zu bekämpfen wäre.
Die Hipster mit ihren Prachtbärten brachten nun einen massiven Gegen-Trend in Gang. Heute lässt sich sogar der Manager plötzlich wieder einen Schnauzer oder einen Achttagebart stehen. Ganz zu schweigen von Kai Dieckmann. Oder Chonchita Wurst.
Die Rasier-Giganten reagieren etwas ratlos auf den Trend. Neu erschlossene Teil-Märkte wie Intimrasur und Frauenbeinhaare konnten wenig ausgleichen. Zudem traten Internet-Anbieter auf den Markt, die den gotesk überteuerten fünflagigen Klingen Billigeres gegenübersetzten. Ryanair gegen Lufthansa.
Welcher Bart-Ökonomie gehört die Zukunft? Bartwachs, Sprays und Pflegeöle, Trimmer und Scheren bilden einen neuen großen Markt, aber hier können auch andere Anbieter punkten. Ganz neue Bart-Lounges und FACIAL FRISEURE eröffnen in den Hip-Arealen der Welt. Wird Gillette eine Barbierkette eröffnen, McShave?
Die BARTONOMIE ist eine Metapher dafür, wie auch sehr stabile, durch technische Dominanz entstandene Monopol-Märkte über Nacht aufbrechen können, wenn im semantischen Umfeld des Produktes ein Bruch entsteht.
Manchmal ist die Mode mächtiger als die Marktmacht. Modische Disruption hat schon die Welt verändert. Im Jahre 1934 zog Clark Gable im Kult-Film „It Happened One Night” sein Hemd aus und trug kein Unterhemd darunter. Daraufhin brachen die Unterhemd-Umsätze amerikaweit massiv ein, was ganze Marken und Textil-Regionen zerstörte. Und womöglich die Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg trieb.
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Von engl. „possible” = möglich. Der Begriff wurde von Hans Rosling, dem globalen Daten-Guru, auf die Frage eines Journalisten in den Raum gestellt: „Woher nehmen Sie eigentlich ihren unerschütterlichen Optimismus???” – Antwort: „Ich bin weder Optimist noch Pessimist, ich bin POSSIBILIST!” Vorher hatte er auf der Bühne etwas „scheinbar Unmögliches” gemacht – ein Schwert geschluckt. Und behauptet: Die weltweite Armut ist besiegbar!
Possibilismus ist eine Lebenshaltung, die auf dem Möglichen basiert, das sich zwischen dem unvermeidlichen (= zufälligen) und dem planbaren (= gestaltbaren) entwickelt. Vom Optimismus unterscheidet er sich dadurch, dass er das Böse und Schlechte weder ausklammert noch ignoriert. Vom Pessimismus unterscheidet er sich durch die grundlegend zuversichtliche Haltung: Positiver Wandel ist möglich – die Geschichte beweist das. Wandel wird von Menschen erzeugt, setzt aber auch einen INNEREN Wandel voraus.
In der Welthaltung des Possibilismus verzichten wir auf das SCHLECHT-MACHEN („Awfulizing”) der Welt, und die damit verbundene Verstärkung von Furcht und Angst. Wer bewusst in Bindungen in Beziehungen lebt, weiss, dass man mit seinen Traurigkeiten und Depressionen die anderen anstecken kann (Verbitterungs-Syndrom). Wir distanzieren uns vom Resonanzsystem der Medien, die uns jeden Tag in den Furor oder die Angst versetzen wollen, um unsere Aufmerksamkeits-Ressourcen auszubeuten.
Possibilismus ist eine reflektierte Haltung der Verantwortung gegenüber der Welt. Possibilismus beinhaltet auch einen melancholischen Effekt: Wir können nicht alles im Leben – und in Richtung Zukunft – kontrollieren. Aber wir können das Beste aus unseren Möglichkeiten machen. Der Pessimist hingegen gibt die Welt verloren, und schließt sich dabei in ein scheinbar konsistentes Weltbild ein, das ihm Deutungsmacht und das Anrecht zu Häme und Triumph gibt (Apokalyptischer Spießer).
Possibilismus ist reflexiber Futurismus: Man sieht die Gegenwart von einer gelungenen Zukunft aus, und fragt sich, wie man dorthinkommt.
WORK-LIFE-DYNAMIK
statt Work-Life-Balance
Die schöne Formel Work-Life-Balance ist nun beinahe zwanzig Jahre alt. Langsam kommen wir dahinter, warum dieses Bonmot nicht nur fasziniert hat, sondern auch unentwegt frustriert hat. Denn was als Befriedung eines Spannungsverhältnisses gedacht war, führte zu einer ständigen Eskalation des Problems. Ähnlich wie bei Diäten, die immer nur dicker machen. Jeder, der „Balance” versuchte, landete in einer Tretmühle. Entweder die Arbeit kam zu kurz. Oder die Familie. Immer kam es zu einem hektischen Hin- und Herrennen, zu schlechtem Gewissen, dem Gefühl des ewigen Ungenügendsein.
Der Grund liegt im Wesen der dynamischen Systeme, die das Leben prägen. Sowohl die Arbeit als auch das Leben (Liebe, Privatheit, Familie) entwickelt sich in Komplexitäts-Kaskaden, die unser Dopaminsystem anregen. Gute Arbeit will uns immer mit Haut und Haar. Glückliche Familie auch. Am Schlimmsten wird die Balance-Idee, wenn die Arbeit uns Sinn gibt, uns auch persönlich voranbringt. Dann werden Arbeitsbeziehungen zu Lebensbeziehungen. Und wenn dann auch noch das Private, die Liebe, die Familie, uns guttut, wird das Dilemma unerträglich. Dann entstehen jene Halbzeit-Fallen, in denen wir uns in der Arbeit unglücklich fühlen. Und trotzdem keine Erfüllung in der Familie finden.
Work-Life-Balance kann eigentlich nur entstehen, wenn man in beiden Sektoren des Lebens unglücklich ist.
Der Business-Poet David Whyte hat ein anderes Modell angeboten. Er spricht von den „Three Marriages”, den drei Hochzeiten, die jeder von uns in seinem Leben eingeht. Mit sich Selbst, seiner Arbeit, und seiner Liebe beziehungsweise Familie. Diese Kontrakte ERGÄNZEN und DURCHDRINGEN sich, sie sind die Konversation des Lebens.
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David Whyte schreibt: „Jede der drei Ehen ist im Grunde unverhandelbar. Sie können nicht gegeneinander „balanciert” werden. Das führt nur dazu, dass wir in JEDER immer härter arbeiten, und dadurch die ANDERE schwächen. Jede der drei Ehen repräsentiert eine Kern-Beziehung zum Leben selbst, die man nicht schwächen darf, ohne in seinem menschlichen Dasein schweren Schaden zu erleiden.”
Wir können nur gute Arbeit machen, wenn wir uns im Privaten geliebt fühlen, und wenn wir uns SELBST akzeptieren und mögen. Das Leben verläuft um diese drei Kraftzentren in konzentrischen Spiralen, wobei sich immer mehr Erfahrung und Integration bildet. Das Ganze ähnelt eher der Konfiguration eines Tanzes als einer finiten Ausgeglichenheit. Wir müssen akzeptieren, dass es dabei zu Turbulenzen kommt, ja, diese Turbulenzen sind wertvoll, sie sind Teil des persönlichen Entwicklungsprozesses. Dafür, dass wir uns vom Balance-Stress entlasten, ist ein nach-industrielles, nicht mehr an Zeitkontingenten orientiertes Arbeitsmodell ebenso hilfreich wie das Verständnis dafür, dass Liebe nicht ständige Präsenz voraussetzt.
In diesem Text geht es nicht um Werte oder Moral, sondern um TUGENDEN. Dies sind jene positiven Eigenschaften, die wir uns selbst aktiv zuschreiben, um mit der Welt – und unseren inneren Wünschen – ZURECHTZUKOMMEN. Tugenden sind eine stille Zukunftsmacht – wenn wir sie auf die richtige Weise wiederentdecken. Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.
Wie werden die Historiker demnächst unsere Zeitspanne klassifizieren? Als eine PHASE DER EMOTIONALEN TURBULENZ? Die ÄRA DER BÖSARTIGKEIT? Oder ZEITALTER DER SOZIALEN HYSTERIEN?
Die Krise unserer Zeit ist vor allem eine SEELISCHE Krise. Wir leben in einem seltsamen Paradox zwischen zwei Wirklichkeiten: einer als katastrophal Empfundenen und einer im Grunde ganz normalen Welt, mit durchaus positiven Trend-Entwicklungen. Nicht die Realität hat sich verändert, nur unsere Wahrnehmungen sind andere geworden.
Wird die Welt immer schlechter, gefährlicher, chaotischer? Das ist ein weit verbreitetes Lebens-Gefühl, das sich sozusagen aus sich selbst speist: es bereitet einer steigenden Hysteriebereitschaft den Boden, einer ständigen Über-Erregung. Überall triumphiert Übertreibung, Verdacht, Unterstellung, Überheblichkeit, Wut, Hysterie, Polemik, Gemeinheit, Beleidigtheit, Grobheit. Wir können von einer ZIVILISATORISCHEN ANGSTSTÖRUNG sprechen, einer PARANOIA DES WOHLSTANDS.
Wie aber können wir damit umgehen? Es nutzt wenig, auf die Fakten zu pochen. Fakten sind, wie wir spätestens seit Trump wissen, nicht real. Auch die vielgelobten WERTE helfen uns nicht weiter, bleiben sie doch immer abstrakt und appellativ. Der Kampf um die Zukunft wird nicht im AUSSEN entschieden. Sondern im INNEN.
INSIDE IS ALL YOU NEED!
Der Beziehungs-Künstler Jeppe Hein
Tugenden scheinen in unserer individualistischen Kultur keine Daseinsberechtigung mehr zu haben. Sie wirken altbacken, abgestanden, normativ, fromm. Doch gerade wenn, wie Michelle Obama es unlängst in einer Rede formulierte, „the basic standards of human decency” verloren zu gehen drohen, entwickelt sich eine Gegen-Sehnsucht nach einer Integrität, die vom Herzen kommt.
Anders als die Moral, die heute eher als schlechtgelaunter Moralismus einherkommt, erfordern Tugenden eine gelebte Praxis. Sie sind eine sanfte Aufforderung an das Individuum, sich aktiv und pro-gnostisch („vor-schöpferisch”) in die Welt einzumischen. Sie basieren auf Erfahrungen zwischen Menschen. Sie betreffen die Kommunikationsweise, aber auch das Selbstgefühl: In den Tugenden erkennen wir uns selbst in unserem Weltverhältnis.
Tugenden sind die Gegensteuerungen der Angst. Sie sind sozusagen die Mikrogravitation des Gesellschaftlichen – jene Kräfte, die den Zentrifugalkräften der Böshaftigkeit und Bitterkeit entgegenwirken. Wie können wir die Tugenden in einer individualisierten Welt zukunftsfähig machen? Indem wir sie nicht nur als EINSCHRÄNKUNGEN, sondern als MÖGLICHKEITS-GEWINNE sehen. Indem wir sie gleichermaßen auf FREIHEITEN wie auf BINDUNGEN beziehen. Im Sinne des Soziologen Hartmut Rosa wären Tugenden „Resonanz-Werkzeuge”, in denen sich das Soziale im Individuellen abbildet – und beides miteinander in Schwingung gerät. Solche Tugenden wenden sich an die Zukunft, indem sie diese innerlich wahr werden lassen.
Progressive Dankbarkeit
Dankbarkeit scheint tief in die Vergangenheit gerichtet, sie erinnert an „Schuld” und hat mit Abhängigkeit und schlechtem Gewissen zu tun. Gleichzeitig haben die mentalen Krisen unsrer Zeit viel mit dem Mangel an Dankbarkeit zu tun. Der Historiker Egon Flaig formulierte das in der Neuen Züricher Zeitung so: „Unsere öffentliche Kultur leidet unter einer Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten. Anspruchsberechtigte sind prinzipiell undankbar; und die gesamte mediale Welt, in gleichschrittiger Eintracht mit fast allen NGOs, ist darauf programmiert, Ansprüche ins Absurde weiterzutreiben oder immer neue zu erfinden. Freilich ist die Haltung «Ich schulde nichts, daher muss ich nichts rückerstatten» für jede Kultur selbstmörderisch, für eine politische Gemeinschaft sowieso.” www.nzz.ch
Undankbarkeit dekonstruiert die Bindungen und Verbindungen zwischen Menschen, Generationen, Mehrheiten und Minderheiten, zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen. Wer undankbar ist, verweigert den Respekt für das, was ihn umgibt. Undankbarkeit macht aber auch individuell unglücklich, weil das ganze Leben immer nur als Zumutung und Verrat, als ewiges Defizit begriffen wird. Wer dankbar ist, bringt sich hingegen in eine Synchronisation mit der Welt. Er stellt sich in den Kontext der Vergangenheit, aber ebenso der Zukunft.
Wir könnten DANKBAR sein für das, was uns an Gutem widerfahren ist.
Wir könnten DANKBAR sein, dass es Wohlstand und Frieden gibt und dass unsere Vorfahren die Grundrechte erstritten und „erlitten” haben.
Wir könnten DANKBAR sein, in einer Welt zu leben, in der es Schlimmes gibt, aber nicht alles Schlimme, das prophezeit wird, auch eintritt. Die Welt eröffnet uns ständig Möglichkeiten des Engagements – und sei es nur im Kleinen.
Eine solche „progressive” Dankbarkeit würde die Idee des Fortschritts wiederbeleben, indem sie die VERBUNDENHEIT ins Zentrum stellt. In der„Dankbarkeit der Fülle” müssen nicht ständig Angst haben, das Errungene zu verlieren. Wir können uns dem Konstruktiven, Besseren zuwenden, weil wir das Gelungene empfinden.
Konstruktive Zuversicht
Possibilismus als Grundhaltung
In einem fernen Königreich wird ein Mann zum Tode verurteilt. Im Prozess schlägt er dem König einen Deal vor. Gib mit eine Gnadenfrist von einem Jahr und begnadige mich, wenn ich in dieser Zeit deinem Pferd das Sprechen beibringe. Im Verlies fragt ein Mithäftling, wieso der Mann diesen unsicheren Deal abgeschlossen hat, anstatt direkt um Begnadigung zu bitten. Der Mann antwortet:
In einem Jahr kann viel passieren.
Der König kann sterben.
Ich kann sterben.
Die Gesetze ändern sich.
Ein anderer König kommt an die Macht.
Es gibt einen Mangel an Henkern.
Das Pferd lernt sprechen.
Eine solche Haltung könnte man „Possibilistisch” nennen, sie vertraut auf das Mögliche. Der Possibilist entzieht sich den Ideologien des Optimismus oder Pessimismus. Denn beide Welthaltungen haben eklatante Nachteile: Der Optimist versucht, durch einseitige Weltwahrnehmung seine Komfortzone auszuweiten, der Pessimist versucht, ENTTÄUSCHUNGSFREI zu leben, indem er das Schlechte vorwegnimmt. Beide Haltungen haben Nebenwirkungen: Reiner Optimismus führt in den naiven Hochmut, reiner Pessimismus trägt auf dem Wege der „Self fulfilling prophecy” selbst zum Verderben bei.
Beim Possibilismus geht es nicht um pure HOFFNUNG – die ja immer eine gewisse Passivität und Devotheit voraussetzt. Sondern um ZUVERSICHT. Zuversicht ist eine Handlungsbereitschaft, die mit Überraschungen rechnet.
Es KANN sinnvoll sein, Konflikten auszuweichen!
Es KANN besser sein, das Ganze noch einmal zu überdenken!
Es KANN besser sein, nichts zu tun!
Possibilismus – ein Wort, das von dem humanistischen Daten-Sammler Hans Rosling erfunden wurde – passt unsere Erwartungen an die Möglichkeitsräume an, die uns zur Verfügung stehen. Virtuose Zuversicht öffnet uns für das Gute, aber auch für das Schlechte, das wir bewältigen können. Der Rest gehört jener Demut, die selbst das Schlechte Schlechte in Stärke verwandeln kann.
ktive Gelassenheit
Die Gelassenheit ist in den letzten Jahren zu einer Sehnsuchts-Tugend geworden, von zahlreichen prominenten Philosophen gelobt und in jedem Feuilleton gepriesen. Kein Wunder: Die Herrschaft der Ängste bringt uns um unsere seelische Freiheit des Einlassens, des Engagements, der BEWUSSTEN Verbindlichkeit.
Gelassenheit stellt die radikale Frage der inneren Beteiligung: „Müssen” wir uns immer fürchten? Wenn wir unentwegt Angst vor Terrorismus haben, spielen wir ihm nur in die Hände. Sind wir zwangsläufig „betroffen” vom Krieg in Syrien, müssen wir uns „sorgen” um den allgemeinen Zerfall der Familie, sind wir „verpflichtet”, Global Warming als existentielle Bedrohung der Menschheit zu fürchten?
Aus der Sicht des Erregungs-Moralismus lässt sich Gelassenheit leicht als Ignoranz denunzieren. Aber sie ist, richtig verstanden, das genaue Gegenteil. Sie gibt uns die Freiheit, uns aus freiem Willen für ein Engagement zu entscheiden – nur dann kann man wirksam handeln. Sie weigert sich, TEIL einer Erregungs-Maschine zu werden, die das Problem eher verschlimmert. Vor allem steigt sie aus dem Zirkel der Selbstgerechtigkeit aus, der mit der hektischen Ungelassenheit unserer Tage verbunden ist. Wer sich aufregt, glaubt immer, recht zu haben.
Natürlich reicht es nicht aus, sich innerlich von der Welt zu distanzieren. AKTIVE Gelassenheit kümmert sich um die Welt, indem sie ENT-SCHEIDUNGEN trifft. Zukunft entsteht letztlich durch Entscheidungen, in denen wir das eine dem anderen vorziehen, und damit auch auf etwas verzichten. Aktive Gelassenheit mischt sich auch ein, indem sie es wagt, Übertreibungen gegenüber skeptisch zu sein. Sie behauptet, dass es Sinn macht, die Dinge von mehr als zwei Seiten zu betrachten (Der FAKTIVIMUS, wie er sich als neue politische Aktionsform bildet, findet hier seine unmittelbare Grundhaltung).
Gelassenheit ist, wie schon Oskar Wilde feststellte, ATTRAKTIV. Sie gibt uns jene Autonomie, die uns begehrenswert macht, weil wir niemanden unter Druck setzen. Gelassene Menschen strahlen eine Eigenschaft aus, die als die „gute Form der Macht” gelten kann: Souveränität. Wer souverän ist, muss nicht dauernd mit seinen Gefühlen herumfuchteln, er ist nicht getrieben von seinen Affekten. Er muss sich nicht ständig selbst beweisen, weil er bereits selbst bewiesen IST. Hier ergibt sich die Schnittstelle zur Selbst-Resonanz: Der Gelassene ist „Souverän” – sich seiner selbst, seiner Grenzen, aber auch seiner Fähigkeiten bewusst.
Ohne Humor ist die Zukunft nicht zu gewinnen. Humor macht sich die Absurdität des Lebens zum Verbündeten – statt mit Zorn darauf zu reagieren, dass die Welt nicht konsistent und „stimmig” ist. Humor – jedenfalls wenn er GUT ist – trainiert unser Hirn in Komplexität und Paradoxialität. Humor ist eine Variante des STAUNENS – wenn wir lachen, erkennen wir, dass etwas scheinbar Widersprüchliches DOCH zusammenhängt. Der Kabarettist Vince Ebert formuliert: „Die Trennlinie zwischen einer welt- und zukunftsoffenen Gesellschaft und einer eng begrenzten totalitären verlief immer entlang der Humorgrenze. Churchill hat ja angeblich mal gesagt: „Ich sammle Witze, die Menschen über mich machen.” Und Stalin soll geantwortet haben: „Ich sammle Menschen, die Witze über mich machen.”
Humor bricht Regeln, ist anarchistisch und zeigt uns dadurch unorthodoxe Perspektiven und Sichtweisen – und manchmal sogar Lösungen – auf. Satire rückt schiefe Verhältnisse gerade, deckt Tabus und unausgesprochene Probleme auf. Und das alles mit einem souveränen, gelassenen Lächeln. Gerade in verwirrenden Zeiten wie diesen sollten wir mehr auf die Hofnarren hören.
HINWEIS: Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.
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Derzeit bin ich in Island unterwegs, einem Land, das man getrost als Zukunftsland bezeichnen kann. Nicht nur, weil selbst auf Gletschern und Vulkanen das Internet funktioniert. In Island kann man sehen, wie ein Land – eine Gesellschaft – sich dauernd neu in Richtung Zukunft erfindet.
Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, dass auf dieser kalten Insel mit der dramatischen vulkanischen Landschaft bittere Armut herrschte. Außer einer kleinen Fischindustrie und einer in Lavafeldern ums Überleben kämpfenden Landwirtschaft gab es für die Nachfahren der Wikinger kaum eine wirtschaftliche Grundlage. Heute boomt das Land in mehreren Dimensionen. Neue grüne Industrien wie die geothermale Energieproduktion sind entstanden. Aus der Fischerstadt Reykjavik ist eine pulsierende nordische Großstadt geworden, mit einem gläsern-futuristischen Kulturzentrum, das an die Hamburger Elbphilharmonie erinnert. Es wimmelt von authentischen und modernen Hotels, Clubs und Restaurants, von Geschäften, in denen das lokalste und coolste Design des Nordens angeboten wird. Zweieinhalb Millionen Touristen lockt das Land inzwischen jährlich an – für manchen Einwohner wird das schon fast zu viel.
Isländer sind GLO-KAL-ISTEN im originären Sinne des Wortes. Sie lieben ihre Sprache, sprechen aber alle englisch (viele auch deutsch, dänisch, norwegisch, französisch). Viele haben Jahre im Ausland verbracht. Unser Reiseführer in Reykjavik ist mit einer tamilischen Inderin mit neuseeländischer Staatsangehörigkeit verheiratet. Isländer haben das, was wir Kontinentaleuropäer momentan als innere Spaltung erleben, in EINE Identität integriert: Sie sind extrem familienorientiert, traditionsbewusst, individualistisch, patriotisch und weltoffen zugleich. Wie machen die das?
Als von zehn Jahren die Finanzkrise mit Wucht über das Land hereinbrach, ging Island schlichtweg pleite. Die Geldautomaten spuckten kein Geld mehr aus, die Mieten explodierten und alle Hauskredite vervierfachten sich über Nacht. Daraufhin jagten die Isländer in einer wütenden Protestversammlung vor dem Althing, ihrem traditionellen Parlament, ihre Regierung zum Teufel. Ohne Gewalt, aber auch sehr entschlossen. Dann wählten die Reykjaviker einen Punk zum Bürgermeister. Jón Gnarr hat bis heute eine große Reputation in praktisch allen Bevölkerungskreisen. Er führte die Stadt mit der lakonischen Ironie der Punk-Kultur durch die Krise. Heute gibt es in Reykjavik ein Punk-Museum. Übrigens auch ein Penis-Museum.
Isländer schaffen es ziemlich gut, Konflikt-Situationen pragmatisch zu klären, ohne gleich in Übererregung zu verfallen. Die geifernde Bösartigkeit unserer öffentlichen Debatten ist ihnen fern. Wenn Du es nicht kannst, Thor, soll Einur es eben machen! Ausländer werden nach einem Kontingentsystem ins Land gelassen, das dem kanadischen ähnelt. Den gierigen Staats-Bankern, die das Land in die Krise geführt hatten, wurde der Prozess gemacht. Allerdings wurde auch das nicht zum Rachefeldzug. In Island gibt es nur drei kleine Gefängnisse. Alle haben Wartelisten. Das Essen soll ziemlich gut sein. Man sitzt sowieso nur ein Drittel seiner Strafe ab. Anders als man durch die vielen grausamen Morde in nordischen Krimiserien vermuten würde, passiert auf der ganzen Insel alle Jahre mal ein unglücklicher Totschlag.
Als vor einigen Jahren der berühmte Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach und eine riesige Aschewolke den europäischen Flugverkehr lahmlegte, weigerte sich der größte Farmer am Fuße des Vulkans trotz aller Warnungen seinen Hof aufzugeben. Unbeirrt fütterte er das Vieh und brachte das von Lavaasche bedeckte Heu ein. Ein Dickschädel eben. Heute wird dort an einer der wenigen Stellen Islands Getreide angebaut, weil Lavaasche unerhört fruchtbar ist, und die modernisierten Höfe sehen aus wie Designerbauten.
Ganz entscheidend für den Erfolg der Isländer ist der Umgang mit den Bedrohungen durch die Natur. Ist es Zufall, dass in den letzten Wochen in den Medien unentwegt von Hurrikanen und Erdbeben und Überschwemmungen und Bergrutschen berichtet wurde – mehr als jemals zuvor, obwohl es so etwas immer schon gab (und auch nach dem Ende der Erderwärmung geben wird)? Naturkatastrophen ängstigen uns, aber sie haben auch eine humanistische Botschaft. Die Natur vereint uns. Ihre Bedrohungen mobilisieren die menschlichen Kräfte der Zusammenarbeit, der sozialen Kooperation. Sie erzeugen Widerstandskräfte, Resilienz.
In Fridheimar, 70 Kilometer von Reykjavik entfernt, haben Helena Hermundardottir und Knutur Rafn Armann mit ihren fünf Kindern ein ungewöhnliches Restaurantkonzept entwickelt. Es gibt nur drei Gerichte, Tomatensuppe, Ravioli mit Tomatensauce, Tomatensalat. Als Nachspeise Tomateneis und Tomatenkuchen.
Tomaten in Island, das ist so eine Sache. Nicht in Fridheimar. In den Gewächshäusern, in denen das Restaurant logiert, reifen rund ums Jahr, auch in der langen Polarnacht, eine Tonne Tomaten pro Tag. Das sind 18 Prozent des gesamten Tomatenbedarfs der Isländer. Die Glashäuser und ihre Hochenergie-Lichtlampen werden mit 1.2 Megawatt vulkanischer Wärme und geothermalen Stroms betrieben. 90 Prozent der Gurken und 75 Prozent der Tomatenkonsums der Isländer stammen inzwischen aus CO2-freien Produktionen aus dem Inland. Jetzt machen sich die isländischen Landwirte an Erdbeeren, Zucchini und, demnächst, Zitrusfrüchte.
Drei Eigenschaften, man könnte auch sagen Tugenden, scheinen mir den Kern des isländischen Erfolgsmodells auszumachen. Erstens Dankbarkeit. Isländer schätzen, was ihnen der Staat bietet; sie empfinden ihn als IHREN Staat. Zweitens eine grundlegende Zuversicht: Wer auf 35 aktiven Vulkanen lebt, hat eine positive Grundeinstellung zur Zukunft. Drittens: Selbstbewusstsein. Isländer scheinen auf eine unerschütterliche Weise in sich selbst zu ruhen. Sie müssen nicht dauernd um ihre “Identität” kämpfen. Deshalb machen sie auch nicht dauernd andere für ihre Sorgen verantwortlich.
Gestern gab es über den schneebedeckten Vulkanen die stärksten Nordlichter seit Jahren zu sehen. Ein psychedelisches Schauspiel am Himmel, in dem sich innerhalb von Sekunden gigantische Farbschleier aufbauten und wieder zerfielen. Wir standen auf dem Parkplatz eines Hotels für Touristen und Wanderer, als sich das Spektakel über unseren Köpfen entfaltete, still, ergriffen, wie in einer Kirche. Vielleicht haben Isländer neben der Zuversicht vor allem eine zentrale menschliche Fähigkeit bewahrt: das STAUNEN.
Einige glauben an Elfen. Bisweilen wird sogar eine Straße deshalb verlegt, um Elfen nicht zu verstören. Spricht man Isländer auf einen solchen Aberglauben an, lächeln sie. Staunen ist die genuine Urkraft der Zukunft.
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“We filter the past for happy memories and filter the future for gloomy prognoses. It’s a strange form of narcissism. We have to believe that our generation is the special one, where the turning point comes. And I’m afraid thats nonsense.”
Matt Ridley in “Do Humankinds best days lie ahead?”
1.
Kann man glücklich sein und gleichzeitig Angst haben? Das klingt irgendwie verrückt. Aber genau das beschreibt die Stimmungslage in Deutschland kurz vor der Wahl 2017. 80 Prozent aller Deutschen fühlen sich glücklich oder sehr glücklich, sagen uns die aktuellen Meinungsforschungen. Erstaunliche 60 Prozent schauen positiv oder zufrieden in die Zukunft. Nur 8 Prozent halten für Ihre Lage für schlecht und fürchten weiteren Abstieg. Es geht uns gut. Sehr gut sogar. Sagen die Allermeisten.
Und gleichzeitig fürchten wir uns immer mehr.
Wie kommt es, dass die Angst heute in jeder Nachrichtenzeile durchscheint, jede Talkshow durchzieht, jedem zweiten Gespräch mit dem Nachbarn den Tenor gibt? Alle Wahlstrategien reagieren nur noch auf die andere oder andere Weise auf Angst. Die CDU mit ihrer Versicherung, mit Angela Merkel werde schon nichts passieren. Die SPD mit ihrem verkrampften Gerechtigkeits-Duktus. AFD und Linke sind genuine Angst-Propagandisten; die Grünen immerhin schwanken zwischen ihrer alten Angstcodierung und einer neuen Leichtigkeit.
Wie kommt es, dass der öffentliche Diskurs zu einer einzigen Angst- und Zorn-Zelebrierung geronnen ist? Axel Hacke schreibt in seinem neuen Buch “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen”:
“Es schwappt ja seit einer Weile nicht bloss eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt – es tobt ein Ozean. Wir leben inzwischen mit vielem, was eigentlich unerträglich ist. Der sogenannte Shitstorm ist ein Ereignis, das uns vor noch nicht langer Zeit sprachlos gemacht hätte vor Entsetzen. Der Ton, der in vielen Internetforen herrscht, die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich daran gewöhnt.”
Werden Historiker demnächst unsere Zeit-Epoche, das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine ÄRA DER BÖSARTIGKEIT nennen? Das ZEITALTER DER HASS-HYSTERIEN? Woher kommt dieser ganze Wahnsinn? Eine Möglichkeit wäre, dass die Welt objektiv tatsächlich immer schlechter, gefährlicher, krisenhafter, tödlicher wird – dass die Menschen sozusagen realistisch reagieren. Aber alles, was wir über den Verlauf der Welt wissen, sagt das Gegenteil: Das Leben der allermeisten Menschen auf dem Planeten Erde wird (langsam) sicherer, wohlhabenderer, auch glücklicher. Einschliesslich unseres eigenen.
”Wir filtern die Vergangenheit nach glücklichen Erinnerungen und scannen die Zukunft nach düsteren Prognosen. Das ist eine seltsame Form des Narzismus.”
Matt Ridley, ein angelsächsischer Hoffnungs-Philosoph.
Was wäre, wenn nicht die Welt in der Krise ist. Sondern die Angst SELBST die Krise IST? Wenn wir es mit einer Form kollektiver Angststörung zu tun haben, die in der hypermedialen vernetzten Welt neue Dimensionen annimmt?
2.
Zunächst: Angst ist notwendig. Ohne Angst würden wir als Individuen, als Spezies, nicht existieren. Angst ist das, was unsere Vorfahren dazu befähigte, unsere Vorfahren zu werden. Im psychologischen Spektrum des Homo Sapiens ist die Grundstimmung immer etwas in den roten Bereich der Angst versetzt – das war wahrscheinlich sein evolutionärer Vorteil gegenüber den eher gemütlichen Neandertalern, die sich gerne in ihren Höhlen verzogen und träumten.
Die Rotverschiebung der Gefühle hat einen einleuchtenden evolutionären Zweck: Sie soll uns wach halten. Die Welt ist voller Gefahren, und es gilt, schnell kampfbereit oder fluchtbereit zu sein. Angst führt auch dazu, dass wir uns enger mit denen zusammenschliessen, die wir als zugehörig empfinden. So entstehen kollektive Kampfbereitschaften.
In einer saturierten Umwelt wird diese Rotverschiebung aber eine Art mentales Problem. Die Angst bildet ständig Überschüsse, die auch auf der linken Autobahnspur nicht abgebaut werden können. Sie kann sich nicht mehr auf eine konkrete Bedrohung richten, sondern mäandert um Phantasien und Übersteigerungen, Imaginationen und Befürchtungen herum. Under hypermediales Medien-System bietet Unmengen solcher Angstmöglichkeiten an – und verdient damit Geld.
Unsere humane Angst hat immer schon mentale und kulturelle Techniken der Angstbannung hervorgebracht. Die grossen Erzählungen der Menschheit, die Religionen. Mythen und Sagen, sind nichts anderes als angstlösende Meme, in denen Heil und Erlösung, Schrecken und Suspense geboten wird. Wenn wir ins Kino gehen, wollen wir beim gemeinsamen Fürchten unsere Angsthomone freisetzen, um sie gleich wieder einzufangen – wenn das Monster am Ende nach unendlich vielen Flucht- und Gefahrenmomenten in die Luft gesprengt wird, wenn der Täter des schrecklichen nordischen Krimis gefasst ist und bereut, ist Entspannung angesagt. Eine gigantische mediale Branche lebt von diesem Dreh.
Aber irgendwann kann es auch zu viel werden. Angst bricht dann aus ihren kulturellen Containern aus. Sie erzeugt ein Ohnmachtsgefühl, das durch Wut und Hass kompensiert wird. Was wiederum neue Angst erzeugt. So entsteht ein negatives perpetuum mobile: Wir erzeugen das, was wir fürchten, auf vielfältige Weise durch die Angst selbst. Jeder Liebende hat das schon einmal erfahren.
Der Philosoph Alain de Botton drückte die Lage des Menschen im Universum der Angstmöglichkeiten so aus:
“Unsere Hirne sind wie fehlerhafte Walnüsse, die auf unserem Rückgrat sitzen und dauernd falsche Impulse abfeuern: sie sind aggressiv, sie erinnern nicht, was sie sollten, sie sind mit allen möglichen wenig hilfreichen Antrieben ausgestattet. Wir haben versucht, Zivilisation zu erzeugen, um einige der schlimmsten Egoismen der faulen Walnüsse auszugleichen. Zivilisation ist so etwas wie ein Über-Hirn, das sich um das kleine Hirn kümmern soll, das völlig fehlerhaft funktioniert.”
Kollektive Angststörungen sind als historische Phänomene keineswegs neu. Und sie haben zweifelsohne den Verlauf der Geschichte beeinflusst.
Die Geschichte der verdichteten Angst beginnt schon in den ersten Stadtstaaten der Vor-Antike, als Menschen zum ersten Mal auf verdichtetem Raum zusammenlebten. Trommeln und Tanz, die ursprünglichen Soziotechniken des Angst-Abbaus, kamen hier nicht mehr so gut zum Zuge. Der Exodus Jerichos war eine religiöse Hysterie, und die vielfältigen Paranoia-Epidemien der römischen Upper Class trugen sowohl zum Aufstieg als auch zum Fall des römischen Imperiums bei.
Das drastischste Beispiel für fatale Angst-Epidemien ist vielleicht das Schicksal der Maya. Diese Hochkultur ging nicht an den Spaniern zugrunde – obwohl der Kolonialismus gewissermaßen die Reste abräumte. In den Ritualen des Herzausreissens, die zum Ende der Maya-Zeit immer intensiver wurden, zeigte sich eine zum Terror gewendete Panik, die schließlich den kompletten gesellschaftlichen Zusammenhang der Maya-Kultur zerstörte.
Ähnliches kann man in der mörderischen Hybris und Grandiosität des Nationalsozialismus sehen: Eine kollektiv depressive Angst-Hysterie. Der heutige Kim-Yong-Un-Horror in Nordkorea ist ohne die Traumatisierungen durch den Koreakrieg in den frühen 50er Jahren nicht verstehbar. Auch subjektive Angststörungen sind nicht neu: Dem ersten Weltkrieg ging die Epidemie der “Neurasthenie” voraus, einer “Hochnervosität”, vor der um 1900 jeder vierte Deutsche befallen war.
“Angst essen Seele auf” hieß ein ikonographischer Film von Rainer Werner Fassbinder, dem genialen Paranoiker der 70er Jahre. Damals, im Beginn des Wohlstands-Aufschwungs, war Angst auf eine seltsam coole Art noch produktiv. Sie gehörte den Kritischen, den Abweichlern, den Rebellen. Weil der große Rest der Gesellschaft auf Harmonie beharrte, galt Angst als eine Art Adelsprädikat des Authentischen. Heute hat sie sich vermasst, wie Ryanair den Flugverkehr vermasst hat; es gibt sie sozusagen als Trash-Variante in jedem Supermarktregal. Und jeder, der äußert, dass er Angst hat, verlangt damit gleichzeitig Subventionen der Zuneigung.
4.
Es ist die Konvergenz von DREI Megatrends, die die heutige Angst-Epidemie ausgelöst haben: Globalisierung, Digitalisierung, und Saturierung.
Seit spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden Waren quer über den Planeten geschifft, und mit ihnen immer mehr Gedanken, Menschen, Ideen: Nutzniesser des Globalen waren “Wir” im Westen, und das verschaffte uns ein Gefühl selbstgewisser Überlegenheit, das auch die westlichen Gesellschaften innerlich zusammenhielt. Selbst als die vom Krieg geschlagenen Deutschen mit dem Opel in den 60ern nach Italien rollten, fühlten sie sich noch grandios überlegen (mein Vater war zwei Jahrzehnte in anderer Rolle, in Uniform, dort gewesen).
In den 80er Jahren kam es dann zu den ersten Irritationen, als die Globalisierung schlichtweg KOMPLEXER wurde. Damals zerstörte “der Japaner” die deutsche Elektronik-Industrie, und plötzlich sollten wir alle Japaner werden, bei Strafe des wirtschaftlichen Niedergangs. Aber noch lange blieb der globale Nexus weit in der Ferne: Nachrichten aus anderen Ländern blieben exotisch, selbst-bestätigend. Wenn “draußen” Chaos herrschte, konnten wir unser eigenes Idyll umso mehr genießen.
Das änderte sich mit dem 11. September, der Bankenkrise, Fukushima, den Flüchtlingen des Syrienkrieges. Plötzlich leben wir auf einem Planeten, der tatsächlich RÜCKWIRKUNGEN erzeugt. Alles hängt miteinander zusammen, und wir entwickeln eine genuine ZUGEHÖRIGKEITS- ANGST : Wer sind “Wir”, wenn wir uns nicht mehr abgrenzen können vom gewaltigen Chaos der Welt?
Menschen bekommen Angst im Dunklen, wenn sie den TRIBE verlieren. In der Urzeit – jener Zeit, die unser Hirn, unsere Mentalität – prägte, waren verloren, wenn wir unsere unmittelbaren Bindungen verloren. Deshalb ist es so wichtig, zu wissen, auf wen man sich verlassen kann. Und wie man die anderen auf Distanz halten kann. Beides aber – Zugehörigkeit UND Distanz wird uns im sozialen Internet immer nur vorgegaukelt. Im Netz irren wir umher auf der Suche nach Bindungen, die sich aber immer wieder als FAKE erweisen, ebenso wie die NEWS, die nur noch Erregungen sind, denn Erregungen sind der Rohstoff, auf dem das digital-mediale Netz basiert.
Digitalität bedeutet ständige Echtzeit, ständige Vergleichbarkeit. Bin ich schöner, fitter, reicher, dümmer, wichtiger als alle anderen? Was sind meine Assets, meine Wirksamkeiten, meine Klicks, meine Likes? Kein Wunder, dass aus dieser ständigen Überreizung die Paranoia vor dem Versagen entsteht, kompensiert in Millionen Wutausbrüchen und Hassstürmen. Der islamische Terrorismus ist nur die extremste Form dieses Resonanz-Phänomens.
Schließlich ist es paradoxerweise der sichere Wohlstand selbst, der uns in die Angst treibt.
Beamte auf Lebenszeit haben die meiste Angst vor der Zukunft. Saturierung wirkt auf paradoxe Weise angsterregend auf die Psyche. Wir trauen dem Braten nicht. Der alte Stammeskrieger in uns wird misstrauisch, wenn es lange Zeit im Busch nicht raschelte, der Sturm längere Zeit ausblieb. Es KÖNNTE etwas geschehen. ES KÖNNTE uns etwas weggenommen werden! Alles KÖNNTE sich als ein Trick des Nachbarstammes erweisen, der uns überfallen will!
Ein bisschen Unsicherheit tut uns gut, ebenso wie ein bisschen Hunger, und ein bisschen Angst. Wenn alle Herausforderung fehlt (oder wir sie nicht annehmen) , fallen wir in eine innere Starre. Wir gehen in die Regression. Die kann Rassismus heißen, oder Nationalismus, Depression, oder einfach apokalyptisches Spießertum, wie es heute weit verbreitet ist: Den Untergang in ständiger Komfortabilität beklagen, und sich dabei eigentlich pudelwohl fühlen.
5.
Sind wir als genuine Angstwesen der modernen Welt einfach nicht gewachsen? Wird die atavistische Furcht die zarten zivilisatorischen Bande zertrümmern, die die Weltgesellschaft zusammenhalten? Stehen wir vor dem, was Hans Magnus Enzensberger einmal den “Molekularen Bürgerkrieg” nannte – Gruppe gegen Gruppe, Kultur gegen Kultur, Jeder gegen Jeden?
Es gibt viele solcher pessimistischer Befunde.
Ich glaube das nicht. Wir leben heute in einer radikal anderen Welt als vor hundert Jahren. Was wir der heutigen Weltlage unterstellen – tiefe Spaltung, immerwährender Konflikt – war vor einem Jahrhundert viel tiefer, katastrophaler ausgeprägt als heute. Die global-mediale Vernetzung macht uns nervös, aber sie bildet gleichzeitig einen Puffer. Die neue Konnektivität der Welt erzeugt nicht nur Panikströme, sondern auch Ideen, Lösungen, Enklaven der produktiven Kooperation. Vieles, was wir heute als Krisen wahrnehmen – etwa das dunkle Rätsel Trump – könnte sich als eine Art heilsame Infusion von Unsicherheit herausstellen, die am Ende die Immunkräfte von Pluralität und Demokratie stärkt.
Wer genau hinhört ins Rauschen der Welt, kann heute schon einen neuen Kosmopolitismus spüren, eine universelle Konnektivität, die jenseits der alten Ideologien agiert. Rechts und Links als politische Konzepte haben sich überholt. Ebenso der Schein-Konflikt zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Die Geschichte des Menschen ist die Geschichte der Angst. Und ihrer Überwindung durch neue Kooperationen, neue Verbindungen, neue Bewusstseins-Bildungen. Jeder Einzelne von uns muss irgendwann entscheiden, auf welcher Seite er steht. Auf der Seite der Angst. Oder der Zukunft.
Wie die Häme als Kommunikationsprinzip über uns kam – und wie wir sie überwinden können.
August 2017
Wann hat eigentlich die Bösartigkeit als Umgangsform ihren Siegeszug begonnen? Vielleicht schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ein Feuilletonist namens Christian Schultz-Gerstein serienweise gehässige Personen-Zerrisse im SPIEGEL schrieb. Er hatte einen unglaublichen Riecher für die Empfindsamkeit von Menschen; dort schlug er besonders zu – aus der sicheren Position eines Magazins mit fast absoluter Deutungsmacht. Mitte der Achtziger wurde Schultz-Gerstein Kulturchef des Blattes, das Ganze endete tragisch im Jahre 1987, mit einem Suizid.
Seitdem hat sich der Tonfall des Abwertens, der rücksichtslosen Negativität, Zug um Zug ausgebreitet. Was früher das “Kritische” war, geht heute unter die persönliche Gürtellinie. Man hört den Sound der Bösartigkeit in jeder Polit-Talkshow, findet ihn im Feuilleton konservativer Zeitungen. Besonders im Internet haben sich die Fluttore weit geöffnet: Wer etwas vorzuschlagen hat im gesellschaftlichen Raum, der trifft auf eine Meute von Höhnern und Hämern mit und ohne Rechtschreibkenntnisse. Wer die Kommentarbereiche der Medien liest, kann bisweilen an der Menschenwelt verzweifeln – eine riesige Armada von zynischen, selbstgerechten Dauerbesserwissern scheint jede echte Debatte über die Zukunft unmöglich zu machen.
Sind “wir” generell bösartiger, narzisstischer, menschenfeindlicher geworden? Ich glaube das nicht. Die meisten Menschen sind heute eher zugewandter, differenzierter, offener in ihren Meinungen und Weltbildern. Es ist erstaunlich viel Güte in der Welt. Aber für das Bösartige ist es viel leichter geworden, Resonanzräume zu erschließen, strategische Machtpositionen zu besetzen.
Bösartigkeit entsteht immer aus einer Verletzung, deren Kompensation man nur in der Abwertung anderer finden kann. Menschen werden bösartig, wenn in ihrem Inneren ein existentieller Konflikt tobt, der sie in tiefe Ohnmachtsgefühle zwingt. Kim Jong Un hat eine panische Angst, das Lebenswerk seines Vaters und Großvaters, eine halbwegs funktionierende Diktatur, zu verspielen. Also muss er mit Atomwaffen fuchteln, auf tausend Kanälen in die Welt schreien und sein dunkles Land immer finsterer machen. Trump hat eine ähnliche Versagensangst, die ihn dazu treibt, herumzuschreien wie ein kleines Kind. Nach ähnlichem Muster, nur im kleineren Maßstab, funktionieren die Millionen von Internet-Trolls und Bildschirm-Hassern.
Hinter der Bösartigkeit steht immer eine furchtbare Sehnsucht nach Grandiosität. Der Internet-Troll, der Diktator, der intellektuelle Häme-Schreiber, ist immer derjenige, der sich seine eigene Größe im Leben nicht zuschreiben kann. Im Erniedrigen anderer erlebt man endlich Selbstwirksamkeit. Die Bösartigkeit ist die Waffe der Würstchen.
Einer der der wichtigsten Wegbereiter der Bösartigkeit ist die Nulldistanzwaffe Internet. Im digitalen Kommunikationsraum fehlt der entscheidende Faktor des Augenkontaktes, jener menschlichen Rückkoppelung, mit der wir – unsere Vorfahren – in Kleingruppen gelernt haben, unsere aggressiven Affekte zu zügeln. Blicke können auf subtile Weise verzeihen, moderieren, einlenken. Blicke VERBINDEN uns mit anderen Menschen, auch wenn sie uns fremd sind. In der wirklichen sozialen Welt hilft Schüchternheit bei der Verständigung. Im Internet fehlt dieser Rückkanal, und so entsteht das, was Psychologen “risikoloses Risikoverhalten” nennen.
Es ist also schlicht die Gelegenheit, die die menschliche Bösartigkeit herauskitzelt. Dazu kommt der gigantisch gestiegene Marktwert der Erregung selbst. Im rasenden Konkurrenzkampf der Medien ist Erregung das Gold, dass alle gierig schürfen wollen. Man schaue sich einfach im nüchternen Zustand die digitalen Nachrichtenportale an. Weil der Klick die zentrale Währung ist, schnurrt die Weltvermittlung der digitalen Medien auf eine einzige Reizerzeugung zusammen; ein unentwegtes Verunsichern, Angstmachen, Polarisieren, Übertreiben, Skandalisieren…
Der bösartige politische Populismus ist das logische Resultat dieser medialen Mutationen. Populisten geht es immer nur darum, jeden Versuch besserer Lösungen zu denunzieren, Kapital aus den Ängsten zu saugen, das Negative zu übersteigern und Hysterien zu schüren. Populismus ist die Troll-Strategie des Politischen, Mister Trump lässt grüßen.
Was also tun? Ignorieren mag meistens das Beste sein, um die geistige Entzündung nicht noch weiter anzuheizen. Aber manchmal lohnt sich auch eine andere Strategie. Dunja Hayali hat das wunderbar mit ihrer witzigen Mail gegen den “endgeilen Ficker” Emre gemacht. Sie hat den Shitstorm-Schreiber quasi in den Arm genommen und ihn in seiner eigenen Sprache getröstet. Großartig. Nur wie kriegen wir das mit Trump und Kim Jong Un und endgeil24# hin?
Nicht durch eigenen Groll ist die Bösartigkeit zu überwinden, sondern nur durch ein leuchtendes Ja zum Nein, das die Bösartigkeit ausdrückt. Genau dieses Ja lässt sich nun spüren. Da sind einerseits die neuen Achtsamkeits-Medien wie Brand Eins oder Perspective Daily, die sich um einen neuen Tonfall der Anerkennung bemühen. Sogar im SPIEGEL, diesem Hort der anmaßenden Arroganz, liest man plötzlich Texte mit einer eigentümlichen Rührung und Berührung; Reportagen, in denen Hoffnung, ja sogar Optimismus mitschwingt. Es kommt etwas in Bewegung. Für das Stille. Das Kluge. Das Sorgfältige. Das Abwägende. Das Freundliche. Für die Güte, die Geduld, den Respekt. Die Abwägung. Die Milde. Die Bescheidenheit. Die Dankbarkeit. Die Großzügigkeit. Und ja, auch die Scham, die notwendig ist, damit wir unsere Affekte nicht einfach rausplärren in die Welt wie kleine dumme Kinder. Das ist die nächste Stufe des Achtsamkeits-Trends: Die Wiederentdeckung der Tugenden des Zwischenmenschlichen in der Kommunikation zwischen Menschen.
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Gustave Flaubert war ein charmant-arroganter Schriftsteller mit einem Riesenschnauzer und einem Ego doppelt so groß wie der Eiffelturm. Der französische Schriftsteller verstand sich als „unerbittlicher Realist”, der die Sitten und Gebräuche seiner Zeit exakt aufzeichnen wollte. Eines der größten Hindernisse für die Klugheit der Menschen stellten für Flaubert die Zeitungen dar, die Mitte des 19. Jahrhunderts das gesellschaftliche Leben in Paris zu dominieren begannen. Zeitungen, so Flaubert, führen zu einer Art „Hirnverbrennung”. Die „Modernen Neuigkeiten”, so Flaubert, „präferierten Idioten und machten aus vernünftigen Menschen Sklaven von bizarren Urteilen aller Art.” In seinem Werk „Wörterbuch der Gemeinplätze” beschrieb Flaubert die Zeitungs-Klischees seiner Zeit:
Staatsbudget: Niemals ausbalanciert
Obrigkeit: Versagt immer
Bankiers: Alle reich, Halsabschneider, Blutsauger
Mädchen: Sind immer „blass” und „zerbrechlich”
Matratze: Je härte, je gesünder
Ehrgeiz: Immer „blind”
Fortschritt: Immer „übereilt”
Körperübungen: Verhindern alle Krankheiten. Jederzeit zu empfehlen!
Fotographie: Wird leider die Malerei überflüssig machen
Verbrecher: Immer ein „übler”!
Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Oder gemein gefragt: Könnte man heute „Zeitungen” nicht einfach durch „Talkshow” ersetzen? Deutsche Talkshows, Sendezeit zwischen 9 Uhr und 11 Uhr abends. Seit Jahren schon erklären uns Talkshows die Welt und die Zukunft. Das ist – oder wäre – ihre Aufgabe in einem Mediensystem wie dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, für das wir alle Gebühren zahlen.
Fragen machen Zukunft
Schauen wir uns die typischen Frage-Teaser einiger Talkshows von Sandra Maischberger, Anne Will, Frank Plasberg oder Maybrit Illner an:
„Kann der Staat seine Bürger noch schützen?”
„Immer mehr Ausbeutung – Arbeitswelt vergiftet?”
„Gift in der Nahrung – werden wir alle krank?
„Gestresst und Abgebrannt – Volkskrankheit Burnout?”
„Notruf im Wahljahr – Wie sicher ist Deutschland?”
„Wenn Terror Alltag wird – Ist Mutig sein jetzt Bürgerpflicht?”
„Gewalt in Hamburg – Warum versagt der Staat?”
All diese Titel stellen eine Frage, die zugleich ihre negative Antwort beinhaltet: „Deutschland ist unsicher.” „ Der Staat hat versagt.” „Die Welt wird immer ungerechter.” „Wir werden alle krank.” „Der Terror ist Alltag.”
Das sind aber nichts anderes als die Argument-Plattformen des bösartigen Populismus, wie er sich seit einigen Jahren entwickelt hat.
Die Kognitionspsychologie sagt uns, dass in der Art und Weise, wie Fragen formuliert sind, unser Hirn bereits die Antwort erwartet. Wie man in die Welt hineinfragt, so schallt es heraus. Fragen „primen” – formen – unser Hirn in eine bestimmte Richtung, geben ihm eine prä-diktive Richtung. Die Voraussage all dieser Fragen lautet: Alles wird immer schlechter!
Das ist das erste signifikante Merkmal der deutschen Talkshows: In den Fragestellungen kommt die Zukunft im Sinne von Lösungen kaum vor. Wer die drastischste Formulierung wählt, die dramatischste Schuldzuweisung, der wird mit Sicherheit immer wieder eingeladen. Daraus besteht die Selbst-Selektion der Talkshow-Teilnehmer. Sarah Wagenknecht, die sehr genau weiß, wie sie ihre immer gleichen Neoliberalismus-Schuldzuweisungen kontrapunktisch setzt, um alle anderen am Tisch zur Weißglut zu reizen, ist die Königin. Thilo Sarrazin und Frauke Petry waren eine Zeitlang Dauergäste, deren Anwesenheit schon reichte, um die Quote hochzuhalten. Werner Sinn, der Alarmist aus dem Ökonomenlager, war die Daueraufregungswaffe der frühen Zehner-Jahre. Eine dauerschlechtgelaunte Ideologin wie Jutta Dithfurth musste logischerweise irgendwann den sensiblen Dauergast Wolfgang Bosbach aus dem Studio räumen. Und schon hat die Talkshow-Welt hat wieder eine kleine Sensation. Politische Talkshows sind längst Teil der allgemeinen Erregungskultur geworden, in der es immer weniger um Erkenntnis geht, aber immer mehr um Emotionen und Klischees.
Wie entfaltet der rechte Populismus unserer Tage seine Wirkung? Klar: Durch Spaltungs-Polemik und den Vormarsch in die Parlamente (die in der zweiten Phase entmachtet oder abgeschafft werden sollen). Aber das ist nur ein kleiner Teil der populistischen Wirksamkeiten. Die wahrhafte „Arbeit” des Populismus besteht in der Erzeugung von aggressiven Memen. Meme sind Wort-Muster, oder auch Denk-„Frames”, die sich rasend schnell ausbreiten können – von Kopf zu Kopf, von Hirn zu Hirn, von Seele zu Seele – siehe auch Johannes Hillje, „Propaganda 4.0” – Wie rechte Populisten Politik machen.”
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Gefahr für das Volk, Lügenpresse, Ungerechtigkeit, Volkskörper, Ausmisten, Terrorgefahr, Grünlinks versifft, Eliten…
Populismus nutzt immer Verschwörungs- und Feindbilder, kombiniert mit Hygienevisionen und Krankheitsängsten. Zwar gebrauchen die Polit-Talkshows nicht direkt das rechtsradikale Vokabular. Aber populistische Vokabeln infiltrieren als Verdachtsstellung den ganzen Diskurs. Haben wir nicht doch eine Lügenpresse? Müssen wir uns nicht wirklich Sorgen um das Volk machen? Manchmal werden auch populistische Vokabeln direkt übernommen: Flüchtlingsflut, Flüchtlingswelle…
Populismus arbeitet mit Angst, und darauf zielen praktisch auch alle Moderatoren-Fragen. „Müssen wir nicht Angst haben?” ist die meistgestellte Frage von Anne Will bis Frank Plasberg. Auch der vergiftete ironische Tonfall des Populismus ist manchen Moderatoren nicht fremd – im Zweifel fällt die Balance zwischen Härte und Fairness zugunsten schlampig-zynischer Härte aus.
In deutschen Talkshows geht es, wie im populistischen Furor, häufig um Opferkonstruktionen. Der Bürger, der vom Rand des Publikums aus sein Opfer-Plädoyer hält, ist immer im Recht: „Die Politiker haben versagt…!”. Der Zornbürger ist der Legitimierte, der Empowerte unserer Zeit. Genau hier liegt der Schulterschluss der Talkshows mit dem Glutkern des Populismus – des linken wie des rechten.
Natürlich ist das jetzt alles furchtbar ungerecht. Natürlich gibt es auch vernünftige Diskussionen in deutschen Talkshows. Und manche gekonnte Moderation. Bisweilen gelangen auch nachdenkliche Menschen und kluge Gedanken ins Studio. Und schaffen es, zumindest kurz zu Wort zu kommen.
Niemand möchte zurück zu den rauchigen Werner-Höfer-Runden, in denen die Teilnehmer weinselig einen bundesrepublikanischen Cognak-Konsens zusammenstrickten. Aber vielleicht haben politische Talkshows im Erregungs-Zeitalter schlichtweg ein generelles Format-Problem. Leben gute Talkshows nicht eher von der lustvollen Spannung zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen? In den Personality-Talkshows der 90er Jahre wurde das durchaus charmant inszeniert, damals entstanden begnadete Momente des Authentischen, gerade weil es noch um Spontaneität statt Polemik ging, um Nähe statt Polarisierung, um das Erzählen von Geschichten statt Schuldzuweisungen.
Trotzdem brauchen wir auch in Zukunft politische Talkshows, denn der öffentliche politische Diskurs hat auch im Internet kein anderes Gefäß gefunden. Aber können spannende Diskurse nicht auch aus Zu-Wendung und „Mitverstehen” entstehen? Muss unsere öffentliche politische Debatte den amerikanischen Weg nachvollziehen, sich an den Hass- und Polarisierungsdebatten im Internet messen? Der Kern aller Gesellschaft ist Vertrauen, und je komplexer eine Gesellschaft wird, desto wichtiger ist diese geheimnisvolle Ressource. Der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann, formulierte: „Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität”.
Man könnte die Talkshow-Fragen auch ganz anders stellen – von einer möglichen (guten) Zukunft her:
Wie können wir Menschen anders als mit Verteilungs-Bürokratien am Wohlstand beteiligen?
Wie können wir Arbeit erfolgreich flexibilisieren?
Wie entwickeln wir Demokratie weiter?
Wie kann Digitalisierung gelingen – gesellschaftlich, für Unternehmen, für jeden Einzelnen?
Was ist die Bedeutung der Emotionen in einer Daten- und Informationsgesellschaft?
Wie gelingt gutes Leben?
Wer so fragt, der lässt in seinem Hirn Platz für das Dopamin der Erkenntnis. So etwas hätte keine Einschaltquote? Emmanuel Macron findet mit seiner konsequenten Verweigerung von Entweder-Oder-Positionen hohe Aufmerksamkeit. Das „Deutschland Spricht”-Experiment der Hamburger ZEIT, in dem 600 Menschen mit konträren politischen Ansichten an einen Tisch gebracht wurden, war ein großartiger Versuch. Im dänischen Fernsehen gibt es inzwischen Talkshows mit „Lösungszwang”. Alle an einem gesellschaftlichen Problem Beteiligten sitzen solange um einen runden Tisch, bis eine Konsens-Lösung gefunden ist.
Eine solche Regel kehrt die Spielregeln um: Nicht wer die größten Standardformeln bringt, wird beklatscht, sondern der/diejenige mit dem klügsten Kooperations-Vorschlag. Leben ist Beziehung. Zukunft basiert letztendlich auf dem Vertrauen, für alles eine Lösung zu finden, auch für das, was schwierig erscheint.
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Seit 6 Jahren fährt meine Familie Elektroautos. In dieser Zeit haben wir so ziemlich alles erlebt. Vom wohlwollend-zynischen Schulterklopfen (“Einer muss ja anfangen, die Welt zu retten…”) über Mitleid (“Das soll ein Auto sein?”) bis zum ideologischen Hass-Kommentar (“Vorreiter der grünen Diktatur!”).
Heute scheint sich die Debatte auf eine Entscheidungsschlacht hinzubewegen. Auf der einen Seite recken plötzlich Passanten den Daumen nach oben und lächeln selig, wenn sie unser neues Autos sehen. Andererseits herrscht eine unterschwellige Aggression, eine hysterische Abwehr-Wut. In der Wirtschaftswoche erschien neulich ein Artikel, in der suggeriert wird, dass Tesla-Fahrer demnächst von Lastwagen- und SUV-Fahrern in Raststätten verprügelt werden. Die Öko-Arschloch-Elite…
Je mehr herauskommt, dass die ganze Autobranche ein einziger Lügenbold ist, desto mehr verteidigen die Leute ihre Schummel-Software-Audis. Typischer Dialog:
Bekannter: “Diese E- Dinger sind einfach unzuverlässig. Wie soll ich ein Auto fahren, dass an jedem Berg hängenbleibt?”
Frage: “Wie viel Strecke fährst Du denn jeden Tag?”
Bekannter: “60 Kilometer, zur Arbeit und zurück. Aber die gehen ja nur 50 Kilometer weit.”
Frage: „Wo hast Du das gelesen?”
Bekannter: „In der Zeitung. Elektroautos verpesten übrigens die Luft mehr als Diesel. Und sie sind irre teuer, das kann sich kein Schwein leisten.”
Frage: „Und was hat Dein Autos gekostet?”
Bekannter: „Naja, so eine Vollausstattung mit 350 PS kostet schon sechsstellig…”
Und so weiter. Elektroautos lassen das Stromnetz zusammenbrechen, sie sind Arbeitsplatzvernichter, sie erzeugen mehr CO2 als die Polizei erlaubt und beuten Kongolesen aus. Nach dem Muster von Klimaleugnung und Impf-Verschwörung wird jedes Gerücht, jede Lobby-Studie, erstmal geglaubt und kolportiert.
Wie ist die Lage? Es gibt ein berechtigtes Bedürfnis von Milliarden Menschen nach individueller Mobilität. Wir haben einen Planeten, der sich durch fossile Energien aufheizt. Etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen stammen vom Verkehr. Wir haben eine ausgereifte Ersatztechnologie zur Verfügung, die elegant und sexy ist und mit dem Faktor 3-4 effektiver in der Umsetzung von Bewegungsenergie.
Klar braucht ein solcher Antriebswechsel Anpassungen – in der Energieversorgung, in der Produktionsweise, bei Recyclingsystemen. Aber im Vergleich zu dem, was der historische Übergang vom Pferd zum Verbrenner an Aufwand benötigte und Verheerungen produzierte, ist das harmlos.
Wenn man mit die Energie-Einsparung durch stillgelegte Raffinerien einbezieht, brauchen wir 10 bis 25 Prozent mehr Strom als heute, um alle Autos zu elektrifizieren. Das ist kein Drama, sondern eine spannende Herausforderung. Man muss es nur wollen.
Aber immer sich etwas Grundlegendes verändert, klammern wir uns umso mehr am Gewohnten fest. Wir geraten in eine Art Trance. Wir lügen uns selbst an und lassen uns gerne anlügen. 1914 wollte man nicht akzeptieren, dass das Zeitalter der Groß-Monarchen zu Ende ging. Als der erste Weltkrieg verloren ging, wollte ein Großteil der Deutschen nicht einsehen, dass man moderne Kriege nur verlieren kann. Nicht einsehen konnten die Amerikaner trotz Vietnam, dass man die Welt nicht mit dem Löffel umrühren kann. Nicht einsehen will Trump, dass man mit Herumumschreien nicht einfach das kriegt, was man will. Nicht einsehen möchte man, dass es lohnt, eine bestimmte Phase im Leben hinter sich zu lassen. Oder in der Liebe ein Neuanfang nötig ist.
Das Problem besteht darin, dass wir dazu neigen, die Zukunft immer nur vom Problem her zu betrachten. Wir fixieren uns statisch auf das Negative, auf das was schiefgehen könnte. Aber wer beim Abnehmen immer nur an Essen denkt und beim Rauchen-Aufhören an den Griff zur Zigarette, wird es nie schaffen. Wandel wird hingegen ganz leicht, wenn wir die Betrachtungsrichtung umdrehen. Wenn wir uns selbst in die Zukunft versetzen, verstehen wir plötzlich gar nicht mehr, wie man jemals Zigaretten anrühren konnte.
Im Jahr 2037 wird sich niemand mehr vorstellen können, dass diese ruckenden, brummenden Dinger mit den obszönen Rohren hinten dran so begehrenswert waren (wenn ich heute Diesel fahre, ist das wie auf einen Traktor umsteigen). Ladung gibt es dann in jedem Cafe, an jeder Ecke, wie heute schon in Oslo. Oder direkt beim Fahren per Induktion durch die Strasse. Autos sind billig, aber nicht mehr unbedingt Symbole, mit denen man andere auf Distanz hält. Die Motorenbauer sind längst in anderen Berufen untergekommen, zum Beispiel in der Adaptive-Grid-Branche. Es gibt berühmte Auto-Designer – Autos haben wunderbare neue elegante Formen, sie gleiten statt zu rasen. Niemand wird mehr ein Fünftel seines Lebens damit verbringen, eine Maschine zu bedienen und ärgerlich im Stau zu stehen.
Die zweite elektrische Revolution wäre dann vollendet. Der Erfinder NicolasTesla sah den Siegeszug der elektrischen Bewegungsenergie schon vor 100 Jahren voraus: “Everything is spinning, everything ist moving – everywhere THERE IS ENERGY!”.
Schauen Sie sich den wunderbaren Werbeclip “It is not a Dream”an, der Tesla-Fans für ihre Marke produziert haben. Mit Originalton des Visionärs: https://vimeo.com/152927644
It is not a dream, it is a simple feat of scientific electrical engineering, only expensive – blind, faint-hearted, doubting world! […]
Humanity is not yet sufficiently advanced to be willingly led by the discoverer’s keen searching sense. But who knows? Perhaps it is better in this present world of ours that a revolutionary idea or invention instead of being helped and patted, be hampered and ill-treated in its adolescence – by want of means, by selfish interest, pedantry, stupidity and ignorance; that it be attacked and stifled; that it pass through bitter trials and tribulations, through the strife of commercial existence. So do we get our light. So all that was great in the past was ridiculed, condemned, combatted, suppressed – only to emerge all the more powerfully, all the more triumphantly from the struggle.“
Nikola Teslaü>
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Unser politisches Denken und Fühlen ist zutiefst geprägt von einer ideologischen Spaltung, die tief aus dem 19. Jahrhundert stammt und im industriellen Zeitalter unser Denken, unsere soziale Wirklichkeit, ja die ganze Gesellschaft geformt hat. LINKS gegen RECHTS. In dieser Formel konzentriert sich die Welt-Ordnung des Industriesystems. Einer Gesellschaft, in der Klassen und Schichten entlang industriegesellschaftlicher Verhältnisse geprägt waren: Lebenslange Arbeitsplätze als Ideal, die Kern-Kleinfamilie als vorherrschendes Lebensmodell, ein gesellschaftlicher Kooperatismus, der vor allem Parteien, Lobbys und Interessensgruppen bevorzugte, gesellschaftliche Selbstorganisation jedoch eher geringschätzte.
Selbst wenn die Gesellschaft heute kaum noch der alten Klassengesellschaft ähnelt, wenn Individualisierung, Alltags-Hedonismus und Toleranzkultur das Konservative längst erobert und (kluge) Linke heute längst wissen, dass Klassenkampf ein Verlustspiel ist – das alte Links-Rechts-Denkschema beherrscht zäh die Hirne, die Emotionen, die inneren Einstellungen und gesellschaftlichen Diskurse. Es okkupiert in fast totalitärer Weise die emotionalen Energien der Politik.
Aber weder „linke” noch „rechte” Politik kann in einer pluralen, globalisierten, vernetzten Gesellschaft sinnvolle Lösungsangebote machen. Die heutige Krise des Politischen lässt sich als eine chaotische Auflösung des überfälligen Rechts-Mitte-Links-Schemas aus der Gesellschaft heraus lesen. Die Empörungs- und Erregungs-Ströme, die durch die Medien und das Internet beschleunigt und verstärkt werden, führen zu massiven Turbulenzen im alten Parteien- und Politik-System.
Dabei vertauschen sich zunehmend die Fronten. Rechte argumentieren und agieren plötzlich revolutionär und rebellisch, Konservative verteidigen vehement kulturelle Vielfalt und Toleranz, Linke wirken wie Privilegienbewahrer aus dem vergangenen Jahrhundert, oder aber sie greifen die Formeln der Neuen Rechten einfach auf. Populisten verhalten sich dagegen wie Kleinkinder in der lustvollen Volltrotzphase – Trump ist ein Sponti des 21. Jahrhunderts.
Rekapitulieren wir noch einmal die alte Ordnung der politischen Lager: Linke begreifen den Staat als großen sozialen Gleichheitsgenerator, der den Markt reguliert und kontrolliert. Konservative präferieren einen Ordnungs- und Verwaltungsstaat, der auf Distanz zum Gesellschaftlichen geht, während Rechte den Staat eher als Macht-Instrument für autoritative Verhältnisse begreifen. Liberale plädieren meistens für eine simple SCHRUMPFUNG des Staates. All diese Konzepte sind in komplexen Gesellschaften, im Zeitalter der digitalen Globalisierung, unterkomplex, unzureichend. Das ist der eigentliche Grund für den Vormarsch des Populismus, der das Politische ins Reich der Emotionen verlagert. Im Populismus geht es, wie der Psychologe Wolfgang Schmidtbauer ausführt, darum, „differenzierte Gefühle zu leugnen und primitive Größenphantasien mit den „schnellen” Affekten von Angst und Wut zu verbinden.” Der Populismus formuliert lukrative Angebote eines hermetischen „WIR”, das eine revidierte Form von Gleichheit und Gerechtigkeit verspricht, die es – angeblich „früher” einmal gab. „Nation” oder „Volk” sollen den Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft, Individuum und Gemeinschaft, einfach auflösen.
Der Dritte Weg – revisited
Es ist schon fast zwanzig Jahre her, als in der deutschen Öffentlichkeit über den DRITTEN WEG debattiert wurde. Über die Vision einer Politik, die sich jenseits des alten Rechts-Links-Achsensystems entfalten sollte: „New Labour” in Großbritannien, das Rotgrüne Projekt unter Gerhard Schröder in Deutschland – überall in Europa suchte man nach einer politischen Alternative für das polarisierte Links-Rechts-Denken, das die alte Industriegesellschaft geprägt hatte. Die Gesellschaft, so spürte man, war längst viel weiter. Die Lebenswelten hatten sich differenziert und individualisiert, Minderheiten waren akzeptiert, die Mittelschichten teilten sich nicht mehr in Bürgertum und Proletariat auf, die Arbeitswelt veränderte sich weg vom Klassenkampf hin zu einem eher kooperatistisch-humanistischen Modell. Wirtschaftspolitik, formulierte damals Gerhard Schröder, ist nicht links oder rechts, sondern modern oder unmodern.
Im Zentrum der Idee des Dritten Weges stand die so genannte Inklusions-Politik, eine fundamentale Reform des Sozialstaats. Soziale Benachteiligung, so wiesen die zahlreichen politischen Think-Tanks und Vordenker nach, entsteht im Wissenszeitalter nicht mehr durch Mangel an Geld, sondern durch Mangel an ZUGANG: zu Bildung, Kultur, Eigen-Kompetenzen, Sozialtechniken. Der Staat kann deshalb in der sozialen Frage nicht einfach mit der Steigerung geldlicher Transfers reagieren. Das pure (Um-)Verteilen von Geld schafft neue Abhängigkeiten, erzeugt unerwünschte Nebenwirkungen, es nimmt Menschen im Grunde die Würde. Anstatt ganze Bevölkerungsgruppen durch Transferzahlungen vor dem Fernseher ruhigzustellen, muss eine kluge Inklusionspolitik Menschen aktivieren – mit vielfältigen Hilfestellungen bei Selbstveränderungs-Prozessen helfen.
Das Projekt des Dritten Weges und der Neuen Mitte scheiterte auch deshalb, weil der Schwenk in Richtung einer sozialliberalen Politik von der traditionellen Basis der Sozialdemokraten nicht mitvollzogen wurde. Von Anfang an wurde die Idee von den Traditionalisten aller Lager, aber auch von vielen Intellektuellen und Journalisten aus dem 68er-Milieu bitter bekämpft. Die Hartz-Reformen wurden in der medialen Öffentlichkeit als unsoziale Kürzungen denunziert. Im Boom der Nuller-Jahre, der in der Finanzkrise von 2009 endete, kamen die alten Denk-Polarisierungen dann endgültig zurück. Heute scheint politisches Denken mehr denn je in der Rechts-Links-Achse festgezurrt. In den Talkshows von heute werden politische Debatten immer starrer, ideologischer, moralischer und unversöhnlicher geführt. Das Publikum wendet sich ab mit Grausen, auch wenn der Hickhack zunächst die Einschaltquoten erhöht.
Politik basiert heute weitgehend auf AWFULIZING – aus permanentem Schlechtmachen, Schlechtreden, Dramatisieren. Übertreiben. Anders als vor zwanzig, dreißig Jahren, als Parteien und ihre Programme noch für bessere ZUKÜNFTE standen – für die Hoffnung auf gesellschaftliche Emanzipation – geht die heutige politische Rhetorik nur noch von Katastrophen aus, die dringend verhindert werden müssen. Trump muss das verkommene Amerika retten. Frau May muss den englischen Stolz im Brexit retten. Die CSU muss den deutschen Autofahrer vor holländischen Autobahnnutzern retten. In jedem Fall muss ständig etwas „gerettet” werden. Rentenkatastrophe, Soziale Spaltung, Infrastruktur-Zerfall – Politik spricht heute in der Sprache des Notstands. Sie „verkauft” letztlich Untergänge. In Frankreich hatte man – vor Macron – ein Wort für diese politische Grundstimmung: Declinismé – Niedergangs-Kult.
li>Die Grünen verkaufen den Untergang des Planeten – allerdings mit zunehmender Ratlosigkeit in der lokalen Wirklichkeit.
Die Konservativen verkaufen den Untergang der Werte und der Familie, der Autorität und der Ordnung – in ihrer wirtschaftlichen Aufstellung plädieren sie aber gerade für die Auflösung solcher tradierter Ordnungen.
Die Rechten verkaufen den Untergang des Abendlandes, des Christentums und anderer nebulöser Vergangenheiten.
Die Linken verkaufen den Untergang der sozialen Gerechtigkeit. Sie schildern die Gesellschaft als eine Wüste der Ungerechtigkeit, der Ausbeutung und Chancenlosigkeit.
Die Liberalen verkaufen den Untergang der Freiheit. In einer Gesellschaft, in der man an jeder Ecke soviel Freiheit bekommt, dass einem manchmal regelrecht übel wird.
All diese Strategien verbindet eine defensive Hoffnungslosigkeit. Eine Traurigkeit, die spürbar ist auf Parteitagen und Delegiertenkonferenzen. Im Zeitalter der medialen Erregungskultur ist die ständige Produktion von Opfern, um die man sich dringend kümmern muss, Kern des Politischen geworden. Doch nun brechen die Wähler aus der Klientelpolitik aus. Sie glauben nicht mehr den Versprechen, „sich zu kümmern”. Sie wenden sich entweder dem Populismus zu, der den Opfer-Mythos auf die Spitze treibt und mit putschistischer Gewaltphantasie auflädt. Oder sie sehnen sich nach einer Politik, in der wieder etwas von der Lebendigkeit, Leichtigkeit und Hoffnungsfähigkeit zu spüren ist.
Dazu bedarf es zunächst einer neuen Sprache, einer neuen Melodie. Nancy Love hat in ihrem Buch „Musical Democracy „die MELODIEFORMEN des Politischen geschildert. In der Demokratie sind Musik-Metaphern weit verbreitet. Immer geht es um Stimmen. Um Harmonie und Dissonanz. Um Orchestrierung und konzertierte Aktion. Missklänge und Ab-stimmungen. Die Politik als resonantes Orchester, in der es gilt, die Vielfalt der Instrumente in Einklang zu bringen – dieses Bild könnte ein neues Narrativ bilden.
Die neue Synergie
In einer systemischen Zukunftspolitik geht es darum, die Instanzen, die das Politische formen, neu zueinander IN BEZIEHUNG zu setzen. Wenn ich mit jemandem „in Beziehung” bin, erkenne ich seine Andersartigkeit und seine Bedürfnisse an und betone Gemeinsamkeiten, ohne das Anders-Sein zu ignorieren.
Dieser synergetische Ansatz des Politischen muss zunächst die vernachlässigten Player auf dem politischen Spielfeld benennen. Dazu gehören das Individuum und seine Fähigkeit, Eigen- und Selbstverantwortungen zu entwickeln – was jedoch nicht von alleine und nicht unter allen Bedingungen funktioniert. Dazu gehören die erweiterten Familienstrukturen der modernen Gesellschaft und die verschiedenen Instanzen der Zivilgesellschaft, einschließlich der neuen Formen virtualisierter Kooperation, die in der Netzwerkgesellschaft entstehen – NGOs, Vereine, Selbstorganisationen, digitale und analoge Initiativgruppen.
In der NEXTpolitik geht INKLUSION also weit über die Sozialpolitik hinaus. Es geht darum, einen konstruktiven gesellschaftlichen Dialog zu organisieren, in dem das Traditionelle und das Zukunftsgewandte, das Eigenverantwortliche und das Solidarische NEUE BEZÜGE ENTWICKELT. Emmanuel Macron, der neue Präsident Frankreichs, betont genau dies, wenn er formuliert: „Regieren heißt, den Radius der Politik zu erweitern!”. Aus dem Entweder-Oder wird Sowohl-als-auch. Aus „Ich gegen Wir” wird die Idee eines „progressiven Wir”. Damit hat er grundlegende Problem des neuen Populismus erkannt, für den weite Teile der Mitte der Gesellschaft empfänglich sind. Sein politisches Projekt heißt „Emanzipation„. Anfangen will Macron bei der Kultur. Finanzieren sollen es die globalen Internetmonopole Google, Amazon, Facebook und Apple.
Die Gerechtigkeitsfalle
Die Urbanistin Jane Jacobs formulierte: „Poverty has no causes. Only prosperity has causes.” (Armut hat keine Ursachen, nur Wohlstand hat Ursachen!). Dieser Satz klingt, wenn wir ihn rein emotional wahrnehmen, herzlos und falsch. Er widerspricht unserem inneren Bedürfnis, jemanden oder zumindest ETWAS für gesellschaftliche Missstände verantwortlich zu machen. Jemand oder etwas muss SCHULD sein, wenn es um Armut geht!
In einer komplexen Wohlstandsgesellschaft ist es jedoch selten, dass Armut dadurch verursacht wird, dass jemand dem Anderen etwas wegnimmt (auch wenn es immer noch Enklaven ausbeuterischer Verhältnisse geben mag). In komplexen Gesellschaften entsteht soziale Differenz durch ein Zurückbleiben, während sich alle Anderen bewegen. Die plurale Gesellschaft bietet auch heute schon eine enorme Menge von Chancen, Hilfen, Unterstützungen; nicht nur staatlich organisierte. Aber soziale Verelendung findet oft auf ganz anderen Ebenen statt als auf denen, die der Sozial-Politik leicht zugänglich sind. Auf psychosozialen, mentalen, ja sogar spirituellen Ebenen.
Nehmen wir die Obdachlosigkeit als Beispiel. Nach Jahrzehnten des Rückgangs steigt die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, in vielen Großstädten wieder an. Das mag zum Teil an steigenden Mieten liegen, aber die Erfahrungen von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen weisen noch auf etwas anderes hin: Der „Grund” für die höhere Präsenz von Obdachlosigkeit liegt womöglich im subtilen Wandel der Öffentlichkeits-Strukturen. Wie im Internet heute manche Menschen Hass und Wut öffentlich zur Schau stellen, so wie viele Fernsehshows Raum für narzistische Inszenierungen bieten, bietet „die Straße” einer bestimmten Gruppe von Obdachlosen eine Art Bühne. Dieser Typus von Obdachlosen will GESEHEN werden. Er ist auf der Suche nach Kontakt, nach Anerkennung jenseits aller sozialen Rollen. Aus dieser existentiellen Suche bezieht er eine bestimmte Form von Identität, Antrieb und Selbstwert-Gefühl. Von – ja doch – Würde.
Im moralistischen Sozial-Denken, das nur Opfer und „Schuldige” kennt, sind solche Überlegungen entweder überflüssig oder skandalös. Ein Sozialsystem im Rahmen von NEXTPolitik muss solche Feinheiten jedoch verstehen und berücksichtigen. Komplexe Lebenswirklichkeiten und Kommunikationsweisen wirken heute tief in die sozialen Systeme hinein, und erfordern differenzierte Antworten. Systemische Sozialpolitik muss den Unterschied zwischen MITLEID und MITGEFÜHL kennen. Beim Mitleid werten wir den anderen als Opfer ab – wir bieten ihm Almosen primär um unser eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen und uns überlegen zu fühlen. Mitleid motiviert nicht unbedingt zum Handeln. Mitgefühl hingegen lässt nicht locker, weil wir uns selbst IN BEZIEHUNG befinden.
Traditionelle Umverteilungs-Strategien eröffnen eine Büchse der Pandora, in der immer neue Forderungen und Defizite entstehen. Weil der Begriff Gerechtigkeit so unglaublich variabel ist, entstehen immer neue Notlagen, Defizite, Ungleichgewichte. Alles läuft auf ein eskalierendes Löcherstopfen hinaus, bei dem unendlich viele Lobbys, Interessensgruppen, Stellvertreter in einen endlosen Verteilungskampf geraten, ohne dass es den Armen wirklich hilft. Am Ende ist niemand befriedigt und das Gefühl der Ungerechtigkeit steigt ins Unendliche. Vielleicht ist daran der Gerechtigkeits-Wahlkampf der Schulz-SPD schon vor seinem Beginn gescheitert.
Politik der Gelassenheit
Auf einer Veranstaltung mit dem Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz wurde dieser neulich zu seiner Meinung zur Gerechtigkeits-Politik gefragt. Scholz dachte eine Weile nach, setzte dann sein verschmitztes Lächeln auf, und sagte: „Wissen Sie, ich möchte, dass alle Bürger in meiner Stadt KLARKOMMEN können.”
KLARKOMMEN – welch wunderbares Wort! Scholz illustrierte seinen politischen Ansatz mit Beispielen. Die Hansestadt Hamburg bietet jedem Hauptschul-Abschluss-Schüler ein kostenloses Berufscoaching. Aber diese Beratung wird nicht einfach nur „on demand” angeboten. Die Behörden suchen und finden jeden Jugendlichen, der in diese Kategorie fällt, und „nerven” ihn solange, bis er zu einem Beratungsgespräch kommt. Die Ausbildungs- und Job-Abschlussquoten sind höher, die Jugendarbeitslosgkeit sinkt. Eine solche „Politik der Anschlüsse” konzentriert sich auf heikle ÜBERGÄNGE im Leben der Bürger. Dort, wo Menschen in ihren Lebensphasen sozial verletzlich sind, gilt es, soziale Interventionen zu intensivieren. Ansonsten ist die Eigeninitiative gefragt, die der Staat nur begrenzt herstellen oder kontrollieren kann.
KLARKOMMEN hat viele Bedeutungen. In einer Liebesbeziehung geht es darum, die emotionalen Ebenen zu entwirren. In sozialen Systemen gilt es, Zuständigkeiten zu klären und wenn möglich zu verzahnen. In globalen Systemen geht es um die Klärung von Machtebenen: Wofür brauchen wir die UNO, wofür ist Europa zuständig, was kann der Nationalstaat, was kann eine Stadtpolitik leisten, der Bürgermeister, die Behörden? Klarkommen ist rekursiv: Wir müssen es immer mit uns selbst UND dem anderen, es basiert auf bewussten Entscheidungen. Das ist das Wesen wahrer Beziehung.
Im Klarkommen spiegelt sich auch das „coping”, jene Ur-Erfahrung, dem wir unsere Lebensenergie verdanken. Wenn wir schwierige Aufgaben bewältigen, alleine oder in der Gruppe, dann „leuchtet” unsere Neuronen auf. Das evolutionär in uns verankerte Belohnungssystem schickt uns jene Dopamine und Endorphine, die uns Zuversicht und Hoffnung geben. Seit Jahrmillionen funktioniert dieses menschliche Motivations-System, das uns nicht trotz, sondern WEGEN aller Widrigkeiten in die Zukunft bringt. In diesem neuronalen System liegt auch der Grund dafür, warum alle „-Ismen” scheitern – ob es sich um Kommunismus oder Populismus oder Nationalismus handelt. Solche Systeme machen die Bewältigungs-Erfahrung im Grunde unmöglich, weil sie von Außen der Gesellschaft eine Struktur aufzwingen, in der sich diese nicht mehr im Wechselspiel zwischen ICH und WIR entwickeln kann.
Wie Emmanuel Macron so schön formulierte: „Wir brauchen Leute, die unmögliche Dinge träumen, die vielleicht scheitern, aber in jedem Fall eine Ambition für die wahre Zukunft haben.”
Wie lässt sich die Wahrnehmungs- und Werte-Spaltung in „Ichlinge” und „Wirlinge” überwinden? (Siehe die neue Studie des ZUKUNFTSINSTITUTS: NEXT Germany). Zunächst, indem wir anerkennen, dass jeder von uns BEIDE Charaktere in sich vereint. Es geht nicht darum, sich zu entscheiden. Sondern beide in ein neues VERHÄLTNIS zu bringen.
NEXTpolitik kann zwischen den Inseln Brücken bauen. Sie muss aber auch „Horizont-Inseln” definieren, in denen die Antagonismen aufgehoben und integriert werden können. Die Studie NextGermany formuliert in ihrem letzten Teil deshalb eine logische Utopie, in der die ICHlinge und die WIRlinge wieder zusammenfinden können.
In der „Spiral Dynamics”-Theorie, des amerikanischen Psycholegen Clare W. Graves, wird die menschliche Geistes- und Zivilisationsgeschichte als eine endlose Spirale definiert, eine mentale Matrix, in der unser Sein vom Ich zum Wir und wieder zurückpendelt – und dabei immer komplexere Integrationen entstehen. Das „progressive Wir” vereint Gemeinschaft und Individualität auf einer höheren Ebene. Freiheit und Gebundenheit, Bewegung und Sicherheit, Verantwortung und Gemeinschaft, gehören zusammen. Auf der „Insel des progressiven Wir” sind wir nicht einsam, aber wir haben das recht, EIGEN zu sein.
Politik der Zuversicht
Die Bürger wollen heute mehr Verantwortung übernehmen. Die Selbstermächtigung der Bürgergesellschaft in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, auf welche die Politik nicht vorbereitet war, verhinderte eine soziale Katastrophe. Der Wunsch nach Beteiligung an politischen Entscheidungen und nach gemeinsamer Bewältigung von gesellschaftlichen Krisen gehen einher. Selbstorganisation ist die neue Form der Teilhabe.
Hoffnungspolitik dreht die Betrachtung von den Problemlagen zu den Möglichkeiten um. Sie ist „possibilistische” Politik: Sie „fragt aus der Zukunft” heraus: Was müsste geschehen, damit sich bestimmte Konflikte lösen, bestimmte Entwicklungen geschehen können? Sie versucht Bedingungen zur Selbstorganisation zu entwickeln.
Hoffnungspolitik ist Bewegungs-Politik. Sie nutzt gesellschaftliche Strömungen, latente Bedürfnisse, Zeitgeist-Phänomene, um Schwung und Energie zu gewinnen. Hier knüpft sie an die sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre des 20sten Jahrhunderts an. Aber sie vermeidet das pur Utopische. Sie sieht Politik nicht als Erreichung fester Ziele, sondern der Organisation ständiger VERBINDUNGEN zwischen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Digital-Gesellschaft.
Hoffnungspolitik weiß nicht alle Antworten im voraus. Kandidaten für den französischen Kandidaten Macron trauen sich wieder, einen Satz zusagen, der im politischen Geschäft sonst Tabu ist. ICH WEISS ES NICHT – aber ich will eine Lösung finden! Es geht um eine Ehrlichkeit, eine Authentizität, die die Komplexität, in der wir leben, anerkennt. Ein komplexes Problem erfordert differenzierte Antworten.
Die beiden großen Themen in Zukunft heißen Sicherheit und Identität. Zwischen beiden besteht ein Zusammenhang. Physische und psychische Sicherheit ist die Voraussetzung für das Entstehen einer robusten Identität. Im Fokus steht nicht mehr die alte Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben?„, sondern „Wie wollen wir alle als Bürger zusammenleben, trotz unterschiedlicher Meinungen und Absichten?„ Statt um feindsinnige Ausgrenzung geht es um eine kooperative Abgrenzung, die auch unterschiedliche Werte toleriert. Nicht allein die Herstellung von Konsens, sondern der Umgang mit Dissens macht eine Demokratie stark und resilient gegenüber Krisen.
Welche Freiheiten und Bindungen können ein neues Wir zwischen den unterschiedlichen Wertewelten befördern? Welche gemeinschaftsstiftenden Institutionen braucht eine zunehmend heterogene Gesellschaft? Diese Fragen spielen bislang im Wahlkampf keine Rolle.
Die Zukunft gehört intelligente(re)n Systemen. Das gilt für die Wirtschaft, für die Liebe, wie für die Politik. NextPolitik bedeutet auch eine Selbst-Beschränkung der Politik, die nicht alles lösen kann. Der systemische Soziologe Armin Nassehi schreibt im KURSBUCH: „Veränderungen müssen listig angegangen werden, listig in dem Sinne, dass man ihnen eine Chance geben muss, sich von den Intentionen der Beteiligten unabhängig zu machen. Wenn sich die Dinge bewähren, kommen die Intentionen schon hinterher.” Man könnte hinzufügen: Wahre Veränderungen beginnen immer im Bewusstsein, im Denken – im Gefühl der Menschen für die lebenswerte Zukunft. Und in der Vereinbarung darüber, dass es sich lohnt, dafür gemeinsam auf die Reise zu gehen.
Literaturliste:
Ralf Fücks: Freiheit verteidigen. Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen, Carl Hanser 2017. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3446255028′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’49faaae9-0294-11e8-b705-13f3241ea924′]
David Goodhart: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics, C Hurst & Co 2017. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’1849047995′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’62cbf836-0294-11e8-abb0-23ba591f043e‘]
Olaf Scholz: Hoffnungsland. Eine neue deutsche Wirklichkeit, Hoffmann und Campe, 2017. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3455001130′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’6fbfb48b-0294-11e8-b453-41dfbdcdc9d4′]
Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Verlag 2015. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’B00U1ORQZC‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’90d58dfa-0294-11e8-b4f2-f52f60205d62′]
Jürgen Wiebicke: Zehn Regeln für Demokratie-Retter, KiWi 2017. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3462050710′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’b496ff40-0294-11e8-a6d8-d7afee85ebc4′]
Warum ich nicht an die finstere Machtübernahme der Künstlichen Intelligenz glaube – und auch nicht an das Gegenteil
Juli 2017
„Auf Künstliche Intelligenz gibt es nur zwei Reaktionsmöglichkeiten: Künstliche Dummheit oder menschliche Intelligenz – was sich übrigens nicht ausschließt. Künstliche Dummheit ist eine naiv anmutende Befragung von Selbstverständlichkeiten, die keine sind. Menschliche Intelligenz beginnt da, wo Kreativität im Nichtwissen, im Nicht-Regelbasierten notwendig wird.”
Stephan A. Jansen
1. Roboter, die auf Roboter starren
Als Zukunftsforscher bin ich daran interessiert, dass vielfältige und produktive Debatten über die Zukunft entstehen. Das ist der eigentliche Sinn meiner Disziplin: Dass wir mit dem Morgen in einen inneren Dialog geraten, der uns – als Individuen, Kulturen, Zivilisation – den Weg weisen kann. Dass wir uns verständigen, wohin wir wollen.
Manchmal geraten solche Debatten allerdings gründlich aus dem Ruder. Jüngstes Beispiel ist der Hype um die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ. Es vergeht kein Tag, an dem nicht im Fernsehen, auf Podien und Kongressen, Männer zusammenhocken und mit bedenklichen Mienen über die Schrecken der kommenden Machtübernahme durch intelligente Computersysteme reden. Jede zweite Zeitschriftenbeilage zeigt heute auf dem Cover weiße Plastik-Roboter mit Halsgestänge, die melancholisch einherschauen. Oder Roboter-Ladies, die Schmetterlinge fliegen lassen. Auf manchen meiner Vorträge muss ich, bevor ich auf die Bühne darf, einem blödsinnig grinsenden Roboter die Hand schütteln, der unendlich langsam irgendwelche vorprogrammierten Begrüßungsworte spricht.
Das Problem dieses Diskurses ist nicht, dass er geführt wird. Das Problem ist, dass er so vollgestopft mit Klischees, Ängsten und Missverständnissen ist, dass er sich immer im Kreis dreht. Die KI-Debatte ist, frei nach nach dem Philosophen Harry Frankfurter, zum „Future Bullshit” geworden. Nach Wikipedia:
Das vulgäre Wort Bullshit bezeichnet in der englischen Umgangssprache eine bestimmte Art von Gerede, das im Gestus oft prätentiös, inhaltlich aber leer ist. Am treffendsten lässt der Ausdruck sich mit dem neudeutschen Wort Hohlsprech übersetzen, eingeschränkt auch mit Salbadern. Auch der Ausdruck Geschwurbel weist in diese Richtung.
KI-Debatten sind – meistens zumindest – Grusel-Shows, in deren Zentrum eine Art humane Selbsterniedrigung steht. Frauen beteiligen sich – und das ist kein Zufall – nur selten an der Diskussion. Es ist irgendwie eine Männerdebatte, die ganz offensichtlich von einer seltsamen Urangst getrieben wird: überflüssig zu werden.
2. Das Pellkartoffel-Prinzip
Der Soziokybernetiker Niklas Luhmann formulierte einmal den Kategorienfehler als Grundlage aller kognitiven Irrtümer: Ein Kategorienfehler (auch „Ebenen-Verwechselung”) ist es zum Beispiel, wenn ein Bauer ein Feld zum Anbau von Pellkartoffel reserviert.
Die KI-Debatte krankt zuallererst daran, dass alle ihre Kategorien unentwegt auf einen Haufen geworfen werden. Nach dem Pellkartoffel-Prinzip wird zunächst die Kategorie Intelligenz ständig mit Bewusstsein verwechselt.
Intelligenz ist die Fähigkeit zum operativen Problemlösen. Computer können das ziemlich gut. Intelligenz kommt von inter-legere – was wählen oder entscheiden bedeutet. Für Intelligenz benötig man ein symbolisches – oder abstraktes – Operationssystem, dass in einem bestimmten Phänomen REGELN erkennt. Computer können gut Schach spielen, weil die Regeln in diesem Spiel ziemlich klar und operativ anwendbar sind. Mit GO, dem fernöstlichen Äquivalent des Schach, hatten KI-Systeme bislang größere Probleme, weil sich die möglichen Züge im Spielverlauf ungeheuer potenzieren – ähnlich wie beim Schmetterlingseffekt der Wetterbildung.
Intelligent ist allerdings auch mein Hund. Er löst seine Aufgaben, indem er die Bälle apportiert, die ich ihm zuwerfe und sie machmal sogar fallenlässt, damit ich sie erneut werfen kann. Er bellt zielgerichtet den unbekannten Postboten an, aber nicht den bereits bekannten. Damit löst er das Problem unidentifizierter Eindringlinge. Er kann mich manipulieren, indem er mich zärtlich mit seinen treuen braunen Augen anschaut, damit ich ihm noch ein Leckerli spendiere. Das ist Intelligenz, denn mein Hund löst ein Problem, sein Existenzproblem. Ebenso wie die KI in meinem Tesla, die auf der Autobahn Lastwagen, Motorradfahrer und normale Autos differenzieren kann, und mich auf der Autobahn halbautomatisch fahren lässt. Ja, das geht schon ganz gut.
Aber muss ich davor Angst haben? Muss ich mich wirklich fürchten, dass das Auto irgendwann das Steuer übernimmt und wahlweise eine Gruppe von Rentnern oder eine Frau mit Säugling überfährt, wie das derzeit angeregt diskutiert wird?
Der eigentliche Verdacht, auf dem der KI-Hype besteht, bezieht sich auf die Kategorie des Bewusstseins. Irgendwann, so raunt und munkelt es, MÜSSEN Künstliche Intelligenzen böse werden. Den Menschen unterjochen, die Macht an sich reißen, uns zu Blutwurst verarbeiten…
Bewusstsein ist das, womit wir uns selbst als humane Wesen erkennen und definieren können. Bewusstsein bedeutet, zu wissen, dass man existiert, und sich in seiner Weltwahrnehmung auf Erfahren und Erfühlen zu beziehen. Dazu gehört Intuition, die Fähigkeit, Intentionen des Anderen zu lesen, Empathie. Dieses Wirklichkeitsgefühl wirkt rekursiv – das heißt wir betrachten, wie in einer Serie von Spiegeln, unser eigenes Betrachten. Douglas Hofstadter, der amerikanische Kognitionswissenschaftler und Informatiker, spricht von der „Seltsamen Schleife”, die unser Bewusstsein konstituiert. Bewusstsein bedingt Gefühle, die von einer Beobachtungs-Instanz (dem Selbst) registriert und bewertet werden können.
Der englische Moralphilosoph Jeremy Bentham formulierte zu künstlichen Intelligenzen: „Die Frage ist nicht: Können sie logisch sein, können sie sprechen? Sondern: Können sie LEIDEN?”
Wer nur Routinen ausführt, wird irgendwann „bewusstlos”, er kann sich nicht mehr innerlich konstruieren. Gefühle setzten einen existentiellen Mangel voraus, der ohne Sterblichkeit und Schmerz nicht zu haben ist. Bewusstsein erfordert einen Bruch zwischen zwischen symbolischer, operationaler und Empfindungs-Ebene. Bewusstheit entsteht, so könnte man zuspitzen, immer nur in existentieller Konfusion.
Die Grusel-Abteilung der KI-Debatte geht nun von der Annahme aus, dass auch Computer „demnächst” Bewusstsein entwickeln werden. Aber genau an diesem Punkt dreht sich die KI-Debatte immer sinnlos im Kreis: Wenn Computer bewusst werden sollen – zum Beispiel Macht-Intentionalität entwickeln – müssten wir ihnen Fleisch und Sterblichkeit verleihen. Denn Macht macht nur Sinn, wenn ich Angst habe und Ressourcen für mich abzweigen möchte. Dann aber wären Computer Menschen. Von diesem kategorialen Dilemma handelt zum Beispiel die Geschichte des Androiden DATA in Star Trek, der unentwegt wissen will, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
https://en.wikipedia.org/wiki/Data_(Star_Trek)
Was DATA in seiner Menschwerdung auszeichnet, ist Humor. Aber der Androide ist gar nicht witzig; der Zuschauern nimmt ihn nur als witzig war, weil er sein inneres Dilemma erkennt. Wenn wir Lachen, erkennen wir jene Paradoxie an, die uns als sterbliche Wesen mit unseren inneren Ebenen-Konflikten verbindet, und darüber mit allen anderen Menschen. Wir lachen sozusagen über unsere „ewige innere Pellkartoffel”. Lachen heißt, zu wissen, dass man Probleme niemals endgültig lösen kann und sich trotzdem gemeinsam zu entspannen.
3. Die Gott-Projektion
Stanley Kubricks legendärer Film „Odyssee im Weltraum” hat schon vor fünfzig Jahren das Narrativ der „Denkende Maschinen” kodiert. In der Mission des Raumschiffs Discovery zum Jupiter regiert HAL, der allwissende Bordcomputer, alle Systeme und damit das Schicksal der Mannschaft. HALs „Interface” ist jene rote Linse, die in der Ikonographie der KI-Debatte etwa so normativ ist wie ein Che-Guevara-Portrait für die Politik . Es ist ein AUGE, in dessen roter Färbung sich bereits eine Bereitschaft zur Boshaftigkeit ankündigt.
Nun brauchen Computer keine Augen, sondern allenfalls Kameralinsen. Die Darstellung der Linse als sehendes Auge erzeugt jedoch einen sofortigen anthropomorphen Effekt: Wir KÖNNEN gar nicht anders als uns HAL als wollendes Wesen wahrzunehmen. Augen sind das, wodurch wir beobachtet und sozial konstruiert werden. Durch Augen beobachten uns unsere Eltern, wenn wir als hilflose Säuglinge auf die Welt kommen. Durch das Wahrgenommen- und Beobachtet-Werden werden wir überhaupt erst existent. Säuglinge, die nicht beob-achtet werden, sterben.
Augen spielen auch in der Gotteserwartung eine Rolle: Gott zeichnet sich dadurch aus, dass er uns ständig beobachtet und bewertet – sozusagen rund um die Uhr. Die KI, die uns in „2001” allegorisch vorgeführt wird, ist also eine Mischung aus VATER-, MUTTER- und GOTT-Projektion. Und tatsächlich wirkt HAL im ersten Teil des Filmes wie eine unendlich gütige, mütterliche Macht, die gegen die Kälte des Weltalls (die Gefahren des Lebens) eine perfekte Komfortzone errichtet. David Bowmann, der Haupt-Astronaut, wird von HAL regelrecht „gepampert” – massiert, umschmeichelt, mit sonorer Stimme „verstanden”, immer wider nach dem Befinden gefragt.
Die Katharsis, die der zweite Teil des Films schildert, ist nur umso folgerichtiger. Sie handelt vom Grundversagen der Mutter, die sich in eine böse, strenge Hexe verwandelt. HAL; der Bordcomputer, verweigert dem Astronauten Bowmann den Zugang zum Mutterschiff. Sie möchte ihn im der unendlichen Kälte des Weltalls sterben lassen, um die „Mission” nicht zu gefährden.
Im Finale dekonstruiert Bowmann den Computer HAL, er überwindet die falsche Mutter, indem er sie/ihn in die Regression treibt (unvergessen das „Hänschen-Klein-Singen”, als die letzten Bewusstseinsmodule von HAL herausgeschraubt werden). Die „Mission” entpuppt sich als nichts anderes als der Weg in die Transzendenz. Im Ende des Films wartet die Wiedergeburt, die Konfrontation mit dem höheren Alien-Wesen, das uns endlich jene Unsterblichkeit und Komfortabilität schenkt, dass wir von den realen Müttern und Vätern nie erwarten durften.
4. Der Anthropomorph
Menschen haben eine tiefe Angewohnheit, ihre inneren Seelenzustände auf alles Mögliche zu projizieren: Sie antropomorphen. Unentwegt projizieren wir menschliche Eigenschaften auf Tiere, Gegenstände, Naturgewalten. 70 Prozent der Kinder bis 7 Jahre glauben, das Donald Duck REAL ist. 80 Prozent aller Besitzer von Staubsaugerrobotern geben diesen Namen und sprechen mit ihnen. Schon immer wurden extreme Wetterereignisse als Strafen der Götter ausgedrückt, oder – siehe Global Warming – als Strafen für Sünden.
Anthropomorphismus hat mit unserer genuinen menschlichen Angst und Hilflosigkeit zu tun. Wir suchen seit Urzeiten Mächte, die uns helfen können, zu überleben. Unsere Ur-Vorfahren müssen unter der Existentialität ihres fragilen Lebens besonders gelitten haben und um die Angst zu kompensieren, erschufen sie magische, mächtige Instanzen, „KIs”, die sie Götter nannten.
Ein großer Teil der schrillen KI-Debatte lässt sich auf Anthropomorphing zurückführen: Wir sind einfach irritiert durch die digitale Technologie, die uns unheimlich erscheint. Anders als mechanische Gegenstände mit ihren klassischen Hebel- und Kausalwirkungen blicken wir beim Computer im wahrsten Sinn des Wortes „nicht durch”. Wir schreiben ihm deshalb diffuse magische Fähigkeiten zu. Wir imaginieren ihn in Menschenform und unterstellen ihm emotionale Motive. Oder gleich Erlöungs-Kapazitäten, wie der Kult um die Singularität beweist, der von Ray Kurzweil vertreten wird.
Schon der antike Dichter Xenophanes schildert in einem Gedicht, wie Menschen ihre Götter nach ihrem eigenen Bilde erschaffen:
„Stumpfe Nasen und schwarz; so sind Äthiopias Götter,
Blauäugig aber und blond: so sehn ihre Götter die Thraker,
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände,
Hände wie Menschen zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu formen,
Dann würden die Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen: ein jedes nach seinem.
In der Spiegelung des Roboters begegnen wir vor Allem uns selbst: Wir fragen uns: Wie viel Maschine steckt eigentlich in uns selbst? Sind wir nicht selbst Routinewesen, die sich unendlich in Programmierungen verlieren? Wenn wir allerdings eines Tages IN DER WIRKLICHKEIT menschengleich Roboter entdecken würden, würden wir versuchen, sie so schnell zu zerstören wie David Bowmann den Computer HAL.
Dieser Effekt nennt sich UNCANNY-VALLEY-EFFEKT. Versuche mit menschenähnlichen Robotern zeigen: Je menschenähnlicher sie werden, desto mehr verfallen wir in Panik. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem tief evolutionär in uns verankerten Bedürfnis zu tun, zwischen „tot” und „lebendig” differenzieren zu können. Der Boom der Zombie-Filme weist auf Ähnliches hin: Für unsere innere Integrität müssen wir wissen, ob „das”, womit wir es zu tun haben, tot oder lebendig ist. Die Roboter sind sozusagen die Untoten der Zukunft, und mit ihnen ziehen wir aus, um das Fürchten zu lernen.
Ich behaupte: Es werden keine humanoiden Pflegeroboter in Altersheimen Einzug halten. Auch erotische Partner/innen-Roboter werden sich als Marktflop herausstellen – ab einer gewissen Menschenähnlichkeit vergeht uns die Erotik. Stattdessen werden Roboter auch in Zukunft so aussehen, wie sie heute schon aussehen: Kastenhaft wie Waschmaschinen oder Geschirrspülautomaten, funktional wie Industrieroboter oder einfach niedlich. Für unser inneres Kind, das gerne mit Spielzeugen spielt, die wir herumkommandieren können, sind sie immer gut zu gebrauchen.
5. Bessere Fragen stellen „Wie kann man anders über die Zukunft sprechen, als sie vorherzusagen oder vor ihr Angst zu machen?” Diese schlaue Frage stammt von dem anglo-französischen Philosophen Theodore Zelding. Auch der amerikanische Futurist Kevin Kelly behauptet in seinem neuen Buch „The Unevitable”: Was uns für immer von den Computern und Robotern unterscheiden wird, ist die Fähigkeit, gute FRAGEN zu stellen.
Gute Fragen sorgen sich nicht um korrekte Antworten.
Gute Fragen können nicht sofort beantwortet werden.
Gute Fragen fordern gängige Antworten heraus, indem sie sie infrage stellen.
Eine gute Frage erzeugt ein neues Territorium des Denkens.
Eine gute Frage oszilliert an der Grenze dessen, was man weiss, und was man nicht weiss, weder dumm noch offensichtlich.
Eine gute Frage kann nicht vorausgesagt werden.
Eine gute Frage ist das Zeichen eines gebildeten Geistes.
Eine gute Frage zu generieren ist das letzte, was eine Maschine lernen wird.
In der KI-Debatte werden die immergleichen, nicht besonders guten Fragen gestellt. Zum Beispiel:
Wann wird KI die Menschheit unterjochen?
Werden wirklich alle Jobs irgendwann durch Roboter ersetzt?
Solche Fragen sind nicht besonders klug, weil sie die (falsche) Antwort bereits voraussetzen.
GUTE Fragen hingegen wären:
Warum gibt es eigentlich immer MEHR Jobs – obwohl seit vielen Jahren immer behauptet wird, die Technisierung würde alle Jobs vernichten?
Wie können wir am besten aufhören, uns mit digitalen Maschinen zu verwechseln?
Wie können wir digitale Expertensysteme nutzen, um entspannter, klüger, bewusster und gesünder zu werden und unsere menschlichen Fähigkeiten sinnvoller zu nutzen?
Wie kann das Aufkommen digitaler Expertensysteme unsere Städte, unsere Sozialsysteme, unsere Kooperationen verbessern?
</ul > Wären das nicht wahrhaft schöne, intelligente Fragen – die tatsächlich in die Zukunft führen? Auf sowas würden Roboter und Computer niemals kommen. Darauf wette ich. Auf mindestens 500 Jahre!
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Vom Digitalen Maoismus zum Real-Digitalen Humanismus
Vor uns liegt die Zweite Phase der Digitalisierung. Nach hysterischen Übertreibungen und bitteren Enttäuschungen geht es jetzt um die Adaption des Digitalen an die menschliche Kultur.
Ein Gespenst geht um in Deutschland, und längst schon in der ganzen Welt. Es geistert durch die mahnenden Leitartikel der Feuilletonisten und belebt als Rest-Utopie die Reden der Bundeskanzlerin. Es dominiert jede Management-Tagung, jeden Business-Talk und macht vor keiner Zeitungsbeilage halt. Der Glaube an die alles verändernde Macht des Digitalen ist so etwas wie der Final-Glaube unserer Zeit geworden. Ein Religionsersatz, der Schaudern und Ekstase hervorruft. Alles soll die Digitalisierung lösen: Wachstumsschwächen, Altersschwächen, Potenzschwächen, Intelligenzschwächen und bis vor Kurzem auch Demokratieschwächen. Aber alles stellt die Digitalisierung auch in Frage: Ganze Branchen werden disruptiert, die Demokratie, die Freiheit, vielleicht sogar die Vernunft. 50 oder 70 Prozent aller Arbeitsplätze „werden verschwinden”! Künstliche Intelligenzen werden unsere Jobs übernehmen! Lustvoll konstatieren wir der Digitalisierung eine Endzeit-Kapazität, die man früher nur der Atomkraft oder der Ankunft der Aliens zuschrieb. Vielleicht brauchen wir in regelmäßigen Abständen solche Groß-Dämonen, um uns lebendig fühlen zu können.
Ehrlich gesagt: Ich kann das D-Wort nicht mehr hören. Es ist ein Nullwort geworden, das einerseits für Banalitäten – Computer verändern unsere Welt seit mindestens einem Vierteljahrhundert – andererseits für hysterische Übertreibungen steht. Im Grunde handelt es sich um das, was Luhmann einmal „Kategorienfehler” nannte. Einen Kategorienfehler begeht man zum Beispiel, wenn man versucht, im Garten Bratkartoffeln anzubauen.
Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen dann besonders heftig nach der radikalen Digitalisierungs-Strategie rufen, wenn sie ihre Seele verloren haben. Wenn das Management keine Ahnung mehr vom SINN seines Wertschöpfungsmodells mehr hat, tritt die Armada teurer Consulter mit den den immer gleichen process-flow-charts auf den Plan. Dahinter stecken oft aber nur fade Rationalisierungs-Strategien, die hip und technisch einherkommen sollen, aber doch nur der Einsparung von Personal dienen. Digitaler Mac-Kinseyismus eben. Aus Angst vor der Disruption zertrümmern sich manche Unternehmen der Old Economy lieber selber. Oder der Manager fährt nach Silicon Valley und kommt als Schein-Hipster zurück. Aber im Valley findet man in Wahrheit immer nur seine eigene angstvolle Konfusion.
Dazu kommt, dass es offensichtlich ZWEI Internets gibt, die wir in Kopf und Leben nicht wirklich zusammenbekommen. Das eine verbessert tatsächlich unseren Weltzugang. Es ist schon toll, mit einer eleganten APP ein Taxi mit einem freundlichen Fahrer in einer finsteren Ecke einer verregneten Stadt herbeizurufen. Oder mit einem Fingertip alle Hotelpreise in Duisburg zu vergleichen. Aber dann gibt es eben auch diesen dark room der menschlichen Begierden und trivialen Narzissmen – das, was sich einmal als „Soziale Medien” in unser Leben gedrängt hat.
Jaron Lanier, einer der Pioniere der digitalen Welt, bezeichnete den Mythos der sozialen Netzwerke einmal als „Digitalen Maoismus”. Maoismus ist eine Allegorie für die Überblendung komplexer Wirklichkeit durch einen fanatischen sozialen Imperativ. „Das Internet empowert die Ohnmächtigen” ist eine ähnliche Parole wie Maos „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen”. Beides führt zu schrecklichen Desillusionen. Am traurigen Niedergang der Piraten-Partei konnte man live studieren, wie dieser Maoismus an sich selbst zerbricht. Das soziale Internet „empowert” in der Tat Weltretter, Nachbarn, Wandergruppen, Freundeskreise, die sich sonst aus den Augen verlieren würden. Aber eben auch Troll-Idioten, Stalker, Dumpfbeutel aller Couleur, russische Demokratie-Saboteure, Terroristen. Es holt eine Menge Leute in unser Wohn- und Schlafzimmer, die wir dort nicht sehen können. Und garantiert nicht sehen wollen.
Der erstaunliche Suchtfaktor der Sozialen Medien lässt sich damit erklären, dass wir als Menschen genuine Verbindungs-Wesen sind. Vom Moment an, an dem wir auf der Welt sind, sehnen wir uns zutiefst nach dem Gesehen-Werden. Dem Anerkannt-Werden. Dem In-Beziehung-Sein. An diesen existentiellen Synapsen docken die Sozialen Medien an, Symbionten der Bindungs-Sehnsucht. Ich werde gelikt, also bin ich! Wenn eine Frau beschließt, „im Netz” die most sexy Frau der Welt zu werden, und sich live in einen Roboter der Kosmetikindustrie verwandelt, dann zeigt sich die unglaubliche Macht dieser emotionalen Selbstreferenz-Systeme. Wenn ein Mörder seinen Mord bei Facebook hochlädt, versucht er, seine Gewalt „in Beziehung” zu setzen, ein massenhaftes Echo für seine Tat zu generieren. 100.000 Leute liken das und meinen es nur vielleicht ironisch. Die „Pseudonymität” des Netzes macht Menschen im wahrsten Sinne verrückt.
Im Dschungel der unerlösten Emotionen verspricht das Digitale, was es niemals halten kann: Den „richtigen” Partner. Unendliche Wahlmöglichkeit. Die tausend besten Freunde. Das Internet verstärkt die Nervosität des Sozialen auf allen Ebenen – privaten, sozialen, politischen, ökonomischen. Die gesellschaftliche Hysterisierung, die wir derzeit erleben, diese Gemengelage aus Shitstorms, Hass-Speech, Verschwörungswahn, bösartigem Populismus und überreizter schlechter Laune, ist das Resultat. Das Netz kann eine Menge, aber es kann nicht wirklich trösten, es kann nicht wahrhaft heilen, es kann uns nicht wirklich menschlich verbinden – es sei denn, wir SIND bereits verbunden in der analogen Welt.
Die Rache des Analogen
In einer Straße unweit meines Hauses lässt sich ein auf den ersten Blick kaum wahrnehmbarer Retro-Trend finden. Dort hat vor Jahren ein kleiner „Bauernladen” eröffnet, in dem die resolute und herzliche Frau Sturm regiert. Meistens allein oder mit der Hilfe ihres Neffen verkauft sie Lebensmittel. Alles, was man zum täglichen Bedarf braucht, allerdings mit einem gewissen Anspruch. Es muss nicht Bio sein, aber einfach „gut”. Frau Sturm kennt jeden Produzenten oder zumindest Lieferanten ihrer Ware persönlich, ob es um eingelegte Kapern oder Olivenöl aus Sizilien geht, um die Kartoffeln aus dem Weinviertel oder, auf Bestellung, Rehkeule vom Jäger aus den Kalkalpen. Sie ist eine Art Food-Agentin mit großer Leidenschaft und Kompetenz.
Eigentlich müsste ein solches Lädchen angesichts der erdrückenden Handels-Marktmacht zum Scheitern verurteilt sein – ein großer Supermarkt liegt gleich um die Ecke. Aber jedes Mal, wenn ich in Frau Sturms Reich betrete, ist es proppevoll. Man lernt die verrücktesten und nettesten Leute aus der Nachbarschaft kennen, redet über das Wetter und die hervorragende Leberpastete vom Bauer Tschurz, aber nie über Politik. Und jedesmal komme ich heraus mit dem befriedigenden Gefühl, für erstaunlich wenig Geld alles gekauft zu haben, was ich wirklich zum Leben brauche. Den Supermarkt hingegen verlasse ich stets mit dem Eindruck, zu viel Geld für Nicht-das-Richtige bezahlt zu haben.
Übrigens benutzt Frau Sturm auch ein modernes elektronisches Kassensystem.
Was verkauft Frau Sturm in ihrem kleinen Laden? Produkte? Qualität? Schon. Aber das Geheimnis ihres Erfolgs liegt nicht in den Waren. Frau Sturm handelt mit BEZIEHUNGEN. Und darum geht es. Im analogen wie im digitalen Raum. Nur dass im Analogen die Grundlage von Beziehung – Vertrauen – ungleich leichter herzustellen ist. Weil wir dem, mit dem wir eine Markt-Beziehung eingehen, wahrhaft in die Augen schauen.
Und hier liegt der Grund, warum die meisten Prognosen für den rasenden digitalen Prozess schlichtweg falsch lagen.
Wie kommt es, dass nach 20 Jahren Internet-Revolution die Anzahl der analogen Buchpublikationen sich immer noch nicht – oder nur kaum – verringert hat? Sollten nicht längst alle Print-Zeitungen ausgestorben und alle Bücher recycelt sein, weil wir alles nur noch auf Bildschirmen lesen? Warum feiern die Hersteller edler Notizbücher und eleganter Füllfederhalter Absatzrekorde? Warum kleben gefühlte 90 Prozent meiner Bekannten immer noch Post-It-Stickers auf ihre Bildschirme? Oder drucken E-Mails aus, die sie für wichtig halten? Warum halten die Leute hartnäckig am Bargeld fest? Solche Phänomene werden in Digitalkonferenzen immer mit arroganter Handbewegung vom Tisch gewischt und als Anachronismus denunziert – weil es eben noch eine biologische Generation von Digitalen Analphabeten gibt, verzögert sich die WAHRE Digitale Revolution noch um ein paar Jahre. Demnächst wird sich das Problem biologisch erledigen…
Aber vielleicht ist das hartnäckige Festhalten am Analogen nicht das Problem. Sondern in Wahrheit Teil der Lösung.
David Sax, ein kanadischer Publizist, hat in seinem neuen Buch „Revenge of the Analog” (Die Rache des Analogen) beschrieben, wie das Digitale das Physische nicht überwindet, sondern auf dem Wege einer Rekursion neu erfindet:
Die Rache des Print: Je unruhiger und flackerhafter unsere Informationswelt wird, je mehr bei jeder Lese-Opteration auf dem iPad irgendwo eine Werbung aufpoppt oder eine Mahnung, eine neue Software zu installieren, desto mehr sehnen sich Menschen wieder nach der ruhigen Präsenz des Papiers. Papier ist unglaublich angesagt. Papier ist mehr Kult denn je. Der Medienkonzern MONOCLE lud vor Kurzem zu einer Konferenz unter dem Titel: PRINT IS MORE THAN ALIVE!
Die Rache der Arbeit: Entgegen aller früherer Prognosen arbeiten wir heute nicht allesamt als Cyber-Nomaden von Zuhause oder im Flugzeug. Arbeit ist in einem seltsamen Gegenteil immer physischer und sozialer geworden. Gerade die großen Digital-Konzerne rufen heute ihre Belegschaften wieder zurück in Büros. Die härtesten Coder-Nerds sitzen in den schönsten Design-Umgebungen und essen Bio-Food in der Pause, kurz vor dem Yoga-Kurs. Als ähnlich unzuverlässig, wenn auch unentwegt wiederholt, erweist sich das Gerücht von der totalen Arbeitsplatz-Vernichtung durch Computer. „Warum gibt es eigentlich immer mehr Jobs?” fragt der Ökonom David Autor in einem klugen TED-Vortrag.
Die Rache des Retail: Die Anteile des Online-Handels steigen in vielen Sektoren inzwischen deutlich geringer als in den Prognosen vorausgesagt. Die Downloads von E-Books stagnieren weitgehend. Gleichzeitig entwickelt der Handel eine ganz neue Kreativität: Shop-Konzepte waren noch nie so sinnlich und kreativ wie heute, Shopping-Landschaften wachsen zu ganzheitlichen Erlebnis-Welten heran. Längst ist das Internet in die Vertriebskanäle integriert, aber eben nur als EIN Kanal, der keinen disruptiven, sondern einen additiven Charakter hat.
Die Rache des Lernens: Die berühmten MOOCs (Massive Open Online Course), die Online-Kurse, die demnächst schon alle Schulen überflüssig machen sollen, haben sich weitgehend als Flops herausgestellt. Zwar florieren manche Fern-Universitäten und gut gemachte Lernkurse im Internet – besonders bei Sprachen und technischen Spezialthemen. Aber gerade durch die digitale Furie haben wir gelernt, dass Lernen IMMER das Ergebnis von menschlicher, empathischer Interaktion ist. Computer schaden nicht beim Lernen, schlechte Lehrer mit mangelnder Präsenz schon. Computer lösen das Geheimnis des Wissens und Lernens nicht. Wie sagte Piaget? „Lernen ist nicht Wissen ABBILDEN, sondern das innere Sein an kognitive Hindernisse ANPASSEN.”
In seinem Schlusskapitel „Die Rache des Analogen IM Digitalen” schlägt Sax eine neue, ganzheitliche Sichtweise vor: Digitalisierung bedeutet eben nicht Auflösung des Realen in Nullen und Einsen. Sondern eine verschränkte Co-Evolution zwischen der physischen und der informellen Welt. Wie man seine Muttersprache nur dann wirklich zu verstehen beginnt, wenn man eine Fremdsprache lernt, könnte sich das wahre Wesen der Digitalisierung womöglich durch ihr GEGENTEIL erschließen: Die physische, dingliche Welt.
Erleuchtete Digitalisierung
Gelungene Zukunft hängt immer von gelungenen Beziehungen ab, die Veränderung möglich macht. Familie gelingt, wenn aus Geborgenheiten Freiheiten wachsen. Globalisierung ist erfolgreich, wenn unterschiedliche Kulturen in kreativen Austausch eintreten und daraus Win-Win-Prozesse entstehen. Ein Unternehmen gedeiht, wenn es sich in Resonanz zu echten gesellschaftlichen Bedürfnissen befindet. Wenn Mitarbeiter und Führung, Kapital und Arbeit, Innovation und Marketing in Beziehung sind. Erst in der Differenzierung der Beziehungsqualität können wir ein Kriterium dafür gewinnen, ob Strategien des Digitalen gelingen oder nicht. Dafür sollten wir zunächst in KALTE und WARME Beziehungsformen differenzieren:
Kalte Digitalisierung
SUBSTITUIERT Beziehungen in digitale Anwendungen. Es geht darum, den Kunden – oder auch den Mitarbeiter – auf digitale Distanz zu bringen. Der Boom digitaler Assistenten in Form von Siri, Alexa und-wie-sie-alle-heißen ist im Grunde ein Versuch, reale (Markt-)Beziehungen überflüssig zu machen. Zwischen Kunde und Ware tritt nur noch die personale Illusion einer sanften weiblichen Stimme. Aber das hat einen hohen Preis. Der Zynismus dieser Strategie wird allzu schnell sichtbar. Wie im jüngsten Skandal der Burger-King-Reklame, die den Google-Sprachassistenten in den Haushalten dazu nutzte, eine neue Form von infiltrativer Werbung zu versuchen. Hier geht es nicht um Kommunikation, sondern um MANIPULATION. Es geht um Digitalen Putschismus. Siehe: https://futurezone.at“.
Warme Digitalisierung
schafft hingegen NEUE Verbindungen, indem sie Kunden, Umwelt und Produkt „in Beziehung” setzt. Wenn Bio-Jeans über das Internet im Abo-System angeboten werden, entwickelt sich ein neuer Markt der Beziehungs-Nutzung (MUD-Jeans). Wo die Netzwerkvorteile von Bio-Nahrungsmitteln, guter Energie oder geteilter Mobilität auf Apps nutzbar gemacht werden – etwa im Carsharing- oder Green-Energy-Konzepten – werden die real-digitalen Symbiosen der Zukunft sichtbar. Gute Digialisierung kombiniert das Reale-Haptische mit dem Informell-Kommunikativen zu Verbindungen, in denen neue Verfügbarkeit entsteht.
Kalte Digitalisierung
entsteht aus dem Grundmotiv der Rationalisierung: Wenn eine Firma eine rein beziehungslose Digitalisierungs-Strategie fährt, versucht sie zu verbergen, dass sie kein zukunftsfähiges Wertschöpfungskonzept mehr hat. Dann werden Mitarbeiter durch die Blume des Digitalen aufgefordert, zu kündigen, weil sie „über-flüssig” sind. Kunden werden an Websites und Sprachroboter überwiesen. Das Elend der Bank wird in die virtuelle Bank verschoben, der Kundenberater ist nicht mehr erreichbar, am Ende sind alle frustriert. Und arbeitslos.
Warme Digitalisierung
macht das Digitale zur Zukunftskraft, indem sie die Beziehung zwischen Mensch, Organisation und Produktion (oder Dienstleitung) flüssig gestaltet und daraus Beziehungsvorteile generiert. Sie lagert Kontroll-Operationen aus, um Freiheiten und Zuwendungen zu ermöglichen. (In automatisch fahrenden Autos kann man, um ein einfaches Beispiel zu bemühen, besser küssen). Sie EMPOWERT die Akteure – Kunden UND Mitarbeiter, Zulieferer UND Vertrieb. Sie „bezieht” sich auf die Umwelt, indem sie die stofflichen und energetischen Kreisläufe effektiver – nicht nur effizienter – macht. So entsteht im Real-Digitalen Raum ähnliche evolutionäre Schönheit, wie wir sie von der Entwicklung komplexer Lebewesen kennen. Wir nennen es das DIGITALE OMEGA (siehe ZukunftsReport 2017, Seite 23).
So einfach es nicht. Kalte Technik kondensiert an der warmen Fläche menschlicher Bedürfnisse, und dabei entsteht jede Menge Reibungs-Hitze. Wie die Entwicklung neuer Arten in der Natur findet die real-digitale Evolution als blinder Selektions-Prozess statt. Was nicht „in Beziehung” treten kann, wird ausgerottet. Der Disruptions-Gigant UBER wird am Markt scheitern, wenn es sein eiskaltes Abschöpfungs-System, das sich auch im sexistischen Zynismus seiner Firmenkultur zeigt, nicht überwindet. Rocket Internet wird sich am Ende an seinem eigenen Größenwahn verstolpern, weil es auf evolutionär instabile Marktmacht-Strategien setzt. Das öffentliche Stottern von Marc Zuckerberg angesichts der Hass-Ströme in Facebook zeigt den längst fälligen tipping point: Soziale Medien sind heute an jenem Punkt angelangt, wo sie neue humane Regelsysteme entwickeln müssen. Oder sie werden zu Müllgruben des Menschlichen, Restekippen verzweifelnder Emotionen, aus der sich die Menschen früher oder später in die Re-Analogisierung retten werden…
Wir stehen vor einer Welle human-digitaler Passungs-Prozesse. Wie in Verfeinerungs-Phasen der Evolution neue Spezies in Ökotope einwandern und sich dort in stabilen Nischen etablieren, sortieren sich die digitalen Strategien nach ihrer Adaptions-Fähigkeit in humanen Umwelten. Das muss nicht immer „moralisch” sein; die Mafia zieht sicher guten Nutzen aus der Familien-Software von Facebook. Aber die Spreu wird vom Weizen, der digitale Sinn vom digitalen Un-Sinn getrennt. In der Fabrik wird das Internet der Dinge seinen Sinn erfüllen – weil es sinnvoll ist, dass Maschinen untereinander kommunizieren, wenn Produktion reibungslos werden soll. Im privaten Haushalt hingegen ist „IOT” (Internet Of Things) hoffnungslos überschätzt; den Kühlschrank mit der Brotschneidemaschine zu vernetzen, wie es uns heute eifrige Digital-Auguren verordnen, ist eben nicht smart, sondern, wie der Internet-Kritiker Evgeny Morozov es nannte „Eine sinnlose Lösung auf der verzweifelten Suche nach einem Problem” – sein Fachwort dafür lautet „Solutionismus”.
Die Googellusion
Glauben wir den Auguren der ewigen digitalen Beschleunigung, dann ist die Zukunft im wahrsten Sinne vorprogrammiert: Künstliche Intelligenz (KI) übernimmt in vielen Bereichen das Kommando, Roboter marschieren in alle menschlichen Belange ein. Dazu kommt irgendwann die Übersiedlung zum Mars und die Abschaffung des Todes.
Aber hinter dem KI-Glauben steht ein fundamentales Missverständnis. Dass Computer besser Schach und inzwischen auch Go spielen können als Menschen heißt nicht, dass sie „klüger” sind als wir, sondern nur algorithmischer in Bezug auf Spieloperationen. KI kann menschliche Intelligenz nur dort ergänzen, wo die Komplexität nicht die Intuition und Kreativität des körperlichen Menschen erfordert. Watson mag noch so „präzise” medizinische Diagnosen treffen, am Ende sind eben viele Krankheiten eben nicht präzise, sondern diffus. Watsons Genius wird in der vertrackten Komplexität des Gesundheitssystems steckenbleiben. VR-Systeme mögen zwar unendliche Abenteuer ermöglichen, verwirren aber unseren Realitätssinn so gründlich, dass sie in einer (durchaus lukrativen) Marktnische steckenbleiben. Siri und Co, die digitalen Sprachassistenten, werden sich eben NICHT in jedem Wohnzimmer durchsetzen. Denn sie bewegen sich ziemlich schnell in Richtung des „Uncanny-Valley”-Gefühls – jener tiefen Befremdung, die Menschen befällt, wenn sie mit künstlicher Menschenähnlichkeit konfrontiert werden. Roboter bleiben außerhalb der Fabrik Spielzeug, die Tatsache, dass sie heute auf jeder Business-Konferenz erstmal mit piepsiger Stimme die Moderatorin begrüssen müssen, gibt eher Auskunft über die Langeweile von Businesskonferenzen als über die wahre Zukunft.
Die gigantischen Zukunftspläne der Internet-Riesen sind die Kleider der neuen digitalen Kaiser. Sie zeugen eher von der Panik, die die neuen Monopolisten angesichts ihrer Marktmacht befällt, die ihnen selbst unheimlich ist. Schließlich sind Facebook, Apple, Google & Co einmal als Rebellen angetreten, und schon landen sie in Darth Vaders Reich. Mit klebrigen Klicks Anzeigen verkaufen, ist auf Dauer eben kein sexy Geschäftsmodell. Die Fluchtoperationen in KI und Robotik, Mars-Exodus und Abschaffung des Todes sind Tarnungen der Tatsache, dass der nächste Marktzyklus, das nächste Geschäftsmodell, völlig unklar ist. Mit derselben Euphorie hat eine amerikanische Fluggesellschaft Reservierungen für Tickets zum Mond entgegengenommen (die inzwischen pleite gegangene PanAm).
Euphorie, Pleite, Niedergang, Auslese: In den nächsten Jahren wird es zu heftigen Turbulenzen auch IM Reich der digitalen Imperien kommen. Das, was Google, Amazon, Facebook, Apple und Twitter mit anderen machen – Disruption – wird die Internet-Konzerne selbst betreffen. Plattform-Kapitalismus mag zäher sein als analoger Kapitalismus, aber auch er wird irgendwann seine eigene Selbst-Disruption hervorrufen. Bei diesem evolutionären carving out entsteht nichts anderes als die „Neue Humane Erzählung”, von der Yuvel Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus” spricht. Die human-digitale Evolution hat erst begonnen. Wir Zukunftsforscher haben das Privileg, aber auch die Pflicht, dieses andauernde Beziehungs-Drama zwischen Mensch und Maschine in die Zukunft zu begleiten. Und – wo immer es geht – zu gestalten.
Siehe zum Thema auch die neue Studie des Zukunftsinstituts:
DIGITALE ERLEUCHTUNG. Mehr Info + Bestellung
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Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie WIR sind.
Anaïs Nin
Das Geburtstagsfest
Vor einiger Zeit war ich auf auf dem runden Geburtstag einer guten Freundin eingeladen. Gefeiert wurde in einer Hütte an einem traumhaft blauen See in den Bergen. Es war ein strahlender Tag voller Gnade und Schönheit. Die Gäste waren nicht ohne Schrammen durchs Leben gegangen, aber jeder hatte auf individuelle Weise seinen Weg gefunden. Eine multi-mobile Freundes-Truppe im dritten Lebensquartal, mit verstreuten Wohnorten (Europaweit, sogar Übersee), interessant diversem Beziehungsstatus (von langen Ehen bis verdeckter Polyamorie) und bunt gemischten Geldlagen (von pleite bis reich). Es gab fantastisch schöne Frauen im Alter des Geburtstagskinds. Es gab hinfällige und attraktive Männer zwischen 40 und 80.
Ich ging mit meiner Bekannten ein Stück den Berg hinauf zum Waldrand, und wir redeten über das Älterwerden, seine Vorteile und Nöte. Wir blickten zurück zum Fest, wo die Kinder, die schon Enkel waren, im kalten Wasser des Bergsees tobten. Das alles wirkte wie in einem romantischen französischen Film aus den 80er Jahren. Untermalt wurde alles vom wunderbar schrägem Humptata der Geburtstags-Band, die sich aus Tiroler Hipstern rekrutierte.
„In was für einer unglaublichen Fülle wir leben!” sagte das schöne Geburtstagskind nachdenklich.
Wir wanderten eine Weile über eine blühende Wiese. Auf dem Gesicht meiner Bekannten spielte plötzlich ein seltsames Unglück. Und dann brach es aus ihr heraus: „In was für einer tollen Zeit wir doch gelebt haben! Das wird einem jetzt wieder klar, wo alles den Bach heruntergeht… Wenn ich an diesen Trump denke, wird mir ganz schlecht. Und all die Kriege, das Elend, der Terror! Die Erderwärmung – was werden die Enkel eines Tages für eine schreckliche Welt erleben!”
Da war er plötzlich wieder, dieser angstvoll-apokalyptische Tonfall. Das Lied vom Ende von Wohlstand und Fortschritt. Von Zukunft überhaupt. Mitten im Glück wendet sich unser Blick in den Rückwärtsgang. Mitten in der Fülle befällt uns ein generalisiertes Elend, das unsere Segnungen plötzlich klein und unbedeutend erscheinen lässt. Warum sind wir so empfänglich für der Einflüsterungen der Negativität? Wieso lassen wir uns so leicht anstecken von einem Gerücht, dass sich wie Mehltau auf Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen legt? Dass die besten Zeiten hinter uns liegen. Dass alles immer schlechter wird. Dass die Welt verloren ist. Das glauben heute viele. Gefährlich viele.
Eine ansteckende Art der seelischen Verbitterung
Meine Frau Oona hat vor einigen Monaten dieses Phänomen AWFULIZING getauft. „Du machst schon wieder AWFULIZING!” sagte sie mit ihrer bezauberndsten Stimme, nachdem ich irgendeine mürrische Verknüpfung der Tatsache, dass der Hund in den Garten gemacht hatte, mit den steigenden Mieten in den Metropolen und der beängstigenden politischen Lage Europas formuliert hatte.
AWFULIZING – vom englischen schrecklich, fürchterlich, entsetzlich, blöd, gemein – ist ein schöner Begriff, der durch seine englische -ing-Silbe beschreibt, worum es wirklich geht: Nicht nur um Schlecht-Finden, sondern um Schlecht-MACHEN. Man darf AWFULIZING nicht mit dem Jammern verwechseln. Jammern kann befreiend sein. Man denke an die berühmten italienischen Mamas, die unglaublich schimpfen können, um im nächsten Moment die Welt mit Güte zu überschütten. Aber während der Jammerer seine Enttäuschung herauslässt, um sich danach wieder frisch dem Leben zuzuwenden – eine Art Seelen-Reset – entsteht im AWFULIZING eine seltsame ideologische Mutation.
Wenn wir AWFULIZEN, sehen wir die Welt in einem negativen Gesamt-Zusammenhang, der kleine Dinge mit großen, Vorurteile mit Beobachtungen, Symptome mit Systemen verknüpft, die meistens wenig miteinander zu tun haben. Dabei spielt die Formulierung „Immer mehr&rd die zentrale Rolle. Immer mehr Taxifahrer sind unhöflich, immer mehr Politiker sind korrupt, immer mehr Demokratien gehen den Bach herunter, immer mehr Kinder sind autistisch, immer mehr Familien gehen kaputt… Auch wenn es meiner Familie ausnahmsweise wunderbar gut geht.
Übrigens ist auch der Kaffee heute wieder fürchterlich!
Als Grund für den Siegeszug des AWFULISMUS – ja, so muss man diese Ideologie nennen! – fallen einem zuallererst „die Medien” ein. Es ist wahr: Wer auch nur einen Tag Zeitungen liest, News-Websiten schaut und das Fernsehen verfolgt, muss davon ausgehen, in einem Irrenhaus mit solider Untergangstendenz zu leben. Das Turbo-Echtzeit-Medium, das unentwegt um die knappen Ressourcen der Aufmerksamkeiten und Erregungen kämpft, umgibt uns inzwischen wie eine zweite Haut, traktiert uns tagtäglich mit gigantischen Vorräten des Schrecklichen, Exzessiven, Skandalösen oder Blödsinnigen. Irgendwann brechen die Immunkräfte zusammen, die unsere Seele gegen diesen Irrsinn bildet. Jede Talkshow zementiert heute durch nackte Polarisierung die Unmöglichkeiten gesellschaftlichen Fortschritts. Jedes „kritische” Politiker-Interview will um jeden Preis nachweisen, dass der Interviewte ein grundkorrupter, ignoranter, elitärer Nichtskönner ist. Jeder neudeutsche Krimi beinhaltet heute so viel Horror, dass es zum Weltverzweifeln reicht.
Der Apokalyptische Spießer
Vor einigen Jahren habe ich die Figur des „Apokalyptischen Spießers „erfunden”. Natürlich handelt es sich um eine Karikatur, aber wer hat diese Figur nicht schon irgendwo leibhaftig gesehen – oder in sich selbst gespürt?
Der Untergangs-Spießer zeichnet sich durch eine seltsame, aber gar nicht so seltene Gemütslage aus: Negative Komfortabilität. Er beobachtet die Welt und wartet mit einer seltsamen Erregung auf die nächste Katastrophe. Er (ja, es ist immer ein Mann) fühlt sich beim Schlechtmachen der Welt erstaunlich wohl, man könnte bisweilen sogar vermuten: Glücklich.
Irgendwie ähnelt er in Vielem Donald Trump.
Wie kommt das?
Eine erste, spontane Antwort lautet: Definitionsmacht. Der apokalyptische Spießer ist ein Besserwisser. Nein, ein SCHLECHTERWISSER. Er weiß Bescheid. Er kennt sich aus. Er weiß, dass hinter den wenigen guten Nachrichten Illusionen und hinter den vielen schlechten tiefere Wahrheiten sitzen. Dadurch sitzt er immer am längeren Hebel.
Jede negative Meldung gibt dem Untergangs-Spießer einen kleinen Kick der Genugtuung. Ich habe es doch gewusst! Ich habe mir nichts vormachen lassen! So kapselt man sein Unglück ab, indem man es in eine riesengroße kognitive Resonanz einbringt. Das eigene Unglück lässt sich im großen Weltunglück verstecken.
Dazu kommt: Intensitätssuche und Verschwörungs-Sehnsucht.
Das Gefühl, in einer Endzeit zu leben, macht das Leben jedoch wieder auf paradoxe Weise intensiv. In jedem Untergangs-Film können wir sehen, wie wahre Helden im Kampf gegen das Aussichtslose geformt werden. Im Angesicht der letzten Tage scheinen wir unsere eigene, endlich reine Identität zu erkennen. Das Existentielle wird deutlich, das Vergängliche, Einmalige des Lebens. Im AWFULIZING bauen wir eine Leinwand auf, auf der wir unsere eigene Existentialität spüren können.
Auch die Faszination von Verschwörungstheorien folgt einem ähnliches Muster. In der zivilisatorischen Entfremdung spüren wir einen tiefen Sinnverlust. Als Gegenmittel codiert der apokalyptische Spießer die Welt im Sinne eines SINNS der Negativität. Skandale stehen stellvertretend für das Ganze des Betrugs, dem „wir” unterliegen. Die Logik der Verschwörungstheorien geben der inneren Leere einen äußeren Sinn: Wir sind so wichtig, dass sich mächtige Kräfte gegen uns verschworen haben. Das macht uns wertvoll. Wenn alle gegen uns sind, wertet uns das unglaublich auf.
Eine kleine Psychologie des AWFULIZING
Der amerikanische Psychologe Albert Ellis hat den Begriff AWFULIZING bereits in den 60er Jahren als unter dem Stichwort „pathological worrying” – pathologisches Sorgen-Syndrom – als eine tiefgreifende Störung des Denkens diagnostiziert: „Wenn wir ‚AWFULIZEN‘, betrachten wir eine Situation oder ein Ereignis in übertrieben negativer Weise. Wir sehen zum Beispiel eine kleine Niederlage oder einen kleinen Rückschritt als größere Katastrophe. Oder ein gefürchtetes Ereignis wird so symbolisch überhöht, dass sein Eintreten nicht zu ertragen wäre. ‚Awfulizing‘ setzt eine Kettenreaktion sich-selbst-erfüllender Gedanken, Gefühle und Aktionen in Gang: die bloße Erwartung, dass die Dinge schlechter werden, wird zur Ursache dafür, dass sie schlechter werden.”
Wenn wir AWFULIZEN, folgen wir Denk- und Fühlroutinen der Abwertung. Wir werten die Welt und ihre Schönheit, ihre Möglichkeiten ab. Wir werten unsere Mitmenschen und ihr Bemühen ab. Wir werten im Grunde auch unsere eigenen Befürchtungen ab, indem wir sie generalisieren. Warum? Weil wir UNS längst SELBST abgewertet haben! Im Kern ist AWFULIZING ein Zusammenbruch des Selbstwertgefühls, der Selbst-Wirksamkeit. Jenes Erlebens der eigenen Bedeutung, die jeder Mensch zum Leben braucht.
In Partnerschaft und Liebe kann man diesen Effekt der self-fulfilling prophecy besonders deutlich erkennen. Paare, die sich in der Spirale gegenseitigen Schlechtmachens befinden, in der vorauseilenden Kritik am Anderen. Warum hast Du nicht? Wie kannst Du nur? Wenn Du damals, nicht, dann wird auch morgen… – erzeugen durch Negativität das, was sie fürchten: Den Verlust der Liebe, die Trennung, die Untreue.
Hier eine Übersicht über die diversen Aspekte der AWFULIZUNG-Psychologie:
Wenn wir AWFULIZEN, betrachten wir die Welt ausschließlich von den Problemen her. Nicht von den Lösungen, die implizit in jedem Problem enthalten sind.
„Wenn wir Probleme zu unserer Wirklichkeitskonstruktion machen, wenn wir uns von ihnen die Welt erklären lassen, dann werden sie uns erzählen, was wir NICHT können. Wir können dies nicht, wir können das nicht – unser Leben wird ein Behältnis für Abwesenheit und Versagen.”
So formulierte es der Kognitionspschologe David Niven in seinem Buch „The Answer”.
Wenn wir AWFULIZEN, deklarieren wir unseren Komfortabilitätsanspruch an die Welt. Die Welt enttäuscht uns, weil sie einfach nicht so will, wie wir wollen. Sie ist nicht so sauber, sicher, harmonisch, fortschrittlich, gerecht, wie wir es uns wünschen. Sie hört nicht auf unser Kommando. Deshalb findet sich im AWFULIZING immer eine deutliche Spur von Schmollen, von Beleidigtsein.
Wenn wir AWFULIZEN, verlieren wir die wichtigste mentale Waffe der menschlichen Selbst-Stabilisierung: Humor. Guter Humor bedeutet, die Welt mit zwei Augen sehen zu können – und sich trotz, oder wegen, ihrer Paradoxität zu entspannen.
Wenn wir AWFULIZEN, entledigen wir uns jeder Verantwortung. Wir haben mit nichts etwas zu tun, weil in einer unweigerlich untergehenden Welt Handlungen keine Konsequenzen haben. Wir sind also immer fein raus, was die Fragen von Schuld, von Verantwortung, von Teilhabe betrifft.
Wenn wir AWFULIZEN, negieren wir die Komplexität, die uns umgibt. Wir leben in einer Zeichenwelt, in der wir nicht mehr in der Lage sind, die Zusammenhänge zu begreifen, die jedem Phänomen zugrunde liegen und es zum Teil eines großen, ausgleichenden Systems machen. Wir begreifen nicht, dass jeder Trend einen Gegentrend hat, jeder Reiz eine Reaktion erzeugt, jede Krise in eine neue Entwicklung führt.
Wenn wir AWFULIZEN, glauben wir zwar „nur” die Welt zu beschreiben wie sie ist. In Wirklichkeit treffen wir aber eine negative Kommunikations-Entscheidung. Wir miss- und verachten die Glücks- und Renonanzerwartungen unserer Mitmenschen. Nörgeln, Jammern, ständiger latenter Pessimismus, Schlechtmacherei ruiniert die Beziehung ebenso wie die Unternehmens-Kultur oder das gesellschaftliche Klima. Awfulizen ist eine äußerst machtvolle Beziehungs-Verweigerung.
Wenn wir AWFULIZEN, tragen wir zu jenem Klima bei, auf dem der bösartige Populismus gedeihen kann. Im Populismus geht es, wie der Psychologe Wolfgang Schmidtbauer in „Psychologie Heute” ausführt, darum, „differenzierte Gefühle zu leugnen und primitive Größenphantasien mit den ’schnellen‘ Affekten von Angst und Wut zu verbinden.” AWFULIZING liefert den geistigen Begründungszusammenhang, in dem man über Alles in differenzlose Wut ausbrechen kann und alles auf geheimnisvolle bösartige Verschwörungen zurückführen kann.
Wenn wir AWFULIZEN, verabschieden wir uns von der Lebendigkeit des Seins.
Albert Ellis formuliert:
„Die Kosten dafür, sich selbst panisch, wütend und selbstmitleidig zu machen, sind enorm. Sie werden in Zeit, Geld und sinnlosem Aufwand entrichtet. In unerwünscher mentaler Pein. In der Sabotage des Glücks von Anderen. In dummen Verzettelungen und dem Liegenlassen des Freude-Potentials des eigenen Lebens – des einzigen Lebens, das wir je haben werden.”
Die neue Achtsamkeit
Was aber hilft?
Zunächst müssen wir verstehen, dass die Welt weder gut noch schlecht ist, noch wird sie schlechter. „Die Evolution hat die Realität geschaffen, wir Menschen schaffen die Wirklichkeit.”, formulierte der Kybernetiker und radikale Konstruktivist Heinz von Foerster. Das anzuerkennen ist schwer. Denn unser Hirn ist dazu konstruiert, das, was es an Abweichungen festzustellen meint, als „Realität” zu definieren. Auf diese Weise verwechseln wir uns, beziehungsweise unsere inneren Stimmungen, ständig mit der Welt. Wir verwechseln im hypermedialen Zeitalter die Welt mit ihren Signalen. Wir verwechseln letztendes uns selbst mit uns selbst. Unser Angst-Ich ersetzt unser lebendiges Sein.
Menschliches Leben ist ohne Hoffnung nicht zu denken. Wir sind zwar Problem-Wesen, aber eben auch Hoffnungswesen. Sonst hätte die menschliche Spezies das tatsächliche Grauen, das in der Vergangenheit liegt, nie überlebt. Genau darin liegt ja der Kern einer begründeten Zukunfts-Hoffnung: Generationen und Generationen vor uns führten Leben, die „brutish und short” waren, grausam und kurz, wie Hobbes formulierte. Heute gibt es immer noch Armut und Kriege auf der Erde, aber es gibt auch viele Leben, die länger, reicher und erfüllter geworden sind. Es gibt Freiheiten, Wahlmöglichkeiten, Varianz in Hülle und Fülle. Und das wird sich weiter ausweiten.
Zweitens müssen wir verstehen, das der Kampf gegen den AWFULISMUS nicht mit Optimismus zu gewinnen ist. Optimismus ist immer ignorant, blauäugig, blendet aus, färbt schön. Auch die Hoffnung allein hilft wenig.
ZUVERSICHT ist ein besseres Wort. Zuversicht, in Zusammenarbeit mit Mut. Zuversicht bezieht, anders als die eher passive Hoffnung, unsere Voraus-Sicht mit ein, das Nach-Vorne-Schauen, aber auch unsere Verantwortung für uns selbst und den Teil der Welt, den wir beeinflussen können.
Und der ist größer und wichtiger als wir oft denken!
Die Antwort auf den grassierenden AWFULISMUS unserer Zeit besteht in Kulturtechniken der Achtsamkeit. Damit ist kein Meditations-Ausstieg gemeint, oder glöckchenklingender Hokuspokus. Achtsamkeit ist eine mentale Kulturtechnik, sich beim Beobachten selbst zu beobachten. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, sich selbst in seinen Welt-Haltungen zu verstehen „ und dabei mentale Selbstwirksamkeit zu erlangen.
Achtsamkeit benötigt Entschlüsse. Zum Beispiel: Den medialen Lärm in unserem Leben bewusst zu beschränken. Zu entscheiden, wofür wir uns verantwortlich erklären und wofür nicht. Mit anderen im Geiste der Zuversicht zu kommunizieren – und dadurch Welt neu zu konstruieren.
Unseren inneren Angst-Spießer vom Sofa der negativiven Komfortabilität aufzuscheuchen.
Achtsamkeit heißt GEHEN LERNEN. Wer in die Welt geht – in die REALE Welt – der verliert die Angst. Denn in der Welt gibt es immer das Wunderbare UND das Schreckliche. In der Welt ist die Liebe, die Hoffnung, das Furchtbare, immer konkret. Und damit bewältigbar.
Wenn wir richtig hinsehen, mit ganzem Herzen, sehen wir, das das Wunderbare überwiegt.
Im Grunde geht es um Erwachsenwerden in einer komplexen Welt.
Wie sagte der britische Dichter W.H. Auden? „Choice of attention to pay attention to this and ignore that is to the inner life what choice of action is to the outer.” In sehr freier deutscher Übersetzung: „Wir sollten uns die Freiheit nehmen, unsere Aufmerksamkeiten durch die Wahl unserer Handlungen zu steuern.”
Aufmunterungen:
Für die Daten zur realen Entwicklung der Welt sind die Big-Data-Websites Gapminder und Our World in Data erste Wahl.
Hier eine kleine Auswahl von Anti-Awfulizing-Literatur (Sachbuch):
Johan Norberg: Progress, Ten reasons to look forward, Oneworld Publications, New York. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’1786070650′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’a97717e4-029f-11e8-8243-0bff1dedab6f‘]
Mark Stevenson: An Optimists Tour to the Future, Profile Books, London 2012. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’1583334564′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’f0496f5e-029f-11e8-8cf5-b9e8eeaba53c‘]
Steven Johnson: Future Perfect, The Case for Progress in an Networked Age, Penguin London 2003. Erhältlich bei Amahon: [amazon_link asins=’B00I6Z8FM6′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’674aac5f-02a0-11e8-8245-cf22060bb6c0′]
Charles Kenny: Getting Better, Basic Books, New York 2011. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’046503103X‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’817918bc-02a0-11e8-aee5-1def9b9aad70′]
Robert Wright: Nonzero, Evolution & Human Cooperation: The Logic of Human Destiny, Abacus, New York 2001. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’0349113343′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’955134e9-02a0-11e8-8688-fd3244cfe3b8′]
Björn Lomborg: Apokalypse No!, Klampen-Verlag 2012. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3934920187′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’b0060ebd-02a0-11e8-a419-8d93651224b7′]
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Eine neue Sozial-Theorie macht Furore: Erklärt der Klassen-Kampf zwischen „Anywheres” und „Somewheres” die Konflikte der Zukunft?
Mai 2017
Michael Gäbler [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons
In einem Buch und einigen vielgelesenen Zeitungsartikeln hat der englische Publizist David Goodhart eine neue Ursache für den bösartigen Populismus unserer Tage ausgemacht. Le Pen, Brexit, Trump, die Hasskultur im Netz – in der globalen Welt, so Goodhart, sind zwei neue „Meta-Klassen” entstanden, zwei völlig verschiedene Lebens- und Fühlweisen. Diese Separat-Kulturen, so Goodhart, treten nun in einer Art neuen Weltkulturkrieg gegeneinander an.
Die ANYWHERES (deutsch am besten: „Irgendwos”) sind jene multi-mobilen Bewohner der globalen Städte, die jederzeit umziehen könnten. Die gutbezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter, die Künstler, Kreativen, Konstrukteure des eigenen Lebens. Die Gebildeten und Bildenden, die Sinn-Sucher, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. ANYWHERES sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Sie sprechen den Code universalistischer Werte und repräsentieren die kulturelle Hegemonie.
Die SOMEWHERES sind hingegen diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen an einem Ort GEBLIEBEN sind. In Hochhausghettos, in denen der Beton bröckelt. In von den meisten attraktiven Frauen verlassenen sächsischen Kleinstädten. In aufgelassenen Provinzen. In Wohnblocks an Einfallstraßen. In Kleinstädten, in denen das Schwimmbad längst geschlossen und die Fußgängerzone seit den 80er Jahren verkommen ist. In Vororten von Städten, die nicht zu den Schwarmstädten gehören. In verkommenen ehemaligen Stahl- und Kohle-Revieren.
ANYWHERES und SOMEWHERES unterscheiden sich vor allem durch einen völlig unterschiedlichen MINDSET in Bezug auf Veränderung. Für ANYWHERES ist der Wandel das, was sie antreibt, herausfordert, lebendig macht – auch wenn man manchmal scheitert. Für SOMEWHERES ist Veränderung dagegen eine ständige Verlustrechnung. Eine Demütigung. Sie erleben sich nicht als Handelnde, sondern als Opfer des Wandels. Zwar nutzen sie auch elektronische Medien, aber sie profitieren nicht davon im Sinne von Zugängen zu jener Prosperität, die in den Großstädten durch Digitalität entsteht.
Die SOMEWHEREs, so Gotthard, sind aber keine Nazis oder Fremdenhasser, sondern meist gutartige, familiär und heimatlich gebundene Menschen. Weil sie sich in ihrem Stolz verletzt fühlen, sind sie allerdings empfänglich für Gefühlsstürme. Wenn ein rhetorischer Zyniker kommt und ihnen ein großes, zorniges WIR anbietet, könnten sie diesem Ruf folgen. Auf Dauer, so Gotthart, würden sie den Kampf gewinnen. Er schätzt die Anzahl der ANYWHERES, der urbanen Eliten, auf maximal 25 Prozent der Bevölkerung, die der SOMEWHERES auf mindestens 40 Prozent.
David Gotthard gehörte vor zwanzig Jahren zu DEMOS, dem legendären Think-Tank um Tony Blairs Reformprojekt „New Labour”. Er ist Erbe und gleichzeitig Dissident des politischen Experiments des „Dritten Weges” der späten Neunziger Jahre, in dem es um die Überwindung der alten Rechts-Links-Logik zugunsten einer neuen Modernisierungspolitik ging. Inklusion war das grosse Stichwort. Es ging um einen pro-aktiven, intelligenten Sozialstaat, eine Politik der Mitte, die innovationsfreundlich, aber auch sozial verantwortlich agieren sollte. Heute sind diese komplexen Ansätze weitgehend vergessen; zerrieben in der ewigen Polarisierung der Talkshows, im Geschrei des Netzes und der ewigen Sehnsucht nach Schwarzweiß-Denken.
Wie viele, die früher progressiv dachten und fühlten, hat sich Gotthart von den urbanen linken Milieus losgesagt, denen er Salon-Bolschwismus und Ignoranz vorwirft. Gottharts Verdienst ist aber, die neuen sozialen Konflikte nicht auf reine Verteilungsfragen, sondern auch auf eine Psychologie der Gefühle zurückzuführen. Die knappste aller Zukunfts-Ressourcen ist SELBSTWIRKSAMKEIT. Wir haben es nicht nur mit Sarah-Wagenknecht-Problemen der Umverteilung zu tun, sondern mit psychologischen Prozessen, die einen ganzheitlichen Ansatz erfordern, ein Denken in Ganzheit, in „Gesellschaft”.
Allerdings muss man fragen, ob die Milieus, die Goodhart beschreibt, wirklich so homogen sind. Kennen wir nicht alle Menschen, die in der Provinz, auf dem Dorf leben und die trotzdem wunderbar „auf dem Weg” sind? Haben wir nicht alle irgendwie BEIDES in uns – den Lokalisten und den Globetrotter? Gehört die Zukunft nicht den GloKAListen, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen? Und gibt es nicht massenweise Beispiele, wie sich Dörfer, Regionen, Stadtteile aus der Stagnation befreien, wo soziale Innovation entsteht, weil neue Allianzen zwischen aktiver Zivilgesellschaft und klugen Politikern entstehen? Gibt es nicht die besten Co-Gardening-Initiativen in der Industriebrache Detroit und jede Menge kreatives Potential im Ruhrgebiet – wenn man nur richtig hinschaut?
Entweder-Oder ist immer faszinierend. Aber es ist eben auch ignorant. Klassenkampf-Propaganda, auch wenn sie im psycho-sozialen Gewand einherkommt, ist immer gefährlich, der „Kampf der Kulturen” bleibt am Ende ein Minus-Summen-Spiel. Zukunft entsteht erst dann, wenn die unterschiedlichen Sichtweisen und Lebensformen zueinander in ein neues, produktives Verhältnis treten. Ein solches politisches Zukunfts-Projekt wird, wie es aussieht, eher von der neuen radikalen Mitte kommen als aus dem ermüdeten linken Lager. Wie Emmanuel Macron sagt: „Regieren heißt, den Kreis zu erweitern!” Den Kreis der Kooperation, in der die Somewheres und die Anywheres endlich wieder miteinander in Beziehung kommen. Und dieses ganze Zuspitzen, Trennen, Klassen-Polarisieren und Zorn-Popularisieren endlich überwunden werden kann, zugunsten einer Wirklichkeit, die immer komplexer ist als man glaubt.
Warum in jedem Trend zum Schlechten auch ein Trend zum Guten liegt
Mai 2017
In der fernöstlichen Philosophie gibt es die KOANS, die unlösbaren Rätsel der Paradoxie. KOANS handeln von der Frage, wie es sich anhört, wenn man mit einer Hand klatscht. Oder wie man liebt, ohne besitzen zu wollen. An einem solchen unlösbaren Rätsel kauen wir nun seit einigen Monaten im Politischen herum: Wie konnte ein narzisstischer, reaktionärer, emotional bösartiger Stinkstiefel im freien, immer doch so „progressiven” Amerika an die Macht kommen? Und sich schon mehr als 100 Tage halten, ohne dass seine Popularitätswerte richtig fallen?
Womit haben wir das verdient?
Sind wir womöglich selbst schuld?
Ist das das Ende der Zukunft?
Wenn es um die Zukunft geht, entscheidet sich unser Kopf immer für zwei eingeschränkte Möglichkeiten. Es kann immer nur aufwärts oder abwärts, ins Desaster oder grandios Vorwärts gehen. Diese mentale Polarisierung stammt aus unserer Jäger- und Sammler-Seele, aus der Ur-Vergangenheit des Menschen, wo es darauf ankam, klare Entscheidungen zu treffen. Fliehen oder Standhalten! Freund oder Feind! Dieser Denk- und Fühl-Mechanismus ist zutiefst menschlich. In einer vernetzt-komplexen Welt führt er allerdings zu einer spezifischen Form des Versagens an der Wirklichkeit, von der „Populismus” nur eine Variante ist
Nach 100 Tagen Trump hat sich in der Tat einiges verändert. Nicht nur in Amerika:
Millionen von US-Bürgern sind inzwischen dauerhaft auf Wikipedia unterwegs, weil Donald Trump unentwegt falsche Fakten in die Welt setzt, deren Falsifikation in Wikipedia leicht möglich ist.
„Planned Parenthood”, die Organisation der progressiven Familienplanung, die in den letzten Jahren an Bedeutung verliert, gewann 400.000 neue Dauerspender.
Die Online-Auflage der NEW YORK TIMES stieg von 1 auf 1,5 Millionen.
#Die neuesten Umfragen in den USA zeigen, dass nach dem Scheitern der Trump-Gesundheitsreform die meisten Amerikaner davon ausgehen, dass es auch in Zukunft eine GARANTIERTE Krankenversicherung für alle geben muss. Das war in der Zeit, als Obamacare unentwegt die Kritik an sich zog, nicht der Fall.
Kreative Branchen wie Kunst, Performance, Theater, boomen im Zeichen einer erwachten Interesses an politischen und gesellschaftlichen Themen.
Die internationale Wissenschafts-Community diskutiert erstmals intensiv um die Frage zukünftiger Vermittlung wissenschaftlicher Methoden. Der Pro-Science Earth Day brachte hunderttausende von Menschen, die Wissenschaft lieben, auf die Straße.
Satiresendungen im amerikanischen Fernsehen, sind inzwischen wieder richtig gut und lustig. Stephen Colbert, einer der skurrilsten Comedians, erlebte ein Comeback (derweil zeigen im deutschen Fernsehen fade Trump-Witze, dass deutsche comedy nicht so lustig, sondern eher zynisch ist).
In den deutschen Printmedien gibt es seit einigen Monaten erstklassige Essays, in denen Fragen gestellt wurden, für die sich früher niemand interessierte: Wie kommt es zu Zusammenbrüchen des Selbstwertgefühls? Was hilft gegen Selbsterniedrigung, die in Hass umschlägt? Wie funktioniert die Zukunftsmacht der Gefühle? W as sind regressive Utopien?
Auf den Zukunftskongressen, auf denen ich unterwegs bin, liegt plötzlich eine gewisse Nachdenklichkeit in der Luft. Endlich zweifelt man ein bisschen, ob das hypervirtuelle, künstlich-intelligente Paradies, das uns dort seit Jahren lautstark prophezeit wird, wirklich so bekömmlich ist. Ob Digitalität alle Probleme lösen kann und Industrie 4.0 tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist. Zukunfts-Diskurse drehen sich, man höre und staune, plötzlich wieder um DEN MENSCHEN.
Die Debatte um die Zukunft Europas bekommt plötzlich einen anderen Klang. Wir spüren, dass wir es uns mit dem wohlfeilen Europa-Bashing, das noch vor einem Jahr auch bei kritisch-progressiven Menschen sehr in Mode war, sehr einfach gemacht haben. Eine Reaktion darauf sind die zahlreichen PULSE-OF-EUROPE-Demonstrationen, die sich nach dem Muster viraler Bewegungen ausbreiten. Wenn man die Welt verbessern will, kann man nicht immer nur DAGEGEN sein.
In Frankreich entstand gleichsam über Nacht eine Politikbewegung neuen Typs. Macrons „En marche” greift die Dritte-Weg-Debatte der Neunziger auf und versucht, sie neu zu energetisieren. Dass das Liberale, Weltoffene, mit dem Sozialen und Empathischen zusammengehen kann, ist eine wunderbare Botschaft, auch wenn sie in viele Köpfe, die von den alten Links-Rechts-Ideologien geprägt sind, noch nicht hineingeht. Macrons Sieg zeigt, dass auch die Sphäre des Politischen spontane Innovationen hervorbringen kann.
Jeder Trend hat einen Gegentrend. Jede Tendenz nach unten bringt spontane Gegenreaktionen hervor, die Schönheit und Lebendigkeit zeigen. Darauf kann man sich in Richtung Zukunft verlassen. Trump ist unser aller Prüfung. Wir wissen am Ende nicht, was er bewirkt. Vielleicht wird seine bizarre Art sogar zu positiven Überraschungen führen. Genau diese Verunsicherung ist sein eigentlicher Verdienst.
„Irgendwie gibt Trump der Sache einen anderen Dreh” sagte Tom Wolfe, der ewige Dandy der amerikanischen Literatur, in einem SPIEGEL-Interview. Die Welt ist im stetigen Wandel. Dafür nutzt sie Überraschungen, Störungen, Tricks die uns zu neuem Denken und Empfinden zwingen. Was wie eine Katastrophe erscheint, ist eine Herausforderung für unser inneres Wachstum. Trump ist eine Provokation, die uns in die geistige Komplexität zwingt. Die Welt wird besser, auch wenn sie bisweilen wirre Schleifen zieht. Dieser störrische Rekursions-Effekt ist das ewige Geheimnis, das Einhandklatschen der Zukunft.
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