Vor ziemlich genau einem halben Jahr, am 21. März 2020 veröffentlichte ich den Text „Die Zukunft nach Corona” Die Intention dieses Textes lag nicht in einer Prognose. In der Situation einer komplexen, mehrschichtigen Tiefen-Krise lassen sich keine exakten Voraussagen treffen. So sehr man auch vom Zukunftsforscher erwartet, „die wahre Zukunft” zu kennen oder „Alles wird Gut!” zu predigen – es ging um etwas anderes.
„Die Zukunft nach Corona” war ein Text gegen die Herrschaft der Angst.
Ich wollte zeigen, dass Krisen immer auch eine ANDERE SEITE haben. Sie erzeugen, obwohl sie etwas verunmöglichen, immer auch einen neuen Raum der Möglichkeiten. Allerdings öffnet sich dieser Raum nur, wenn wir die Botschaft der Krise verstehen. Natürlich haben Krisen keine »Intentionen«. Aber sie geben uns Hinweise, Informationen – über unsere Gesellschaft, unsere Wirtschaft, aber vor allem über uns selbst.
Sie sind ein Spiegel, in dem wir uns – und unsere Zukunft – erkennen können.
Der israelische Philosoph Gershom Scholem sprach einmal von der »Plastischen Zeit«. Jener Zeit, in der sich vieles plötzlich ändern kann. „When everything can change, because history is in a volatile flux.” In unserem individuellen Leben sind das jene Episoden, in denen plötzlich alles in Fluss gerät. „If you move, something happens. But nothing happens, until you move.”
In einer solchen Zeit leben wir heute, jetzt.
Zombifizierung oder die Rolle der Angst
Angst ist ein lebenswichtiges Gefühl. Es wurde uns von der Evolution mit auf den Weg gegeben, damit wir in einer Welt der Lebensgefahren überleben können. Angst mobilisiert unsere Kräfte, damit wir fliehen oder kämpfen können. Sie gibt uns einen Stromstoß der Energie. Angst ist, in ihrer ursprünglichen Form, ein Elixier des Lernens.
Allerdings kann uns die Angst auch blöde machen.
Angst hat immer eine Doppelfunktion. Ähnlich wie die Liebe macht sie das Leben, die Wahrnehmung, intensiv und existentiell. Deshalb SUCHEN manche Menschen, besonders Männer, geradezu die Angst. Angst kann sogar zu einer neuronalen Sucht werden, einer Dopamin-Abhängigkeit, die uns das Gefährliche attraktiv erscheinen lässt. Das ist die Angstlust. Sascha Lobo hat dieses Phänomen einmal das »Prinzip Angstporno« genannt. Man muss die Dosis der Beängstigungen ständig erhöhen, und erzielt Lust damit, andere mit Ängsten anzustecken. Dazu dienen zum Beispiel Verschwörungs-Konstrukte, mit denen wir uns UND anderen Angst einjagen und sie gleichzeitig lösen können. Dann fühlen wir uns gleichzeitig mächtig, wichtig und lebendig.
Die größere Gefahr der Angst ist jedoch die Verängstigung. Angst kann sich, wenn sie nicht durch Handlung (und Liebe) erlöst wird in Seele UND Körper festsetzen. Sie regiert dann unser Leben als eine ständige Erwartung. Dabei verschiebt sich unsere innere Biochemie in Richtung Cortisol, einer Substanz, die unsere Energievorräte aufzehrt und uns auf Dauer krank, bitter und nicht selten bösartig macht.
Wenn Menschen, oder Gesellschaften, von andauernder Verängstigung befallen werden, verwandeln sie sich in Zombies. Zombies sind ja bekanntlich Wesen, die keine Angst mehr haben, weil sie schon tot sind. Richtungslos wanken sie durch die Gegend, und vertilgen alles, was ihnen in den Weg kommt.
„Die Angst des Primaten schützt dessen Leben, ohne ihn zu beeinträchtigen, wenn die Gefahr vorbei ist. Die Angst des Menschen schützt und gefährdet dessen Leben zugleich. Sie ist nicht mehr an äußere Gefahren gebunden, sondern auch an innere.“ Wolfgang Schmidbauer, Die Geheimnisse der Kränkung
In der Verängstigung beginnen wir, zu starren. Unser Blick auf die Welt verengt sich. Daraus entstehen Tunnelsichten, die sich in halluzinative Weltbilder verselbstständigen können. Wir sehen dann Gespenster, die wir für wirklich halten. Das ist die Verschwörungs-Illusion.
Durch Verängstigung entstehen emotionale Silos und ideologische Weltkonstrukte. Wir verlieren uns dann in einem Raum falscher Gewissheiten, die sich in Lügen und Selbst-Lügen manifestieren.
Die Verängstigung kann dazu führen, dass wir unsere inneren Verunsicherungen durch Hass und Wut ersetzen. Daraus speist sich der bösartige Populismus, der uns einreden will, alles zerfiele und könnte nur durch Gewalt und Dominanz-Strategien »gerettet« werden.
Enttäuschung als Heilung
Die Corona-Krise hat viele Erwartungen enttäuscht. Das Leben sollte immer so weitergehen, in einer ständigen Steigerungslogik. Wir wollten große Reisen unternehmen, mehr Geld verdienen, immer mehr Spaß und Vergnügen erleben, aber hallo! Das Bruttosozialprodukt sollte, nein muss(te) weiter steigen! Anders kann es nicht gehen! Ohne Wachstum geht es nicht, das höre ich immer wieder.
Aber das verblüffende an der Corona-Krise war ja gerade die Erfahrung: Es ging doch.
„Krisen erschüttern bisherige Gewissheiten und stellen Gewohnheiten infrage. Sie lassen Sicherheiten zerschellen. Möglicherweise ist eine derartige Erschütterung auch ein Weckruf, eingefahrene Bequemlichkeiten aufzugeben und den Wert des Lebens mit neuer Dankbarkeit anzunehmen. Aus TROST- Wege aus der Verlorenheit. Von Herrmann Glettler und Michael Lehofer
Die Corona-Krise griff an einem weiteren Kern-Punkt in unser Erwartungs-System ein. An unserem Zivilisationsverständnis. Auch hier wurden wir enttäuscht. Wir hatten uns der Illusion anheimgegeben, dass wir längst jenseits der Einflüsse der Natur leben. Die Corona-Krise hat uns drastisch klargemacht, dass die Mensch-Natur-Evolution weitergeht. Dass wir, einschließlich unserer Technologien, Teil eines ewigen Kreislaufs sind, aus dem wir nicht herauskommen.
Menschen, die in der Lage waren, sich in der Krise ENT-TÄUSCHEN zu lassen, konnten ihre Verängstigung überwinden. Sie konnten Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit erfahren, indem sie neue Aspekte an sich selbst (und den Menschen, mit denen sie in Verbindung waren) entdeckten. Wir alle, egal ob arm oder reich, haben diese Fähigkeit, die Welt NEU zu sehen. Und dadurch selbst NEU zu werden. Das ist das Wunder- und Wandelbare am Menschen.
Das Geheimnis der Re-Gnose
An dieser Stelle kommt die RE-GNOSE ins Spiel.
Wie kam es zu diesem Begriff?
Ich habe als Zukunftsforscher die Erfahrung gemacht, dass Prognosen auf eine seltsame Weise wertlos sind. Auch, ja gerade, wenn sie »richtig« sind.
Zukunft ist vor allem ein Narrativ, eine STORY. Damit unterliegt sie bestimmten Dramaturgien. Wenn die Lage unübersichtlich wird, tendiert unsere Zukunfts-Vorstellung, unsere futurologische Narration in zwei Richtungen:
Den Weltuntergang, die Apokalypse, die sich unweigerlich dadurch ankündigt, dass „alles immer schlechter wird”.
Die technische Erlösungs-Phantasie, die uns verspricht, dass – zum Beispiel – durch »Digitalisierung« alle menschlichen und Komfortabilitäts-Probleme für immer gelöst werden können.
Die Re-Gnose öffnet unseren MIND für die Zukunft, indem wir uns in ein anderes, reflexives Verhältnis zu ihr begeben. Indem wir uns geistig in die Zukunft versetzen, wird der Möglichkeitsraum sichtbar, in dem wir unterwegs sind. Wir nehmen uns sozusagen selbst in die Zukunft und dabei verwandeln wir unsere Wahr-Nehmung. Das ist der generelle Unterschied zu einer Pro-Gnose, in der die Veränderung immer nur von außen »auf uns zukommt«. Wie der pfeifende Zug im Tunnel, dem wir niemals ausweichen können, denn da ist gleich der Abgrund oder die Tunnelwand.
In der Re-Gnose erfinden wir uns selbst neu – in Beziehung zur Zukunft.
Die Venedig Re-Gnose
Setzen wir uns also in ein Straßencafé auf den Markusplatz in Venedig, so wie ich es im März 2020 vorgeschlagen habe.
Was sehen wir jetzt, im September 2020, ein halbes Jahr nach Lockdown, in der neuen Wirklichkeit?
Einige Touristen überqueren den Platz, aber die großen, lärmenden Touristengruppen sind verschwunden. Die wenigen Menschen scheinen auf eine seltsame Weise fröhlich zu sein. Einige tragen einen Mundschutz. Andere pfeifen darauf.
Einheimische sind zu sehen. Sie stehen in kleinen Gruppen zusammen, und haben offensichtlich zum ersten Mal das Gefühl, dass es wieder IHRE Stadt ist.
Wir sehen eine Stadt, die leer, aber trotzdem auf eine magische Weise zu sich selbst gekommen ist.
Protest Mural in Venedig
Der Kellner, mit dem ich mich in ein Gespräch verwickele, erzählt von seiner Familie, die im Lockdown stark zusammenhielt. Zwei Verwandte haben sie durch den Virus verloren, einen 90jährigen Großvater, der schon sehr krank war, und eine eigentlich sehr fitte Tante, mit 53 Jahren.
„Aber Italien geht es im Ganzen besser als vorher, „tutto bene““, sagt er. Und sieht dabei unendlich traurig aus.
Ein leichter Wind weht vom Lido her, wo keines dieser riesigen Kreuzfahrtschiffe mehr ankert. Man sieht nur einige Masten von Segelschiffen.
In der Krise haben sich die Bürger von Venedig neu organisiert. Bürgerbewegungen wie „Venice Resist“ und „No Grandi Navi“ haben mächtigen Zuwachs erlebt im Kampf gegen den »Overtourismus«. Man plant in Zukunft Blockade-Aktionen gegen ankommende, große Kreuzfahrtschiffe, um sie an der Fahrt durch den Giudecca-Kanal zu hindern. Mehrere Bürgerversammlungen ringen um einen neuen Weg für den venezianischen Tourismus.
Etwas ist dauerhaft in Bewegung geraten im Gefüge der Stadt.
Die Royal Caribbean International, die größte Kreuzschifffahrtsgesellschaft, hat vor einigen Wochen Venedig aus der Planung für 2021 gestrichen. Andere werden folgen. In der Türkei werden derweil die ersten Groß-Kreuzfahrtschiffe verschrottet. Teilweise sind sie gerade 20 Jahre alt. https://orf.at/stories/3179608/
Die großen Touristenströme aus Japan und China und den USA werden ziemlich lange ausbleiben. Vielleicht dauerhaft.
„Die Mikroebene des Sozialen wandelt sich während der Pandemie, man geht anders miteinander um, nimmt einander schärfer wahr. Mehr Solidarität, mehr Kritik. Die Prioritäten verschieben sich, ebenso auf der Makroebene, in den Unternehmen sowie in der Politik, die ein ganzes Knäuel geo- und klimapolitischer Krisen entwirren muss. Die Situation ist offen. Gero von Randow, die ZEIT
Was wurde also aus meinen »Prognosen« – die eigentlich keine waren, aber irgendwie trotzdem welche sind?
Europa ist nicht auseinandergefallen.
Wir haben trotz einer gewaltigen Schrumpfung der Ökonomie keinen Wirtschaftszusammenbruch erlebt. Die Wirtschaft hat sich, ähnlich wie die Politik, als erstaunlich PLASTISCH herausgestellt. Was wiederum die Sicht auf das »Primat der Ökonomie« verändert.
In vielen Branchen, besonders jenen, die schon vor der Krise in destruktive Preis- und Effizienzkämpfe verwickelt waren, sehen wir Zeichen für dauerhafte Wandlungsprozesse, die früher unmöglich erschienen. Fleischproduktion. Kreuzschiffahrt. Automobilbranche. Fußball (ja, auch da). Flugbranche. Alles das wird in eine Änderungschleife gezwungen.
Unsere Arbeitsformen haben sich verändert – sie re-organisieren sich dauerhaft in Richtung neuer Work-Life-Hybridität.
Unser Reiseverhalten ist in einem Umwälzungsprozess begriffen, nicht nur in einem Zwischenstopp. Das rasende Vielfliegen wird in der alten Form nicht wiederkehren. Stattdessen womöglich der Nachtzug und der TEE. www.spiegel.de
Das, was wir besonders fürchteten – etwa eine neue Unterdrückung der Frauen, oder eine neue Epidemie der Einsamkeit, ist so nicht eingetreten. www.scientificamerican.com
Verblüffende Effekte lassen sich aus neueren Studien der Bertelsmann-Stiftung und der R+V-Versicherung herauslesen. Die Ängste der Deutschen sind in der Krise zurückgegangen. Und die Populismus-Bereitschaft SINKT. www.epochtimes.de
Quelle: Populismusbarometer, Bertelsmann-Stiftung
In einer Studie des DIW Berlin heißt es: „Einsam, aber resilient – Die Menschen haben den Lockdown besser verkraftet als vermutet.” Die Corona Krise habe sich „nicht so negativ auf das Wohlbefinden und die psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen ausgewirkt hat wie bisher angenommen”.
Erstaunlich viele Menschen waren in der Corona-Krise glücklich. Noch erstaunlicher: Die Lebenszufriedenheit stieg in den ärmeren und sank in den reicheren Schichten! www.diw.de
So sind Tiefen-Krisen. Sie bringen alles durcheinander. Und genau das ist das Kostbare an ihnen.
Aber lag ich nicht mindestens in EINEM Punkt komplett daneben?
„Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg (in der Krise) an“, schrieb ich im Originaltext im März. „Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden“.
War das nicht eine totale Fehlprognose? Ist der spaltende Hass nicht schnell zurückgekommen, nur schlimmer?
Auch das kann man auch anders sehen. Man darf sich nur nicht durch den Lärm, das Tosen der Oberflächen täuschen lassen.
Es könnte sein, dass durch die öffentlichen Wütereien der coronahysterischen Männer, der Naidoos, Jepsens und Hildmanns, ein gegenläufiger Prozess der Vernunftbildung entsteht. Der Irrsind wird sichtbar. Die Kohärenz der Gesellschaft, der Schulterschluss zwischen Gesellschaft und Politik (und Wissenschaft), der in der Krise entstand, wird dadurch eher gestärkt. Man nennt das auch das „Paradox der Konsensbildung“.
Es könnte sein, dass durch die Deutlichkeit, mit der sich Impfgegner, schräge Mystik-Hippies und paranoide Sterndeuter sich zusammen mit den Reichkriegsflaggen- und Präfaschisten zeigen, erst richtig deutlich wird, wie haltlos und verworren dieser Protest ist. Das entlarvt den narzisstischen Kern des Verschwörungs-Wahns.
Den neuen Nazis nutzt es umgekehrt wenig, sich mit Esoterikern, Hippies und Jüngern des leuchtenden Reptilien-Grals (oder so ähnlich) zu verbünden. So verlieren beide Fraktionen an Wirkung UND Reputation.
Womöglich verliert die „Anti-Corona-Bewegung“ genau im Moment ihres Aufmerksamkeits-Triumphes ihr Momentum. Sie erleidet das Schicksal negativer Protestbewegungen, die an ihren inneren Widersprüchen, ihren Unerlöstheiten scheiterten. Ganz anders als die Herzens-Rebellion in Weißrussland, die bei jeder Demonstration schöner, stärker und stimmiger wird (merke: Frauen werden die nächste Runde der Revolte gegen das Dunkle tragen).
PPS: Die Krise geht jetzt in eine nächste Runde. Durch die Veränderungen der Behandlungsmethoden und Fortschritte in der Medizin verwandelt sich Corona allmählich tatsächlich in ein grippeähnliches Phänomen. Damit ist der Ausnahmezustand, in dem wir seit einem halben Jahr leben, irgendwann nicht mehr legitimierbar. Corona wird dann anders »codiert« werden, und das wird noch einmal heftige Deutungs-Turbulenzen auslösen.
Das betrifft auch und vor Allem Amerika, wo ich keine Prognose für die Wahl wage. Außer der, dass die amerikanische Gesellschaft sich in diesem schrecklichen Strudel, in dem sie gefangen ist, irgendwann neu erfinden wird. Jedem tiefen Tal folgt eine Re-Gnose. Das ist die Weisheit der Zukunft.
„Ich habe gelernt, dass wir mit Zeit rechnen und doch nichts kontrollieren können. Ich habe gelernt, dass ich „Glück zu haben“ nicht beeinflussen kann. „Mut zu haben“ dagegen schon. Dass es oft Mut braucht, um glücklich zu sein. Dass alles im Leben von Entscheidungen abhängt und die volle Verantwortung für die Emanzipation der eigenen Werte bei uns selbst liegt. Ich habe gelernt, dass Rituale der Wertschätzung wichtiger sind als ein Haus, ein Auto oder ein Rasenmäher. Dass in der Entspannung das Fühlen kommt. Dass wir lernen müssen, zu ruhen, in uns, mit den Dingen, um zu fühlen, was wir brauchen. Und dass Loslassen das eigentliche Einlassen ist. Klara Charlotte Zeitz, Es braucht Mut, um Glücklich zu sein
Über die Zukunftsverweigerung oder was ich als Elektroautofahrer erlebte
In diesem Corona-Sommer bin ich mit meiner irischen Frau Oona von Wien nach Irland gefahren. 6000 Kilometer insgesamt, über Frankreich mit der Fähre nach Dublin und wieder zurück. Unser Elektroauto war unglaublich komfortabel, fuhr mit einer Ladung mehr als 400 Kilometer weit und war an den Superchargern, die alle 150 Kilometer an den europäischen Autobahnen stehen, in 25 Minuten, also für einen Tee mit Brioche, wieder aufgeladen. In Irland hatten wir die Chipkarte eines E-Ladenetzes, die einwandfrei funktionierte. Zwischendurch luden wir sogar am Stromanschluss unserer Ferienhütte; über Nacht war der Tesla wieder voll.
Das Universum ist voller Elektronen. Wenn man will, kann man sich mit ihnen durch die Welt bewegen und deutlich weniger CO2 produzieren.
Wenn man will.
Seit nunmehr zehn Jahren fahren wir Elektroautos. Erst aus Neugier, und weil Zukunftsforscher eben neue Technologien ausprobieren müssen. Heute aus Überzeugung und Begeisterung, und fast ausschließlich.
Das erst E-Gefährt war ein norwegischer THINK, eine kleine Zweisitzer-Plastik-Knutschkugel aus Norwegen. Ein surrendes Gerät, knapp 100 Kilometer Reichweite, keine Klimaanlage, aber immerhin ein Scheibenwischer. Die Firma ging schnell in Konkurs. Es folge ein MIEV von Mitsubishi, der aussah wie ein gequetschter Golf Caddy. Dann kam ein früher ZOE, der aus dem Armaturenbrett duftete, ein Stadtauto, das Renault primär als Zweitauto für Frauen konstruiert hatte. Ich stieg trotzig auf einen AMPERA um (Opel/General Motors), der beeindruckend stylisch aussah und wohl als eine Art Alibi-Auto gebaut worden war, damit Filmstars beim Vorfahren auf der Oscar-Verleihung ihre »grüne« Gesinnung demonstrieren konnten. Ein tolles Auto, aber letztlich ein getarnter Benziner.
Sohn Julian mit dem THINK, 2010
Bis dorthin war unser Verhältnis zu den Nachbarn und zum Rest der Autofahrerwelt ein Friedliches. Man belächelte uns als Future Freaks, der mit seltsamen Gefährten durch die Gegend surrten. Das bewies ja: Es geht nicht! E-Autos sind etwas für Spaßbremsen und Ökofanatiker.
Das änderte sich – ein wenig – als im Jahr 2014 der i3 auf dem Markt kam, BMW‘s erster (aber halbherziger) Versuch, in eine echte neue Automobilkonzeption einzusteigen. In den Auto-Zeitschriften wurde allerdings immer der i8 gefeiert, ein klassischer Macho-Bolide, der so viel Kohlenwasserstoffe zersägte wie ein Porsche. Aber der i3 war wirklich etwas Neues, weil er als Urban-Auto einige wirklich neue Features aufwies. Etwa einen extrem kleinen Wendekreis, und eine Inneneinrichtung aus Cradle-to-Cradle-Materialien, in der unter anderem Eukalyptus und Hanfstoffe verarbeitet waren (von meinem Freund und Cradle-Guru Michael Braungart mit-designt).
Zwei Jahre später leisteten wir uns einen Tesla, das schöne Raumschiff mit den Flügeltüren als Firmen- und Familienauto. Und dann wurde plötzlich alles anders.
Ich bekam plötzlich Mails, die ich nicht bestellt hatte. Manche von ihnen waren ellenlang. Alle wiesen mir haarklein nach, dass E-Mobilität unmöglich wäre. Tödlich für den Planeten. Einige waren richtig unverschämt und beschimpften mich als Öko-Idiot, der sich eine „unnütze Technik als Prestige leistet”. Per Post kam ein 100-seitiges Papier von einem Dipl-Ingenieur Schultz aus München, das in langen Zahlenkolonnen nachwies, dass die Elektromobilität den Planeten vernichten würde und als Versuch der Chinesen zu werten sei, die deutsche Autoindustrie in den Ruin zu treiben. Ich sollte, bitteschön, schriftlich und unverzüglich diese Wahrheit anerkennen!
An den Superchargern standen hin und wieder Männer mit verschränkten Armen um mein Auto. Und stellten seltsam verdruckste Fragen mit aggressiven Unterton.
Wie lange stehen Sie denn eigentlich schon hier? Wie lange dauern denn SOWAS?
Was verliert er denn bei kaltem Wetter an Reichweite?
Die Autos, aus denen sie in sicherer Entfernung ausgestiegen waren, lagen in der Preisklasse mindestens gleichauf. Sie hatten meisten vier fette Auspuffrohre. Ich finde Auspuffrohre, vor allem wenn sie wie riesige Aluminium-Bürzel aussehen, obszön. Sie haben etwas Provokatives, schrecklich Anales.
Auf der Autobahn, auf der ich auf meinen Vortragsreisen stets mit konstanten 125 kmh segelte, ganz entspannt Podcasts hörend, kam es immer wieder zu denselben Szenen:
Ein großer SUV, meistens aus Ingolstadt oder mit Stern, nähert sich auf der Überholspur. Bremst kurz an. Schaut herüber. Ein Mann, allein, meist ein bisschen korpulent, beschleunigt-bremst-beschleunigt-bremst. Er will spielen. Rennen fahren. Will mir zeigen, wie schnell meine Batterie Strom verliert. Ich habe nicht das geringste Interesse, und Strom habe ich genug. Ich kippe den Sitz zurück.
VRROOOOM – der Benzin-Bolide zieht davon, kopfschüttelnd oder mit erhobenem Mittelfinger….
In den Zeitungen erschienen unendlich viele Anti-E-Auto-Artikel neunmalkluger Auto-Journalisten, die bislang immerzu „den seidenweichen röhrend-satten Klang aus dem V8-Motor” besungen hatten. Und die nun Ladestationen nicht fanden oder Spaltmaße von E-Autos bemängelten. Auf den Podien zum Thema Mobilität saßen reihenweise jene spitzbärtigen Professoren, die der objektiven ökonomischen Meinung waren, dass alle Versuche eines neuen Antriebsstrangs nur naive grüne Ideologie seien. Das würde die Industrie ruinieren, die „unseren Wohlstand begründet”. Der „kleine Mann” könne sich das sowieso nicht leisten. Wenn alle Lithiumvorräte der Erde »verbraucht« werden würden, dann würde es den Menschen in Bolivien etc. sehr schlecht gehen. Kobalt, das man für Batterien braucht, wurde von »Kindersklaven« im Kongo aus dem Boden gekratzt. Undsoweiter.
Das Irritierende an dieser Argumentation war, dass sie von Männern (immer Männern) kam, die sich normalerweise weder für den „kleinen Mann” noch den Zustand der Natur oder Menschen im Kongo interessierten.
Der klassische Kommentar zur E-Mobilität in einer konservativen Zeitung liest sich bis heute so:
„Ein paar Elektroautos auf dem Freigelände einer Automesse werden die Menschheit nicht zum Umsteigen bewegen. Gerade läuft wieder so eines im Test, und zwar kaum mehr als halb so lange wie versprochen, dann ist die Batterie leer. Vielleicht ist die Elektromobilität wirklich bald der Gewinner des Klimawandels – aber nur, weil den Akkus dann nicht mehr so kalt ist. Selbst auf die Gefahr hin, als bemooster Konservativer zu gelten: Wenn par ordre du mufti etwas abgeschafft wird, sollte das, was kommt, besser oder wenigstens der Plan schlüssig sein. Weg mit dem Plastik, wer beweist uns, dass Papiertüten und Jute grüner sind? Weg mit der Kohle, wodurch wird sie ersetzt? Weg mit dem Kleingeld, das können wir nachvollziehen. Und weil nun auch die Briten weg sind, gebührt ihnen unsere zweite Träne.”
(Lucas Weber, Technik und Motor, FAZ)
Woher kommt dieser ewige zynisch-abwertende Ton? Dieses hämische Herrenreitertum?
Worum geht es hier eigentlich?
Ich bin inzwischen mit Elektroautos einmal zum Mond und zurück gefahren. Ich bin noch nie einziges Mal wegen Strommangel liegengeblieben. Ich nutze auch den Zug, wenn es geht, aber oft muss ich aus beruflichen Gründen in entlegene Ecken. Ich fahre im Winter in die Berge, auch bei 10 Grad minus und die Reichweite sinkt dann vorübergehend vielleicht um 15 Prozent. Ich empfinde Elektromobilität als eine elegante, schöne und natürlich noch entwickelbare Technologie. Ich bin kein Verzichts-Fanatiker, im Gegenteil. Die Art und Weise, wie ein Elektroauto beschleunigt, ist allen Verbrennern überlegen. E-Autos überwinden auf elegante Weise alte automobile Reflexe. Sie haben unfassbar viel PS, aber PS spielt plötzlich keine Rolle mehr.
Man fährt mit dieser Technologie langsamer, konstanter, ruhiger. Man steigt aus dem Statusrennen auf der linken Autobahnspur aus. E-Fahren ist eher ein GLEITEN. Es lehrt uns, Pause zu machen und diese Pausen auch zu genießen. Es nähert das Autofahren wieder dem REISEN an, wie wir es früher machten, als wir unterwegs auch mal eine Kleinstadt am Rande der Straße besuchten.
Tesla hat angekündigt, dass ab nächstem Jahr die Supercharger in 15 Minuten die ganze Batterie laden.
Wir sind eigentlich eher dagegen. Uns ist das zu schnell.
Zu jeder Technik gehört eine Kulturtechnik. Und vielleicht geht es gerade darum.
Ich will nicht selbstgerecht sein. In meinem früheren Autofahrerleben habe ich selbst alles durchgezogen, was einen deutscher Autofreak für den Vorsprung der Technik hält. Ich habe 1000 Kilometer (Hamburg-Wien) mit einer Tankfüllung am Stück heruntergehobelt, ohne Pause. Ich habe mit Vergnügen lahme Golfs geschnitten und Suzuki-Fahrer verachtet. Mea culpa! Ich habe in meinem Auto »Male Cocooning« betrieben; eine Art automobiler Selbst-Vereinsamung mit kurzen Adrenalinschüben. Meine Öko- und Seelenbilanz früher war nicht die Beste.
Autofahren à la Deutschland hat, soviel habe ich begriffen, wenig mit Mobilität zu tun. Sondern eher mit Kontroll- und Statusgefühlen. Mit dem Anrecht auf Verbrennen und den dicksten Brocken Fleisch. Autos sind nicht selten Fluchtfahrzeuge vor Bindungen und Familien. Kontrollgeräte im Wirklichkeitsraum, der einem selbst unsicher geworden ist.
Michael Lehofer, ein befreundeter Arzt und Psychiater, nennt das die »Selbstrekonstruktion«: Wir versuchen immer wieder mit aller Macht jenen inneren Zustand wiederherzustellen, in dem „alles so war, wie wir es wollten”. Wir konstruieren aus unseren Gewohnheiten und inneren Konstrukten ein normatives Normal, das in der Vergangenheit liegt. Auf der kognitiven Ebene führt das zur »Confirmation Bias« – man nimmt nur noch wahr, was dem eigenen Theorem dient. Auf der weltanschaulichen Ebene führt es ins Reaktionäre, in die Zukunfts-Feindlichkeit, und letztendlich in die Unfähigkeit zum Wandel.
Die Regnose der Technologie
Eine weiter Methode, Wandel zum Besseren zu bekämpfen ist es, das utopische NEUE zu verherrlichen. Der momentane Trend, die Möglichkeiten der Elektromobilität zu leugnen, ist die Lobpreisung des Wasserstoffs, der ALLE Probleme mit der Mobilität und Umwelt lösen soll. So wie die Künstliche Intelligenz, die ja demnächst auch unsere Dummheit lösen wird.
Elektroautos sind eine Übergangstechnologie, natürlich. ALLE Technologien sind Übergangstechnologien. Und jede Technologie hat einen Umwelt-Effekt. Allerdings unterscheiden sich diese Effekte erheblich. Im Vergleich zu dem, was die fossilen Energien in der Atmosphäre, der Umwelt, der Kultur und nicht zuletzt der Ökonomie (Venezuela!) anrichten, ist eine Lithium-Ökonomie bei Weitem schonender. Sie mag nur ein Schritt ins Bessere sein. Aber ein großer.
Technischer Wandel entsteht wie jeder Fortschritt nach einem REGNOSE-Prinzip. Am Anfang wirken neue Techniken noch unfertig. Sie haben kleine Nachteile. Das war ja auch beim Verbrennungsauto so, das immerhin 50 Jahre bis zu einer nahtlosen Infrastruktur brauchte. Verbesserungs-Technologien erzeugen aber schnell eine eigene Marktdynamik, eine Innovationskaskade, die die Lücken der Anwendungen schließt.
Man denke an den sagenhaften Fortschritt der Computertechnik in den letzten 20 Jahren. Oder an den Siegeszug des effektiven Lichts. Können wir uns noch an den Shitstorm erinnern, der vor zehn Jahren im Abschied von der viel zu viel Wärme erzeugenden Glühbirne ausbrach? Damals hortete der deutsche Bürger Glühbirnen im Keller, unter anderem mit dem Argument, dass die Energiesparlampen giftig und teuer waren. Das stimmte auch, aber es dauerte nur wenige Jahre, bis sich preiswerte LED-Technik in allen Formen und Farbschattierungen durchsetzte. An nächstes kommt OLED, das organische Leuchten.
So wird es auch mit der Elektromobilität sein. Sie verbessert sich selbst aus der Zukunft heraus. Und irgendwann, nach vielen Hürden, kommt der Wasserstoff.
Ich habe jetzt meine Taktik geändert. Auf Diskussionen über die Zukunft der Automobilität lasse ich durchblicken, die E-Mobilität etwas ganz Besonderes sei. Nichts für jeden. Wie heißt das so schön in der Fishermans-Friends Werbung? „Sind sie zu stark, bist Du zu schwach!” Dabei lasse ich durchblicken, dass es derzeit sehr komfortabel an den E-Chargern zugeht, kaum jemand versperrt die Ladegeräte. Großer Komfort, großer Vorteil. In Österreich darf man in Umwelt-100-Zonen mit einem E-Auto 130 fahren. Undsoweiter.
Neid hilft. Seitdem bekomme ich plötzlich reihenweise Zuschriften, in denen ich nach dem besten Elektroauto gefragt werde, und wo man es am kaufen kann. Ich antworte nie.
Ich träume von einer neuen Höflichkeit. Einem Respekt gegenüber der Zukunft. In der wir von den Lösungen, nicht immer nur von den Problemen her denken. In der das Neue nicht das Bessere erschlägt. Und das ewige Abwerten, Negativieren, populistische SCHLECHTERWISSEN, degoutant ist. Ebenso wie überdimensionierte Auspuff-Bürzel, die mir auf jeder Autobahn entgegenstarren.
PS: In der Corona-Krise hat sich der Absatz von E-Fahrzeugen in Europa verdreifacht. Auf immerhin 7,2 Prozent der Neuwagen. Und 9,6 Prozent Hybriden. In Deutschland fahren jetzt fast 300.000 E-Autos. Die 1 Million Elektroautos auf deutschen Straßen, die Angela Merkel vor zehn Jahren für dieses Jahr 2020 prognostizierte, werden im Jahr 2022 oder 2023 realisiert. Von da an geht es steil bergauf. In zehn Jahren werden 50 Prozent aller Neuanmeldungen vollelektrisch fahren, ähnlich wie heute in Norwegen. Tankstellen werden vielleicht Lade-Lounges, in denen es endlich auch etwas Gutes zu Essen gibt, nicht diesen dickmachenden Schlangenfraß.
Danach kommt der Wasserstoff.
PS PS: Ich habe nichts gegen Oldtimer.
10 E-Auto-Irrtümer-Revisionen
Elektroautos haben einen unschlagbaren Wirkungsgrad im Faktor drei (mindestens) im Vergleich zu Verbrennungsmotoren. Elektromotoren halten endlos. Ich fahre in Wien mit Tesla-Taxis, die mehr als eine halbe Million Kilometer auf dem Tacho haben.
Wenn wir ALLE Autos elektrifizieren, brauchen wir etwa 20 Prozent mehr Strom. Vielleicht 25 Prozent. Die Lichter werden nicht ausgehen, denn wir werden adaptive Lade- und Energienetze entwickeln, die Erneuerbaren erleben in den nächsten Jahren einen weiteren Boom. Digitalisierung hilft dabei.
Heutige Elektroautos nähern sich in der Ladezeit (beim Schnellladen) immer mehr einer Kaffeepause an.
Die Infrastruktur beim Laden ist heute schon fast ausreichend. 80 Prozent wird zu Hause langsam an der Steckdose geladen (Autos stehen ja neunzig Prozent der Zeit sowieso nur herum).
Batterien sind sehr viel langlebiger als man früher dachte, die E-Auto-Batterien werden zunehmend in einem zweiten Zyklus eingesetzt, etwa beim Fußballspielen: www.current-news.co.uk
Kohlestrom gehört demnächst der Vergangenheit an. Die meisten Charger laufen heute schon auf Grünstrom, der Elektrizitätsmix ändert sich jedes Jahr in Richtung Erneuerbare.
Doch: Lithium-Batterien sind recycelbar. In wenigen Jahren wird das ein standardisiertes Verfahren sein. www.duesenfeld.com
Lithium ist ein recht häufiges Atom auf dem Planeten Erde. Man kann einen Rohstoffkreislauf von Lithium (und anderen Stoffen) auch schonend gestalten: www.press.bmwgroup.com
Kobalt wird bald keine Rolle mehr spielen, oder nur eine geringe. Derzeit werden in vielen chinesische E-Autos die ersten kobaltlosen Batterien verbaut: www.storage-insider.de
Die Produktion von E-Autos wird bald viel weniger CO2 erzeugen.
Wie wir mit der Moral-Hysterisierung umgehen können
Derzeit werde ich häufig nach meiner Meinung zum Streit um »Political Correctness« gefragt. Soll man heute unmoralische Bilder aus Filmen entfernen? Soll man rassistische, sexistische chauvinistische und diskriminierende »Inhalte« verbieten? Soll man eine österreichische Kabarettistin öffentlich reden lassen? Soll man gar Michael Endes »Jim Knopf« aus den Bibliotheken verbannen?
Was halten Sie von »Cancel Culture«?
Ich habe dazu keine Meinung. Allerdings eine Haltung.
1. Die Hypermedialität
Was hat sich in den letzten zehn Jahren am meisten in unserem Leben verändert? Ich glaube, es ist das mediale System. Wir sind durch das exponentielle Wachstum des Medialen sozusagen auf einem anderen Planeten gelandet, dessen Gesetze und Gefahren wir erst langsam zu verstehen beginnen.
Wir leben in einem Zeitalter der Hypermedialität. Das heißt, dass aus den »Medien« (was ja ursprünglich »Vermittler« heißt; von mediare), Beschleuniger von Affekten geworden sind. Emotionsmaschinen, die rund um die Uhr nach Nahrung suchen.
Das Internet hat dazu geführt, dass jede Kommunikation in Echtzeit stattfindet, ohne dass sich die Teilnehmenden in einem Raum befinden. Das führt dazu, dass die Beteiligten eines Diskurses fast immer affektiv reagieren. Aus ihrem limbischen, emotionalen System heraus. Der Psychologe Daniel Siegel nennt das die »Limbic Lava«, die unentwegt in uns überkocht. Der Kognitionspsychologe Daniel Kahnemann taufte es das »System1« – Denken in Reflexen.
Das Ergebnis sind nicht so sehr Blasen-Phänomene (die gibt es auch, aber sie spielen womöglich gar keine so große Rolle). Sondern eine Logik der Stürme. Kommunikation findet nur noch im Sturm-Modus statt: Skandal-Stürme, Angst-Stürme, Erregungs-Stürme, Hass-Stürme, Moral-Stürme. Die tribale Ader, die in uns allen steckt, die Fähigkeit zum Mob, wird unentwegt getriggert und verstärkt.
Die Währung dieser hypermedialen Welt ist die Aufmerksamkeit. Daraus entsteht eine eigene Evolutionslogik, ein darwinistisches Feld der MEME. Gewinner ist in diesem Krieg ist derjenige, der interessante, abseitige, schrille, spannende, überraschende, provokative, angstmachende oder hasserfüllte Botschaften sendet. Das sogenannte »Clickbaiting«, mit dem mediale Webseiten versuchen, unsere Aufmerksamkeiten anzuzapfen, zerlegt die Welt in Reize, in Impulse, in kleine Fragmente von Erregungen und Gegen-Erregungen.
Kommunikation wirkt auf diese Weise wie eine Art kollektiver Entzündungsprozess. Es entstehen Reize, an denen sich immer mehr Gegen-Reize entzünden, an der sich Abwehrkräfte und Gegenreize entzünden – und so weiter.
Ähnlich verläuft bei ungünstigen Verläufen auch die Covid-Infektion. Und ähnlich entwickeln sich auch die Debatten um Political Correctness und »Cancel Culture«, ebenso wie Phänomene des Verschwörungswahns.
2. Das Emanzipationsprinzip
In meiner Jugend in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts gab es ein magisches Wort: Emanzipation. Es war ein Zukunfts-Wort, das mit der Vision einer freieren und gerechteren Gesellschaft verbunden war. Es wurde, zumindest für eine Zeitlang, zu einer Art Super-Mem. Weite Teile der Gesellschaft, Mehrheiten UND Minderheiten, konnten etwas damit anfangen.
Emanzipation ist ein Versuch, oder der Wille, aus einer zugewiesenen, als unterdrückend empfunden Rolle auszubrechen. Dabei wächst man über das alte Verhältnis zu sich selbst – und zur Gesellschaft – in ein neues hinein. Zur Emanzipation gehört immer das eigene Handeln, die Selbstveränderung. Dabei geschieht eine HERAUSLÖSUNG aus Opferrollen. Da war zum Beispiel der Stolz der feministischen Frauen, die nicht nur sagten: „Wir lassen uns das nicht bieten!”. Sondern auch: „Wir nehmen das jetzt selbst in die Hand.”
Emanzipationen sind immer erfolgreich, auch wenn sie nicht gleich zum »Sieg« führen. Was bei Emanzipation wichtig ist, die die Erlangung von Autonomie. Autonomie bedeutet Stolz, Selbstbewusstsein. Bedeutet Würde, die man zunächst sich selbst zuschreibt. Damals, in den Emanzipationskämpfen, wurde die GAY PRIDE Parade erfunden, nicht die Gay Fear oder Gay-Wut-Parade. Frauen posierten stolz auf Zeitschriften-Titelbildern, um für ihre Rechte einzutreten. Seht her, hier sind wir! Selbstbewusstsein macht schön. Auch die Black-Power-Bewegung verströmte ursprünglich eine Art erotischer Attraktion – in ihrer Musik, in ihrer Körperlichkeit, ihrer Präsenz. Das waren eben keine Unterdrückten mehr, sondern selbstbewusste »people of color«. Zukunftsmenschen.
Hinter einem solchen Weg steckt allerdings immer ein Abschied. Man verlässt den Kontext der Unterdrückung, der alten »Identität«, und damit verrät man natürlich auch immer diejenigen, die dort noch verharren. Man steigt auf in ein neues WIR.
Eine der schönsten Emanzipations-Geschichte ist die von Michelle Obama, die in Ihrem Buch „bdquo;Becoming” den Prozess ihres emanzipativen Aufstiegs schilderte: Wie sie sich aus einem diskriminierten, »prekären« Milieu befreite, und in die Mittelschicht aufstieg, in die Bildungsschicht.
3. Die Sehnsucht nach Anerkennung
In der Political Correctness Debatte von heute geht es aber um etwas anderes. Es geht um Unterdrückt sein ALS Identität. Es geht um Abgrenzungen. Um Vergeltungen. Es geht auch um eine unerfüllbare Hoffnung: Man möchte die Erniedrigung und Beleidigung, die man erlebt hat, nicht nur beenden, sondern kompensiert haben.
Dieser Wunsch ist verständlich. Er lässt sich nur leider nicht realisieren. Er führt in eine Tragik, die nicht zu lösen ist.
Hier die Botschaft einer Zeit-Online-Leserin:
„Wir, die jeden Tag unter Diskriminierung leiden, abends im Bett liegen und an unserer eigenen Würde und Gerechtigkeit zweifeln aufgrund des scheinbar nicht tadelnswerten Fehlverhaltens anderer, sind mehr. Und der Tag wird kommen, an dem diese ganzen Menschen knallhart aufbegehren. Wenn sich eine Gesellschaft nicht darauf einigen kann, dass antihumanistisches Fehlverhalten bestraft werden muss (no justice, no peace), dann wird es Bürgerkrieg geben, das war so und wird immer so sein. Und alle die jetzt im Namen des »Intellekt« dagegen stehen, werden verlieren, Hochmut kommt vor dem Fall.”
Dieser Text berührt, weil er die tiefe menschliche Sehnsucht nach Anerkennung und Geschätzt-Sein ausdrückt. Wir alle können nicht leben, wenn wir nicht Wahr-Nehmungen und Sympathien erleben. Man kann den Zorn nachvollziehen, wenn man ein Herz hat. Der Text enthält allerdings auch eine Drohung: den Bürgerkrieg. Ähnlich arbeiten RAP-Texte, die Diskriminierung in Machtfantasien umschreiben.
Aber diese Drohung ist leer, sie wird sich nicht realisieren. Identitäres Bewusstsein, ganz gleich welcher Art, führt eher zu einer Atomisierung, einem Kampf aller gegen alle. Am Ende warten lächelnd die Populisten, die das entstandene Chaos abkassieren.
Ich kann verstehen, dass Menschen, die sich an den Rand gedrängt fühlen, Anerkennung einfordern. Auch wütend und aggressiv. Ich kann verstehen, dass sie Symbole, die ihre Abwertung ausdrücken, zum Verschwinden bringen möchten. Ich bin dafür, dass wir dies nach Möglichkeit auch tun. Da, wo es offensichtlich ist, wo Beleidigungen aktuell stattfinden, sollten wir überkommene Denkmäler diskret entsorgen. Das ist eine Frage der Rücksichtnahme, des Respekts.
Aber was dann?
Ich habe aber in meinem Leben festgestellt, dass dann, wenn man am meisten nach Anerkennung verlangt, sie am wenigsten bekommt. Anerkennung stellt sich eher dann ein, wenn man sich öffnet zu dem, was an Beziehungen möglich ist. Erfolgreiche Emanzipationsbewegungen hatten immer dort den Erfolg, wo zwischen Mehrheiten und Minderheiten fruchtbare Begegnungen möglich wurden. Und Diversität zu einer Ergänzung des Verschiedenen wurde.
All das hat viel mit Verzeihen und Loslassen alter Selbstbilder zu tun. Aber wenig mit Abrechnung und Forderung.
Unter Zivilisation könnte man auch verstehen, dass nicht alles, was uns in den Kopf kommt, nicht jede Assoziation, auch kommuniziert werden muss.
Armin Nassehi, das Große Nein
„Wenn ihr immer nur mit Steinen werft”, sagte Barack Obama auf einer Studentenveranstaltung im Oktober 2019, dann kommt ihr nicht weit. … Die Idee der Reinheit, der Vorstellung, dass man niemals kompromittiert wird, dass man immer WOKE (erweckt, im Sinne sozialer Achtsamkeit) bleibt – das sollte man schnell überwinden. Die Welt ist unordentlich. Es gibt Ambivalenzen. Auch Menschen, die wirklich gutes tun, haben Fehler.”
4. Futuristische Gelassenheit
Was aber sollen wir tun gegen Rassismus, Diskriminierung, Unterdrückung und all die schrecklichen Dinge, die Menschen sich gegenseitig antun?
Ich schlage als ersten Schritt eine Art Meinungsfasten vor.
Meinungen werden überschätzt. Sie tendieren ins Eitle, Narzisstische, was man in jeder Kommentarspalte studieren kann. Meistens handelt es sich um Abwertungen. Um – im Wortsinn – Gemeinheiten. Das führt zu jenem »Symmetrischen Nein«, von dem der Soziologe Armin Nassehi in seinem Buch &bquo;Das Große Nein” spricht.
In jeder Talkshow kann man beobachten, wie das reine Deklamieren in Polarisierungs-Spiralen führt. Echte Meinungen hingegen sind zarte Wesen. Sie können konstruktiv sein, wenn sie Teil eines in die Zukunft gerichteten Frageprozesses sind. Welche Aspekte haben wir vernachlässigt? Wie kann man die Dinge anders sehen? Gute Meinungen sind keine schlauen Antworten, sondern kluge Fragen, mit denen man den anderen berührt.
Ich schlage vor, dass wir diesen Erregungs-Phänomenen der modernen Kultur gegenüber eine Haltung der wohlwollenden Ignoranz üben. Statt uns jedes Mal einzumischen, jeden Empörismus anzuheizen – wie es viele Intellektuelle tun, wenn sie etwa zornig die Meinungsfreiheit gegen den Moralismus verteidigen – enthalten wir uns der Stimme, ohne das Thema zu negieren.
Gehen wir stattdessen ins Konkrete. Wir alle sind ja irgendwo Verlorene, Vernachlässige, Einsame, Ausgegrenzte. Jeder von uns von uns ist eine eigene Minderheit, eine unverwechselbares, aber nicht immer »angenommenes« Individuum. Und auf eine bestimmte Weise »daneben«, »ungenügend«, je nachdem, welche Maßstäbe man ansetzt.
Wir könnten uns in unserer gegenseitigen Fremdheit umarmen, und uns und gegenseitig jenen Teil an Würde und Gerechtigkeit zukommen lassen, den wir verdienen. Wir könnten einfach ANFANGEN damit, Menschen, denen wir begegnen, ihre Fremdheit zu nehmen, indem wir sie anerkennen und befürworten.
Und viele tun das ja auch.
Mehr, als man denkt.
Damit sehen wir weiter.
Warum wir in der Ökologie einen Neuanfang des Denkens brauchen
Biolumineszentes Meeresleuchten durch den Einzeller Noctiluca scintillans / Foto: Wikimedia Commons
Handele stets so, dass neue Möglichkeiten entstehen.
Heinz von Foerster
M
itten in der Corona-Krise veröffentlichte der amerikanische Umwelt- und Sozial-Aktivist Michael Moore seinen neuen Dokumentarfilm „Planet of Humans“ auf YouTube. Der Titel verweist auf „Planet of the Apes“, jene düstere Sci-Fi-Serie, in dem die Affen die Weltherrschaft übernehmen. Und sich die Menschheit durch eine Superbombe selbst auslöscht.
Moores Zwei-Stunden-Doku-Drama beleuchtet den Weg ins ökologische Desaster in düsteren Bildern. Dräuende Musik, zerstörte Landschaften – wir kennen das aus tausend anderen Global-Warming Filmen. Im Zentrum von „Planet of Humans” stehen aber nicht die Bedrohungen, sondern die Vergeblichkeiten. Es geht um umweltfreundlichere Fake-Produkte, kaputte Windturbinen, Kraftwerke, die nur Greenwashing sind. Um „Ökokapitalisten”, die den Planeten nur noch weiter zerstören. Die Grundaussage des Films: Alle Bemühungen, die Katastrophe zu verhindern sind nur Betrug und Selbstbetrug. Alternative Energien, umweltfreundlicher Konsum? Quatsch. Es ist alles längst zu spät.
Am Anfang des Films wird eine Frage an Passanten auf der Straße gestellt: „Wie lange, glauben Sie, HAT die Menschheit noch?”
„Hmm. 10 Jahre, höchstens.”
„Vielleicht 40 Jahre, wenn’s hoch kommt. Alles ist doch längst fucked up.”
„Wir sind doch wie Kakerlaken auf der Erde!”
Nur eine ältere, grauhaarige Dame sagt: „Wir sind hier für eine lange Zeit. Aber klar, wir werden uns ändern!”
Sie wirkt irgendwie fehl in diesem Film, mit ihrer resoluten Zuversicht. In Moores Untergangs-Dramaturgie hat die Hoffnung keine Chance.
„Planet of Humans“ bekam viele Links und Likes von den harten Alt-Rights, den Klima-Leugnern und Trump-Fans. Motto: Endlich sagt mal ein Linker, dass der ganze Öko-Kram nur QUATSCH ist!
Ist wirklich alles längst zu spät?
Schauen wir uns nun eine dieser fantastischen Natur-Dokumentationen an, die in 4K-Breitbild die überirdische Schönheit der irdischen Natur zeigen. Mit dramatischer Musik fliegt die Kamera über Millionen Gazellen in der afrikanischen Savanne, träumt sich hinein in blaue Atolle. Tintenfische tanzen, Erdmännchen balzen, tausende Wale tummeln sich im Meer. Der blaue Planet. Die wunderbare Erde. Der Tanz des Lebens im Kosmos.
Wie passt das zusammen?
In welcher Wirklichkeit leben wir tatsächlich?
Nein, diese Bilder grandioser Natur sind nicht am Computer generiert. Sie sind REAL News, nicht Fake News. Aber warum wirken sie trotzdem irreal – wie eine Fälschung?
Es ist womöglich die Endzeitlichkeit selbst, die diesen irrationalen Überschuss in unserem Hirn erzeugt. Man könnte das die »Abschiedsverstärkung« nennen. Wir kennen das, wenn wir das Gefühl des letzten Mals erleben: Zum letzten Mal betreten wir ein Haus, in dem wir gelebt haben. Ein letztes Mal sehen wir auf die Hügel unserer Kindheit, den Urlaubsort, zu dem wir nie mehr zurückkehren werden. Dann wird es VORBEI sein. Die Elefanten, so sagen es uns die älteren Herren mit ihrer sonoren Stimme (von Attenborough bis Lesch), werden bald nicht mehr über die Savanne ziehen. Die Wale sind am Aussterben. Diese kleinen schönen Käfer wird es demnächst nicht mehr geben.
Endzeitlichkeit verbindet uns in einer ganz besonderen Art und Weise mit der Welt. Das Vergehende, oder vermeintlich Vergehende, konfrontiert uns mit unserer eigenen Vergänglichkeit, unserer Existentialität. Dadurch können wir uns plötzlich wieder intensiv spüren.
Halten wir einen Moment inne.
Was wäre, wenn es sich bei der „Großen Anzunehmenden Untergangsgeschichte”, dem ökologischen GAU, dem Aus-Sterben der Natur, nicht um »Wirklichkeit« handelt. Sondern um einen Mythos, eine Story, ein KONSTRUKT?
Stellen wir uns vor, die Natur, die Erde, KÖNNTE gar nicht »sterben«. Oder »untergehen«. Auch der – unbestreitbare – Klimawandel wird nicht das Ende der Menschheit bringen.
Natürlich ist das ein riskanter Gedanke. Es provoziert sofort Aggression im Sinne des Loyalitäts-Effektes: Auf welcher Seite stehst Du eigentlich? Willst Du verharmlosen? Die Gefahren leugnen?
Natürlich ist all das REAL: Die Plastikstrudel in den Weltmeeren. Die Waldbrände in Kalifornien. Die Müllkippen in Afrika, auf denen Kinder in giftigen elektronischen Geräten stochern.
Wir sollten allerdings wissen, dass die Art und Weise, mit der wir Wirklichkeit konstruieren, eine »Wahr-Nehmung« ist.
Von entscheidender Voraussetzung ist dabei, wie wir mit Angst umgehen. Ob wir Angst erleben, oder ob wir zu ihr werden.
Corona hat gezeigt, dass Angst vor Katastrophen in bestimmten Situationen sinnvoll und produktiv sein kann. Sie kann zu hilfreichen Verhaltensänderungen führen – genau das ist ihr evolutionärer Sinn. Als innerlich erstarrte Form führt die Ängstigung jedoch leicht zu »mindfucks«, zu Verwechslungen von Schein und Wirklichkeit. Wir können dann nur noch in eine Richtung denken – Richtung Abgrund.
Fatalismus, maskiert als Realismus, ist eine Form der Kapitulation, die jene Trends verstärkt, die ihn erzeugen. Eileen Christ, Ökologin
Ich bin zur Überzeugung gelangt, dass man sich in ein Problem narrativ so verstricken kann, dass es durch die Art und Weise, wie es betrachtet und (kulturell, sozial, mental) prozessiert wird, unmöglich wird, es zu lösen. Dann brütet der „collective mind“ Hoffnungslosigkeit aus. Wir starren in eine falsche, verengte Zukunft, von der wir nicht mehr loskommen.
Im Jahr 1973, ich machte damals gerade Abitur, kam einer der ersten großen dystopischen Science-Fiction-Filme in die Kinos. Soylent Green – das Jahr 2022 … die überleben wollen, mit Charlton Heston in der Haupttrolle als New Yorker Polizist.
In »Soylent Green« gibt es eine gespenstische, hochsymbolische Szene. Ein alter Mann lässt sich auf sanfte Weise »euthanasieren«. Er wählt den Freitod, weil er »überflüssig« geworden ist. 50 Milliarden Menschen leben auf der übervölkerten Erde. Alles ist ein einziger Slum, der von bewaffneten Kräften unter Kontrolle gehalten wird. Während er »freiwillig« stirbt, werden Bilder der wundervollen Erde »wie sie früher war« an die Wände projiziert. Wogende Blumenfelder. Korallenriffe. Zebraherden. Dazu ertönt auf magisch-schwebende Weise Vivaldis Vier Jahreszeiten.
Mit solchen starken Dystopien bin ich aufwachsen. Sind wir alle aufgewachsen. Die Grundannahme lautet, dass »der Mensch«, die humane Zivilisation, eine Art Schimmelpilz auf dem Planeten ist, eine Seuche, die sich immer weiter ausbreitet. Ein Verwüstungs-Virus.
Es ist womöglich kein Zufall, dass sich die Vorstellung der »Bevölkerungsexplosion« hartnäckig in sehr linken UND in sehr rechten Kreisen hält. Das Spektrum reicht von den »Preppers«, die sich mit Gewehr und Benzinkanistern auf die Endzeit vorbereiten, bis zu den ökologischen Antinatalisten, die die Geburtenrate zwangsweise verringern oder gleich ganz auf Null bringen wollen.
Aber eigentlich das ist gar nicht nötig. Die Welt-Geburtenrate ist seit Jahrzehnten weltweit zurückgegangen, sie liegt heute bei 2,35, nur noch wenig über der Reproduktions-Ausgleichsrate von 2,1 – bei dieser Zahl würde sich die Weltbevölkerung stabilisieren. Und trotzdem ist das alte Paradigma der globalen »Überbevölkerung« allgegenwärtig. Ein reaktionär-ökologisches Angstmuster. Das führt zu fatalen Engführungen unseres Zukunftsbildes. Und es füttert, nebenbei, den Rassismus.
Siehe die Arbeiten zur Weltpopulation von Wolfgang Lutz, oder z.B. diese neue Studie, nach der der »Human Peak« bereits bei 9,7 Milliarden Menschen im Jahr 2065 stattfinden wird: www.thelancet.com
Was wäre, wenn die ökologische Untergangsvision nichts anderes ist als eine Selbstabwertung, eine Selbst-Verwerfung des Menschen in einem tiefen Schuldverhältnis zu sich selbst?
Das Knappheits-Paradigma
Unser modernes Umwelt-Verständnis entstand aus drei weltanschaulichen Basis-Ideologien: Die erste ist die Natur als »heile«, ja heilige Welt, sozusagen als »die Welt an sich«. Darin spiegeln sich alte religiöse Muster, Ursprungs-Mythen, die nicht nur im Christentum eine Rolle spielen. Vor dem »Sündenfall« lagen im Paradies Lamm und Löwe friedlich nebeneinander – bis das sündhafte Verhalten der Menschen für Chaos sorgte. Naturromantik ist heute das vorherrschende Naturverständnis, was man schon erfährt, wenn man urbane Freunde in seinen Garten einlädt („Gehts Deinem Gemüse auch wirklich gut?”).
Das zweite Dogma des Ökologischen ist die Knappheit. »Die Welt« wird als ein geschlossenes System beschrieben, in dem strenge Limitierungen herrschen. Moleküle, Energien, Rohstoffe sind »endlich«, und ihre Nutzung ist von der Idee des Verbrauchs dominiert. Wenn man einen Rohstoff nutzt, ist er danach WEG – verschwunden, vernichtet. Natur wird auf diese Weise als eine Art Not-System verstanden, in dem man leicht durchfallen kann. Politik wird so zu einem reinen Verteilungs- und Zuteilungs-Projekt; die Zukunft ist Rationierung.
Die Weltmodelle des Club of Rome, dessen legendärer Bestseller „Die Grenzen des Wachstums” das grüne Denken formte, basierten auf solchen Modellen der Umwelt als Rationierung. In allen Club-Of-Rome-Szenarien steht die Menschheit immer vor dem unweigerlichen Kollaps. Egal, was »wir« tun, selbst wenn wir alle aufhören würden, Fleisch zu essen und Auto zu fahren – es würde niemals reichen.
Warum die Club-of-Rome Modelle an vielen Stellen unterkomplex waren, kann man etwa in diesem Artikel von Brian Hayes lesen: www.spektrum.de
Aber ist die Erde wirklich ein geschlossenes System? Ein Raumschiff, wie das immer beschrieben wird?
Wenn wir duschen – wird das Wasser, dass wir dann nutzen, eigentlich verbraucht?
Die dritte Dimension des Ökologischen ist die Schuld. Haben wir nicht ständig ein schlechtes Gewissen? Schon wenn wir ins Auto steigen, begehen wir eine Sünde, kaum haben wir einen Supermarkt betreten, beteiligen wir uns an Ausrottungsfeldzügen… Es gibt kein Entkommen aus der Ewigen-Fußabdruck-Schuld, die mit unserer puren EXISTENZ verbunden ist.
Schuld und Scham bringen uns allerdings in Richtung auf echten Wandel kaum voran. Im Gegenteil. Diese Gefühle wurden von der Evolution als soziale Selbstregulierungs-Formen in kleinen, überschaubaren Gruppen »erfunden«. In großen Gesellschaften, die hypervernetzt kommunizieren, werden sie leicht zu Machtinstrumenten und Waffen in Deutungskriegen. Es geht darum, wer dem anderen ein schlechtes Gewissen machen kann. Das führt zur Selbstbeschämung, verbunden mit Vermeidungs-Hysterien aller Art. Oder in jene Kaskade von »Sündenstolz«, in der wir alles, was mit dem Ökologischen zu tun hat, aggressiv leugnen und abwerten.
Die Fülle
Machen wir ein Gedankenexperiment. Es schließt an die »Miracle Question« an, die in der konstruktiven Psychologie genutzt wird (nach der amerikanischen Psychologin Linda Metcalfe). Dabei wird eine Lösung eines Problems simuliert, um an die wahren inneren Motive für dieses Problem heranzukommen (für Kenner: hier liegt die psychologische Grundlage der Re-Gnose). Die Frage lautet so: „Wenn das Problem, an dem Du leidest, durch ein Wunder über Nacht gelöst wäre – wie würdest Du Dich dann fühlen?”
Hier also der Wunder-Satz der Ökologie:
Stellen Sie sich vor, dass die Rohstoffe der Erde unendlich wären, Biomasse in endloser Fülle generiert werden kann, die Erde das fünffache der heutigen Erdbevölkerung ernähren kann und nichtfossile Energie der Menschheit in beliebigen Kapazitäten zur Verfügung steht.
Vollkommen irre, oder?
Aber nehmen Sie diesen Satz einfach mal so an:
Wie würde sich dann Ihr Verhalten ändern?
Würden Sie sofort ein noch fetteres Auto kaufen?
Noch viel mehr Fleisch essen?
Wenn wir aus der Fülle heraus denken (oder fühlen) realisieren wir, dass unsere ökologischen Ängste oft Übertragungsängste sind.
Übergewicht – oder Überkonsum – ist nicht das Resultat von Gier. Sondern von Angst. Wir essen zu viel, weil wir damit einen anderen, tieferen, seelischen Mangel kompensieren. Wir werden nicht satt, und deshalb stopfen wir uns voll. Aber gleichzeitig werden wir gleich wieder schrecklich hungrig, weil uns das Satte ja nicht dort satt macht, wo wir wirklich darben.
Die einzige Weise, Über-Konsum zu überwinden, ist der Genuss. Genuss besteht darin, dass wir Fülle erleben. Im Genuss werden wir satt, indem wir unsere innere Fülle ver-wirklichen.
„Wenn wir uns eine Welt vorstellen, in der überhaupt keine Ressourcen mehr verschwendet würden”, so schrieb neulich eine große deutsche Wochenzeitung, „dann sähen wir vor uns, wie Menschen in naturbelassenen Kleidern in selbstgepflückte Biofrüchte beißen, auf selbstrecycelten Fahrrädern ihre Ferienreise nur ins nächstgelegene Mittelgebirge machen; und zum Einkaufen gehen sie, wenn sie überhaupt etwas einkaufen, mit einer zehn Jahre alten, selbstgeflickten Tasche aus heimischem Hanf… Etwas Neues kommt nicht mehr, weil nämlich für alles Neue auch neue Ressourcen erschlossen werden müssten.”
Das ist natürlich bösartig. Aber es trifft den Kern einer Debatte, die sich im Kreis dreht. Die »grüne« Ökologie hat bis heute keine stimmige Vision der Erweiterung entwickelt. Das ökologische Denken hängt immer noch fest in linear-industriellen Metaphern, in angstbasierten Verlustängsten. In Straf-Phantasien und Vermeidungs-Strategien.
„Nichts ist mächtiger, als eine Idee, deren Zeit gekommen ist”, sagte Victor Hugo. Für jede neue Ära, jede echte Transformation, benötigen wir ein neues Zukunfts-Narrativ. Einen Mindset, der die kognitiven Muster, mit denen wir bislang die Welt betrachteten, ins Zukünftige auflöst.
Wie sagte Yuval Noah Harari so schön? „Es kommt nicht darauf an, was wir in Zukunft nicht dürfen. Es kommt darauf an, was wir werden wollen.”
Die Blaue Ökologie begreift Ökologie nicht als Zwang zum Verzicht, sondern als lustvolle Befreiung vom schädlichen Zuviel.
Die Kraft der Narrative
Es mag wahr sein, was Michael Moore und viele andere behaupten: Es existiert ein dunkles Kartell aus Ölfirmen, Konzernen, Lobbys, korrupten rechten Politikern, die mit allen Mitteln versuchen, die fossile Weltordnung aufrecht zu erhalten. Aber was folgt daraus? Dieses Kartell ist ja längst brüchig. Angeschlagen. Es franst an den Rändern aus. Umso mehr es unter gesellschaftlichen Druck gerät, umso mehr neigt es zu verzweifelten, lügenhaften Strategien. Trump, Bolsonaro und Co. sind das letzte Gefecht eines fossilen Denkens und Handelns, das keine Zukunft hat, und sich deshalb selbst zerstören wird. Die amerikanische Gesellschaft, die mit ihren exzessiven Konsumismus, ihrem Super-Size-Heroismus viele Jahrzehnte die »Leitkultur« des Planeten bildete, wird sich dabei neu erfinden. Ein neues Narrativ, einen wahren Traum entwickeln. Davon bin ich überzeugt.
In allen großen Epochenwechseln, vom Jäger- und Sammler-Zeitalter über die Agrargesellschaft bis in die Industriegesellschaft, erwiesen sich die alten Verhältnisse zunächst als überwältigend zäh, als unüberwindbar. Die ersten Bauernkulturen lebten kärger und kürzer als die Nomadenstämme, die vorher hunderttausende von Jahren die Erde bevölkerten. Bis die ersten blühenden Stadtkulturen der Antike entstanden, mussten unzählige Ruinen im Staub versinken.
„Während der kleinen Eiszeit (ca. 1570 bis 1700) konnten sich die damaligen Gesellschaften erst an die neuen Verhältnisse anpassen, als sie begannen, andere Bilder im Kopf zu haben, und aus ihnen heraus anders zu handeln.” schreibt der Historiker Phillip Blom, (Das große Welttheater, S. 55).
Die Antike schlägt die Verbindung des Göttlichen mit dem Menschen. Die Renaissance setzte den Menschen in den Mittelpunkt und entwickelte das Schöpferische. Die Neuzeit, die Aufklärung, verband die Idee der Freiheit mit dem technischen Fortschritt. Das Merkmal solcher Zukunfts-Skripte ist, dass sie eine alte Spaltung zugunsten einer neuen Synthese auflösen.
Das ist das Gegenteil von Dystopie, die in unseren Vorstellungen aus der Entropie entsteht.
Die blaue Ökologie – eine neue Komplexitäts-Erzählung
Nennen wir es das BLAUE Zeitalter.
BLAU steht für den Blauen Planeten, die Farbe der Erde aus dem Weltraum gesehen.
BLAU steht für Technologie, für Vision, den weiten Blick.
Im Unterschied zur GRÜNEN Ökologie, die auf Verzicht und Reduktion setzt, ist BLAUE Ökologie eine Ökologie der Fülle:
BLAUE Ökologie sieht Technologie nicht als Feind der Natur. Allerdings unterscheidet sich diese deutlich vom Maschinenzeitalter, in dem »Entfesselung« und lokale Effizienz im Vordergrund stand. Es geht nun um Integration: Zwischen Prozessen, Systemen, Materie/Molekülen, und den wahren menschlichen Bedürfnissen, die immer soziale Bedürfnisse sind.
BLAUER Fortschritt ist, das sollten wir nicht vergessen, zum größten Teil eine Ingenieursleistung.
BLAUE Ökologie denkt nicht biologistisch, sondern synergististisch. Dabei verschwinden Stück für Stück die verbleibenden Knappheiten.
BLAUE Ökologie glaubt nicht an die abstrakten Erlösungsversprechen des Digitalismus. Aber sie nutzt die Instrumente des Digitalen, um jene informellen Rückkoppelungen herzustellen, die auch die natürlichen Prozesse auszeichnen – das »biomische« Prinzip.
BLAUE Ökologie sucht nicht primär die Konfrontation mit »Umweltfeinden«. Das Neue kann nur gewinnen, wenn das Bessere sichtbar wird. Sie formt vielmehr Allianzen zwischen Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kultur; möglichst ALLER Akteure der modernen Gesellschaft.
BLAUE Ökologie erkennt dabei die Autonomiefortschritte an, die durch die Industrialisierung entstanden sind. Trotz aller Zerstörung hat die fossile Produktionsweise Zuwächse menschlicher Autonomie mit sich gebracht, die wir wertschätzen sollten.
Es gibt keinen Weg zurück, nur ein Tasten nach Vorne. Vom Mehr ins Bessere.
Die Regnose der Ökologie
Machen wir also ein RE-GNOSE-Experiment.
Versetzen wir uns nach 2050. Die Menschheit feiert in diesem Jahr den Sieg über die Erderhitzung. Zu Neujahr gibt es ein traumhaftes biodynamisches Feuerwerk in allen Städten. Der globale CO2– Ausstoß ist unter die 10-Prozent-Marke gefallen; außer einigen kleinen »Rogue States« haben die großen Nationen und Kulturen die postfossile Transformation vollbracht. Neue Techniken erlauben es, einen Teil des atmosphärischen Carbons in Senken und Absorptionsprozesse umzuleiten (etwa Regenerative Agrikultur, Carbon-Positive Städte). Die Erderwärmung hat sich in einem Bereich von etwa 2 Grad eingependelt – ja, es hat extreme Wetterphänomene gegeben, auch Migrationen, aber alles in allem hat sich die menschliche Zivilisation als erstaunlich adaptiv herausgestellt.
Wie haben wir das geschafft?
Zuerst waren es die europäischen Nationen, die in den 20er Jahren kräftige Fortschritte in der CO2-Reduktion erzielen konnten. Die Ziele der EU bis 2030, die 60-Prozent-Verminderung, wurde sogar übertroffen. Das überraschte viele, aber vor allem war es das Ergebnis eines Positionierung-Vorteils, den sich Europa in der neuen multipolaren Weltordnung verschafften musste. Dieser Vorsprung erzeugte einen neuen globalen Konkurrenz-Zyklus. China erreichte den Carbon Output Peak bereits 2025 – und war mächtig stolz darauf. In den USA löste der krachende Fall von Trump eine Groß-Offensive in Richtung BLUE SYSTEMS aus – was die Vormachtstellung des Silicon Valley beendete. Die arabischen Länder investierten alles, was sie fossil angehäuft hatten, in »Blue-Smart-Tech«; in der Wüste entstanden ganze autarke Riesenstädte.
Im Jahr 2026 wurde »Carbon Peak«, der höchste jährliche globale CO2-Ausstoss erreicht – nur einen winzigen Wert höher als die 37 Gigatonnen, die den Höchstlevel vor der Coronakrise markierten.
Es begann ein Rennen um die Wasserstoffwirtschaft. Ein gewaltiger Boom im Bereich Hyperbatterien, Power-to-Gas, Dynamic Storage, Carbon Planting. Innerhalb weniger Jahre finanzierte keine Bank mehr Öl- oder Gasfirmen. Es gelang sogar, den Problemstoff CO2 direkt zu nutzen. Ende der 20er Jahre wurden Häuser und Straßen aus Carbon-Derivaten gebaut, es gab sogar CO2-LEBENSMITTEL. Und selbstverständlich flogen Flugzeuge ab 2027 mit Synfuels, made of CO2.
Sie halten dieses Szenario für völlig unmöglich? Sind Sie sicher?
Siehe: Einige Hoffnungsbotschaften
Willkommen im Humanozän
In den Deutungs-Medien wird derzeit der Beginn einer endzeitlichen Epoche beschworen: Des Anthropozäns. Der Mensch übernimmt den Planeten und richtet ihn dabei zugrunde. Aus dem Weltall sind diese Aktivitäten in den Lichtclustern der Städte sichtbar, die sich wie ein leuchtendendes Netz um den Globus ziehen: Zeichen der dämonischen Macht unserer Spezies, die sich wie ein »Krebsgeschwür« über den Planeten ausgebreitet hat…
Ich möchte dieser deprimierenden Erzählung eine andere gegenüberstellen.
Was, wenn »wir«, die humane Zivilisation, selbst NATUR wären?
Wenn die leuchtenden Bänder der Städte aus dem Weltraum Zeichen der Lebendigkeit wären?
Die Story andauernder Evolution erzählten?
Wir, die Menschen, sind tatsächlich »Terraformer«. Wir formen den Planeten Erde. Dafür brauchen wir nicht den Mars. Schon die Blaualgen, die »Erfinder« des Sauerstoffs, haben vor einer Milliarde Jahren den Planeten verändert. Die Dinosaurier haben nicht nur Landschaften geprägt, sondern auch das Klima beeinflusst. Wir verändern den Planeten, durch Technologie, Stoffwechsel, unsere Lebensweise, wie anderen Organismen auf dem Planeten das tun.
Wir sind mit dem Planeten, mit der Fülle der Natur, durch »Interbeing« verbunden, wie der amerikanische Ökologe Charles Eisenstein diese tiefe Bindung zwischen Mensch und Planet nennt (siehe Literatur).
Der Resonanz-Philosoph Hartmut Rosa beschreibt das so:
„Demgegenüber wäre ein mediopassives Naturverhältnis eines, in dem menschliche Akteure mit dem, was sie als Natur erfahren, in einem anhaltenden, dynamischen Antwortverhältnis verbunden sind: Sie formen es, und sie werden durch es geformt – so, dass sich das Wesentliche in einem fortwährenden Austauschprozess dazwischen ereignet. An die Stelle der Haltung des Beherrschens und Nutzens träte eine Haltung des Hörens und Antwortens, die eben nicht meint: Höre auf die Natur und folge ihr, sondern die auf eine eigenständige Antwort auf das Gehörte vertraut.”
Menschen entwickeln nicht nur Zerstörung. Sie sind auch Agenten der Diversität. Wir erschaffen Kulturlandschaften, in denen neue Komplexität entsteht. Wir animieren durch Züchtungen Evolutionsprozesse. Wir können Natur bis zu einem gewissen Grad moderieren, so wie wir auch Städte, Musikpartituren und Spaghetti-Bolognese-Rezepte umgestalten können. Wie wäre es, wenn wir mit unserer Selbstabwertung als Schmarotzer, als Schädlinge aufhören würden? Und stattdessen in unsere humane Verantwortung hineinwachsen?
Was wäre, wenn wir uns selbst im Humanozän willkommen heißen würden?
Lassen wir uns durch das BLAUE LEUCHTEN verzaubern. Ist es nicht eine wunderbare technische Leistung, wie der Einzeller Noctiluca scintillans in manchen Nächten Meereswellen zum Leuchten bringt?
Im Jahr 1984 sah ich im Kino „Das Grüne Leuchten”, einen Film des französischen Regisseurs Eric Rohmer. Es unfassbar langsamer, romantischer Film, der heute nicht mehr gedreht werden würde. Die schüchterne Delphine, die sich nicht für die Liebe entscheiden kann, trifft in einem Urlaub am Meer einen jungen Mann. Sie beobachtet mit ihm den Sonnenuntergang. Wird beim letzten Strahl der Sonne ein grüner Schein zu sehen sein wie es Jules Vernes in seinem fantastischen Roman „Der Grüne Strahl” (1885) beschrieb?
Dieses Wunder wird allerdings nur sichtbar, wenn man in der Zuversicht lebt.
Wenn man seiner selbst sicher wird.
Wie wäre es, wenn wir uns in eine bessere Zukunft verlieben?
Vier Paradigmen der Blauen Ökologie
Moleküle sind auf der Erde weder selten noch knapp. Das Periodensystem ermöglicht eine unendliche Fülle molekularer Reaktionen, und selbst wenn man Öl verbrennt, »verbrennt« man es nicht, sondern spaltet es in seine Atome auf. Selbst die seltenen Erden sind nicht »endlich«. Denn hier gilt das Gesetz des lukrativen Recyclings: Wenn bestimmte Moleküle begehrt werden, lohnt es sich, sie wiederzuverwerten, oder sie chemisch zu ersetzen. Knappheiten existieren, aber sie entstehen vor allem aus Allokationsproblemen, die sich mit der wachsenden Vernetzung der Welt mildern lassen.
Die Sonne, dieser ziemlich gut funktionierende Fusionsreaktor, bringt uns jeden Tag hunderttausendfach mal MHER Energie auf die Erde, als wir für unsere Zivilisation benötigen. Neue technische Methoden können uns zudem Proteine jeder beliebigen Menge bringen. (Siehe Firmen-Beispiele).
Es gibt keinen »Müll«, sondern nur Moleküle am falschen Ort. Gülle im Grundwasser, Nitrat im Boden, Plastik im Meer, CO2 in der Luft, das sind Fehl-Allokationen. Das jeweilige Molekül selbst kann woanders womöglich Segen wirken. In intelligenten Kreislaufsystemen entsteht aus dem Substrat alter Dinge BESSERES. Das nennt sich UPCYCLING und ist die Grundidee der Zirkulären Ökonomie (Cradle-to-Cradle-Wirtschaft).
Natur ist nicht Harmonie, sondern dynamische Selbstorganisation, in der immerzu Überschüsse und überschießende Komplexitäten entstehen. Natur kennt keine Knappheit, sondern nur Intelligente Verschwendung.
Literatur
Michael Braungart: Intelligente Verschwendung, The Upcycle, Oekom Verlag
Andre McAfee, More from Less, Simon & Schuster
Charles Eisenstein. Climate – A New Story, North Atlantic Books
Timothy Morton, Ökologisch sein, Mathes und Seitz, Berlin
Derrell Bricker, John Ibbitson: Empty Planet. The Shock of Global Population Decline, Crown, New York
Gregg Easterbrook, A Moment on the Earth, Viking-Verlag
Jonathan Porritt, The World we Made, Phaidon
Johann Norberg, Progress. Ten reasons to look forward to the Future, Onewold Verlag
Peter H. Diamandis, Stephen Kotler, Überfluss, Die Zukunft ist besser, als Sie denken., Plassen
Bernd Scherer und Jürgen Renn: Das Anthropozän, Zum Stand der Dinge, Matthes & Seitz
Einige BLAUE ÖKOLOGIE-Firmen
Elonroad: Stromschienen für E-Autos zum dynamischen Laden BEIM Fahren. elonroad.com
Lillium: Das Unternehmen für elektrische Flug-Mobilität lilium.com
MUD: Zirkuläre Leasing-Bio-Recycling-Jeans in allen Schnitten und Farben mudjeans.eu
Solar Foods: Grundnahrungsmittel aus CO2 solarfoods.fi
Northvolt in Schweden: Eine Fabrik für CO2-freie Batterieproduktion für die Elektromobilität northvolt.com
Frankfurter Allgemeine: Erneuerbare erstmals vorn
Die Erneuerbaren stehen im EU-weiten Strommix vor fossilen Energieträgern wie Kohle und Gas – zum ersten Mal überhaupt. www.faz.net/aktuell
DIE ZEIT 30/2020 – Mehr Wildnis wagen
Neue Studien zeigen: Naturschutz ist auch für die Wirtschaft ein guter Deal – 30 Prozent der Land- und Meeresoberfläche sollen unter Schutz gestellt werden. Gerade einmal vier Jahre sind seither vergangen, und tatsächlich scheint aus der provozierenden Radikalität politischer Mainstream zu werden: 30 Prozent der Land- und Meeresfläche sollen bis 2030 unter Schutz gestellt werden. Dazu haben sich die meisten großen Naturschutzorganisationen und eine Reihe von Staaten bekannt. Und vor wenigen Wochen hat die EU-Kommission das »30-bis-30-Ziel« in ihre Biodiversitätsstrategie aufgenommen, als Teil des Green New Deals.
Microsoft announced that by 2050 it will remove all the carbon it has ever emitted since its foundation in 1975.
Starbucks announced aims to become ‘resource positive’ when it comes to carbon, water, and some other natural resources.
Low-Carbon Landwirtschaft wird eine wichtige Rolle spielen: www.wired.com
Gute Nachrichten aus der Blauen Ökologie: futurecrun.ch
Warum die Worst-Case Szenarios der Klimaentwicklung nicht stimmen: www.nature.com
Wie ein neues Wort entsteht:
Köpskam. flysgskam (flight shame) is now evolving into köpskam: a shame associated with any kind of consumption. This is an epic shift, and one that poses a vast challenge to the incumbent business-economic-political elites. Consumers are going to have to change; but they won’t do that without demanding loudly that the legacy organizations that have enabled them make far-reaching changes, too. In the 2020s, a key question for any legacy business will be: how must we adjust to a world of consumption shame?
Am 16. März veröffentlichte ich einen Text mit dem Titel „Die Zukunft nach Corona“ im Internet. Er ging viral um die ganze Welt. Was ist daraus geworden? Was können wir heute wissen, was wir damals nur ahnten?
Wohin geht die „Welt nach Corona“ wirklich?
Ich möchte noch einmal die Motive meines Textes rekapitulieren. Das erste Motiv stammte aus der Frage, wie wir mit der Angst umgehen können.
Angst ist ein Geschenk der Evolution, das uns in die Lage versetzt, in Gefahr kräftig zu reagieren. Das Adrenalin der Angst mobilisiert unsere Kräfte, leitet uns zum Flüchten oder zum Kämpfen an. In der Welt der direkten Bedrohungen, in der wir immer wieder um unser Leben kämpfen mussten – gegen Säbelzahntiger, feindliche Stämme oder Naturereignisse – ist das eine nützliche Adaption.
In einer medial-technischen Zivilisation jedoch, wo Millionen Bilder, Zeichen, Schrecklichkeiten, unser überfordertes Hirn tagtäglich überschwemmen, wo alles mit allem verquickt, vernetzt und doch seltsam abstrakt und fern erscheint, kann die Angst leicht aus dem Ruder geraten. Sie überwältigt uns, kriecht in uns hinein und führt dort ein Eigenleben. Sie wird zur großen Verängstigung.
Gegen die aufkommende Corona-Hysterie wollte ich mit meinem Text eine Ermutigung setzen. In Krisen sind erstaunliche Erfahrungen von Selbstwirksamkeit und Solidarität möglich, von Wandel und Transformation. Wir alle wissen das im Grunde aus unserem privaten Leben, unserer Biographie, oder von unseren Vorfahren. Dieses Wissen bildet unsere innere Resilienz, unseren Zukunfts-Mut.
Aber es ging nicht um Beruhigung. Die Angst klein zu reden, wäre völlig falsch gewesen. Im Kampf gegen den Virus war die Angst ja nützlich, notwendig, um unser Verhalten zu ändern und das Schlimmste zu verhindern. Greta Thunbergs Aufforderung „I want that you panic!“ machte hier plötzlich Sinn.
Es ging mir um die Erfahrung, dass man, wenn man Angst annimmt, sie ihren Schrecken verliert. Man kann auf der anderen Seite wieder herauskommen und STAUNEN, wenn sich nicht alle unsere Befürchtungen bewahrheiten. Wenn etwas Unerwartetes, Neues entsteht.
Durch die Idee der Re-Gnose wollte ich meinen Lesern ihre eigene Zukunft zurückgeben.
Indem ich die Leser aufforderte, sich auf den Stuhl des Zeitreisenden zu setzen und aus der Position der Zukunft zurückzuschauen, wollte ich die falsche Fixierung auf äußere Prognosen überwinden helfen.
Prognosen sind Teil des ungeheuren Aufmerksamkeits- und Erregungskomplexes, der uns umgibt. Nicht selten entstehen sie aus ideologischen Verkürzungen und linearen Weltbildern, die einen Trend immer geradeaus – oder exponentiell – in die Zukunft weiterzeichnen. Oft handelt es sich einfach um Übertreibungen, Zuspitzungen. Um Schreckensbilder. Oder um Verkaufsinteressen: Man prognostiziert einen Ausgang, der etwas geldwert macht.
Die Corona-Krise wurde von unzähligen Epidemiologen, Systemforschern und Visionären schon lange vorausgesehen. Es mangelt uns also nicht an Prognosen. Sondern an einer Beziehung zur Zukunft. So erschien zum Beispiel schon in der ersten SZENARIO-Sondernummer des Zukunfts-Magazin im Jahr 1995 ein Text mit dem Titel „The Age of Plagues“…
Prognosen verengen die Zukunft zu einem Tunnel. Das ist besonders der Fall, wenn unser MIND voller Ängste ist. Dann wirkt die Zukunft wie eine Lokomotive, die mit schrillem Pfeifen auf uns zurast. Wir können noch nicht einmal beiseite springen, ohne in den Abgrund zu stürzen.
Wie kann man diesen Hypnose-Effekt, in dem wir vor der Zukunft innerlich erstarren, überwinden?
„Was, wenn dieses wilde Gedankengestrüpp namens Zukunft ein evolutionäres Tool ist? Ein Hilfsmittel, das Menschen sich im Verlauf ihrer Entwicklung zurechtgelegt haben, um ihre Umwelt, ihr JETZT, besser verändern zu können?”
So schreibt der Musiker und Publizist Mario Sixtus in seinem Buch „Warum an die Zukunft denken” (S. 20).
Diese Idee der Rekursion der Zukunft – der RÜCKWIRKUNG der Zukunft auf uns selbst – drückt sich im Begriff der Re-Gnose aus. In der Re-Gnose bewegen wir uns handelnd in Richtung Zukunft, anstatt sie lokomotivenhaft auf uns zurasen zu lassen. Wir überwinden unsere Starre und beginnen damit, uns selbst als Teil des Zukünftigen zu sehen.
Wir werden SELBST zur Zukunft, und auf diese Weise lassen wir die dunklen Prophezeiungen, die uns am lebendig sein hindern, hinter uns.
Reality Check
Was also hat die Corona-Zeit bislang »gebracht«?
Die Zehner Jahre waren eine Ära der inneren Hysterisierung. In der Prä-Corona-Zeit schien das, was man gemeinhin »Realität« nennt, in tausend Einzelteile zu zersplittern. In Fragmente von Meinungen, Wut, Rechthaberei, Ideologien, Konstrukten, deren schrillster Ausdruck die Verschwörungskonstruktion ist. Alle brüllten immerzu durcheinander. Alles war ein unentwegtes ICH WILL! Und gleichzeitig ein unentwegtes NEIN!
Durch diese kognitive Krise verschwand die Zukunft in einer ständig um sich selbst kreisenden Gegenwart. In einem Schwarzen Loch der Wahr-Nehmung, einer Zerstörung der Realität.
Diese Vertrumpung der Welt kam mit der Covid-Krise zu einem abrupten Halt. Plötzlich landeten wir in einer gemeinsamen Realität, die sich nicht mehr leugnen ließ. Jedenfalls nicht so leicht.
Wir hörten plötzlich Epidemiologen und Virologen zu. Wir verstanden, wie wissenschaftliche Prognosen durch Zweifel, Irrtum und Erfahrung entstehen. Es entstand plötzlich wieder eine Kultur der gesellschaftlichen Anerkennung. Wir erlebten Politik als handelnde Kraft im Sinne der Fürsorge und Vorsorge. Und sahen verwundert, wie die vorher so triumphalen Populisten plötzlich wie Rumpelstilzchen wirkten.
Wo Gesellschaften sich auf diese Weise verwahrheiten konnten, entstand eine neue Stärke, eine neue Resilienz – ein neues Selbst-Bewusstsein. Wo dies nicht gelang, wie in den USA, in Brasilien und anderswo, breitet sich immer tiefere Dunkelheit aus.
Fasziniert verfolgen wir jetzt, wie Trump über seine Lügen und Täuschungen stolpert und wankt. Ein globales Drama von Shakespear‘schen Ausmaßen, das uns die nächsten Monate faszinieren wird. Aber wie weit, wie tief, reicht diese innere Wende, diese neue Wahr-Nehmung der Wirklichkeit, in der es plötzlich wieder um etwas geht? Um die Ganzheit der Gesellschaft. Um den Zusammenhalt des Menschlichen. Um Zukunft als Realität, als wahre Perspektive?
Der Wahrheits-Charakter von Krisen besteht darin, dass sie uns von Illusionen befreien. Wenn wir in Illusionen verfangen sind, brauchen wir unglaublich viel Energie, um diese aufrechtzuerhalten. Confirmation Bias – das erschöpft uns völlig, und hält uns vom Leben ab. Wir verlieren uns dabei selbst in unseren Konstrukten, wie die Welt ist, oder zu sein hat, oder „irgendwie sein müsste…”.
Die COVID – Krise hat unsere Illusion enttäuscht, dass alles immer so weitergeht. Dass wir nächstes Jahr NOCH billiger NOCH weiter fliegen werden, um uns NOCH besser und NOCH blindwütiger zu vergnügen. Sie hat uns die Wahrheit vor Augen geführt, dass unser beschleunigter Lebensstil nicht das erzeugt, was wir erwarten. Nämlich immer mehr Spaß, Reichtum, Vergnügen, Sicherheit…
Wenn Täuschungen von uns abfallen (»Ent-Täuschung« im positiven Sinn) entsteht Wahrheit. Wahrheit ermöglicht, wieder direkt mit der Wirklichkeit in Kontakt zu treten. Wirk-lichkeit ist jene Realität, in der wir wieder wirken können. In der wir nicht ständig abgelenkt sind. Die Welt wirkt wieder neu. Fremd zunächst, vielleicht sogar unheimlich. Die Vögel zwitschern anders. Die Stadt wirkt leer, aber geheimnisvoll. Etwas scheint neu zu beginnen. Wir wundern uns. Das ist Re-Gnose als Selbstschöpfung im Neuen.
Natürlich haben nicht ALLE Menschen diesen Freiheitsaspekt der Krise erleben können. Einige konnten es nicht, weil sie in schwere Not und Knappheit gerieten. Andere wandten sich lieber neuen Wut-Verschwörungskonstruktionen zu.
Ich halte es jedoch für falsch, diese Unterschiede, wie in der öffentlichen Debatte üblich, zu einer Privilegierten-Denunziation zu machen. Es ist auch einfach nicht wahr: Überall, nicht nur in Villenvierteln, gab es in der Corona-Krise ergreifende Beispiele der Solidarität, der Kreativität im Umgang mit der Not. Auch in den Krisenzonen Italiens erlebten Menschen jene transformatorische Energie, die die Finnen „Sisu“ nennen – die geheimnisvolle Kraft, die Menschen dazu befähigt, in schwierigen Zeiten über sich hinauszuwachsen.
So, wie wir Vergangenheitsbewältigung brauchen, brauchen wir auch Zukunftsbewältigung im Sinn einer In-Beziehung-Setzung mit dem Kommenden.
Aleida Assmann
Die drei bleibenden Wahrheiten der Corona-Krise
Wir sind und bleiben Teil der Natur
Im Wald oberhalb meines Hauses am Wiener Stadtrand finden sich seit vielen Wochen seltsame Holzkonstruktionen an den Bäumen. Zeltähnliche Pyramiden aus Ästen und Zweigen. Zuerst dachte ich, dass das Kinder waren, die im Wald »Indianer« spielten (darf man das noch?). Aber dann sah ich in der frühsommerlichen Abenddämmerung immer wieder Paare, Gruppen oder auch einzelne Menschen mit und ohne Hund in diesen Asthäusern sitzen. Sie schwiegen, oder sprachen sehr leise miteinander.Die Covid-Krise hat tatsächlich eine innere Botschaft, die man verwerfen oder annehmen kann. Negativ formuliert lautet diese Botschaft: Wir können der Natur nicht entkommen.
Positiv: Wir sind immerzu mit der Natur verbunden. Wir sind und bleiben ein lebendiger Teil von ihr. Obwohl die technische-industrielle Zivilisation mit aller Macht versucht, eine Barriere zwischen der menschlichen Existenz und dem Natürlichen zu errichten (derzeit besonders sichtbar durch Masken und monströse Plastikhüllen), zeigt uns das Virus, dass eben dies eine Illusion ist. 50 Prozent unserer Human-DNA besteht aus integrierter Viren-DNA. Wir sind Teil der mikrobiologischen Welt, der ewigen Evolution des Lebendigen. Und würden wir uns end-gültig von ihr trennen, wäre die Humanevolution zu Ende.Durch die COVID-Krise hindurch wird sichtbar, wie wir wirklich Schutz und Stabilität finden können: Indem wir uns wieder auf das Lebendige, das Vielfältige, das Wachsende und Vergehende einlassen. Indem wir wieder in Verbindung mit der Natur treten. Nicht, indem wir uns ihr unterwerfen. Sondern indem wir in einen neuen Dialog mit ihr treten.
Es ist kein Zufall, dass alle Sektoren, die etwas mit Natur zu tun haben, jetzt dauerhaft boomen: Garten. Fahrradfahren. Wandern. Schrebergärten. Natural Cooking. Achtsamkeitstechniken. Atmen…
Das Digitale ist nicht real
Warum hatten Kirchen und Religionen in dieser Krise so wenig zu Lösung und Hoffnung beizutragen? Ich habe eine Vermutung: In den letzten Jahrzehnten hat sich eine neue Religion ausgebildet, die die transzendenten Energien des Religiösen in sich aufgesogen hat. Der Digitalismus.Der Digitalismus (nicht zu verwechseln mit der digitalen Technik als Instrument, als sinnvolles Tool) will uns glauben machen, dass alle menschlichen Probleme durch die Macht der Computer ERLÖST werden können. Vom Stau über die Produktivität bis zur Sterblichkeit. Von der Gesundheit über das Lernen bis zur Arbeitsproduktivität.Erlösungs-Kulte erkennt man an ihrem unverrückbaren Dogma. Das Hosianna des Digitalismus lautet Quantencomputer, Blockchain, Internet of Things, Smart Living, Automatisches Fahren…
Künstliche Intelligenz ist der neue Gott, eine übermenschliche Instanz, die uns von allen Übeln und Sünden befreit. Sie soll sogar jene fatalen Phänomene lösen, die das Digitale bisher in der menschlichen Kommunikation hinterlassen hat, etwa die Hass- und Gewaltstürme im Internet. Facebook arbeitet daran jetzt mit Künstlicher Intelligenz…Doch das Virus deutet uns auch hier eine neue Wahrheit aus. Nicht die Künstliche Intelligenz hat uns in der Abwehr der Infektion geholfen. Sondern menschlicher Verhaltenswandel. Solidarität. Gesunder Menschenverstand. Kooperation. SOZIO-Techniken, nicht digitale Wunder. Die Corona-App kann helfen, mehr aber auch nicht.Derzeit hört man überall die triumphale Vorstellung, dass die Covid-Krise „endgültig die Digitalisierung durchsetzt”. Tatsächlich wurde nie so viel videokonferenzt, geskyped und gehomeschooled wie heute. Gleichzeitig aber erfahren wir gerade dadurch, was wir existentiell vermissen. Und was an der bisherigen Digitalisierung grottenfalsch war. Gerade WEIL sich digitale Nutzungen jetzt beschleunigen, wird deutlich, dass Menschen immer auch analoge Wesen bleiben. Wie wichtig der Körper im Kommunizieren ist, der Augenkontakt, die Nähe, die Gestik, die PRÄSENZ. Die alten Kulturtechniken – Lesen, Schreiben, Singen, bidirektionales emotionales TELEFONIEREN – kehren in der Krise als verlorene Sehnsucht oder Retro-Realität zurück.Genau das könnte neue Bewegung in die techno-soziale Evolution bringen und den dunklen Kult des Digitalismus beenden. Ich nenne diese neue Phase der digitalen Säkularisierung das REALdigital. Oder HUMANdigital. Die Anzeichen für diesen Paradigma-Wandel sind deutlich. Es gerät etwas in Bewegung. Aufmerksamkeits-Symbionten wie Buzzfeed verlieren ihr Geschäftsmodell. Influencer geraten unter Legitimationsdruck. Immer mehr Menschen überprüfen ihre medialdigitalen Suchtmechanismen. Und Facebook reagiert zum ersten Mal ernsthaft auf die Kampagne #StopHateForProfit: Wo mächtige Anzeigenkunden wie Coca Cola, Starbucks, SAP und hunderte andere Weltkonzerne ihre Werbeetats zurückziehen, weil sie in Hass- und Fake-News-Orgien nicht mehr werben wollen, beginnt ein neues Spiel.
Je größer die Welt im Vergleich zum einzelnen Menschen wird, desto kleiner wird der Mensch. Unsere Vorfahren, die nur einen kleinen Teil der Welt kannten, waren sehr groß. Wir, da wir nun die ganze Welt kennen und mit der ganzen Welt in Verbindung stehen, sind sehr klein.
Giacomo Leopardi
Zukunft ist eine Entscheidung
Stellen wir uns das Post-Corona-Zeitalter (PC im Gegensatz zu BC) einmal so vor:
Donald Trump wird krachend abgewählt (oder fällt in ein unbekanntes dunkles Loch). Aus dem Dopaminausbruch der Erleichterung entsteht eine weltweite Euphorie des Aufbruchs, eine Welle der rebellischen Veränderung. Eine neue globale Jugendrebellion nimmt Fahrt auf, in der es um neue Antworten auf soziale, rassistische, ökologische Spaltungen geht – um das, was Menschen über alle Schranken und Grenzen verbindet. Im Zuge dieses Aufstands erfindet sich Amerika neu.
Eine neue Ära der multipolaren globalen Kooperation beginnt, in der Länder Kulturen, Städte neue »glokale« Bündnisse entwickeln. Das ist mühsam, aber es passiert, weil durch Corona Empfindlichkeiten, Verletzbarkeiten der menschlichen Existenz, überdeutlich und dringlich wurden. Die lokalen Strukturen der Bürgergesellschaft werden gestärkt. Das vielgescholtene Europa entwickelt neues Selbstbewusstsein. Gleichzeitig erleben internationale Organisationen wie UNO, WHO, Greenpeace eine Renaissance.
Die überbeschleunigten Märkte, die im Zentrum der Disruption durch Corona standen – Schlachthöfe, Kreuzfahrtschiffe, After-Ski-Ballermann, Billigflieger, Billigfleisch, Overtourism, Overmarketing – schrumpfen dauerhaft, oder werden zumindest verlangsamt. Die neue Weltwirtschaft wächst langsamer, aber auch qualitativer. Es geht im Business der 20er Jahre deutlich mehr um Nachhaltigkeit, Sinnhaftigkeit, Purpose.
Innovative Ideen über menschliche Gemeinschaft, das Leben in der Stadt, die Frage, wie wir sozial UND individuell zusammenleben wollen, wie wir das Ökologische und das Technische verbinden, gewinnen deutlich an Bedeutung. Der »New Green Deal« führt dazu, dass der Zeitvorteil, den uns die Corona-Krise in Sachen Erderhitzung verschaffte – die CO2-Emissionen fielen auf den Stand von 2010 zurück – tatsächlich genutzt wird. Die postfossile Energiewende rückt endlich in den Bereich des Möglichen, ja Wahrscheinlichen.
Unmöglich? Viel zu optimistisch? „Kann gar nicht sein?”
Was macht diese Variante der Zukunft unwahrscheinlicher als die Alternativen der ewigen Verschlechterung?
Was nehmen wir wahr?
Wir kommen an dieser Stelle nicht ohne den Begriff der Verantwortung aus. Genauer: Der Selbst-Verantwortung.
Verantwortung entsteht aus Entscheidung. Wir entscheiden uns für etwas Bestimmtes, und verzichten auf Anderes. Wir entscheiden uns für einen Weg, den wir bei vollem Bewusstsein gehen.
Wir entscheiden uns zum Beispiel, uns gegenseitig im Internet gegenseitig anzubrüllen. Oder damit aufzuhören. Wir entscheiden uns, uns durch die Populisten Angst machen zu lassen. Oder zu erkennen, wie lächerlich diese Gestalten in Wahrheit sind.
Oder wir entscheiden uns, nicht mehr das, was uns die Medien als »Realität« verkaufen, mit der Wirklichkeit mit ihren Vielfältigkeiten, dynamischen Widersprüchen und Wundern zu verwechseln.
Wir entscheiden uns, kein Schweinefleisch mehr zu essen, anstatt darüber zu klagen, dass „die Fleischindustrie sich nie ändern wird“. Obwohl das womöglich nicht sofort die ganze Welt rettet, bringt es uns wieder ins innere Gleichgewicht. Und im Kleinen liegt, wie die Corona-Zeit uns gezeigt hat, auch das Große.
Wir entscheiden uns, konstruktiv zu werden. Statt ständig über die Welt zu klagen, er-wachsen wir.
Die eigentliche Seuche, die Mega-Infektion unserer Zeit ist das, was ich den Narzisstischen Negativismus nennen möchte. Er besteht darin, dass wir mit dem Negativen unser instabiles Ego stabilisieren. Damit entsteht eine juissance – ein Begriff des Psychoanalytikers Jaques Lacan. Ein Genuss, der – zum Beispiel – durch die Bestätigung negativer Erwartungen entsteht. Schadenfreude trifft es nicht ganz. Eher: Schlechterwisserei. Wenn wir immer schon vorher wissen, dass es schiefgeht, glauben wir, nicht enttäuscht werden zu können.
Aber das ist ein Irrtum.
Der Gegenspieler des gebildeten Menschen ist nicht der Barbar. Es ist der Spießer, der alles auf sich bezieht, alles schon zu wissen meint und selbstzufrieden in seinem Denken und Dasein ruht.
Jan Ross
Wird die Welt nach Corona „eine andere“ sein? Eine bessere? Das können wir nicht endgültig wissen, denn die Zukunft hängt davon ab, ob wir uns für sie entscheiden.
In der Re-Gnose entscheiden wir, was wir der Zukunft GEBEN wollen. Wir hören auf, nur zu ERWARTEN. Damit wachsen wir über den inneren Troll heraus, der seine eigene Dunkelheit, seine innere Verworfenheit, seine Selbst-Abwertung mit der Welt verwechselt. So wie wir, wenn wir uns wirklich für die Liebe entscheiden, aufhören, vom Partner nur zu erwarten, dass er unsere Ansprüche erfüllt. Wir wachsen über unsere Erwartungen hinaus in neue Wahrheiten hinein. Wir öffnen uns nach vorne, ins Leben, in die Zukunft. Mit allem, was da kommt. Jetzt ist die Zeit dafür. Wann, wenn nicht jetzt.
Die schönsten Corona- Zitate
Poesie ist Teil jener Resonanz, die uns in die Zukunft führt. Hier eine kleine Sammlung der „Corona-Poesie“ aus verschiedenen Quellen:
Ein Vakuum entsteht, ein Moment der Sprachlosigkeit, wenn auch nicht der Stille. Viele Stimmen versuchen, durch Lautstärke oder Emotion davon abzulenken, dass sie längst Sprachlos geworden sind. Alle Verbindlichkeiten bröckeln, Regierungen missachten ihre eignen Gesetze und Gerichte. Jede Überzeugung ist suspekt, alle Fakten gelten als Konstrukte, hinter jeder Wahrheit verbergen sich Manipulation und Hegemonie. Panik setzt ein. Im 16. Jahrhundert waren es Selbstgeisselungen, Kirchenlieder und Hexenprozesse, die verdecken sollten, dass die Geschichten der Vergangenheit die Herausforderungen der Gegenwart nicht die Stirn bieten konnten.
Der Philosoph Phillip Blom, in „Das große Welttheater“ S. 40
Wir dürfen Social Distancing nicht als Isolation begreifen. Deshalb nenne ich es lieber Physical Distancing, physische Distanz. Kommunikation ist heute noch wichtiger als früher. Ich hatte tolle Zoom-Partys, Zoom-Dinner. Manchen fühle ich mich näher als je zuvor. Jeden Abend um sieben Uhr gehen überall auf der Welt Menschen auf die Balkone, applaudieren, trommeln auf Töpfen. Wir können das Schreckliche nicht ignorieren, müssen mit dem Trauma umgehen. Aber wir sollten diese tollen Dinge füttern. Indem wir aufeinander aufpassen.
Lisa Fithian, amerikanische Umwelt und Sozial-Aktivistin
Draußen ist die Welt vakuumkrank, die Plätze entvölkert, das Verschwinden der Wimmelbilder legt eine neue Architektur der Leere frei. Die Menschen sind in den Häusern und müssen sich daran gewöhnen, dass das Richtige zu tun auf den ersten Blick so unspektakulär aussieht und das Heldentum dieser Tage für die meisten nicht aus großen Taten, aber kleinen Unterlassungen besteht.
Valerie Fritsch, Schriftstellin und Künstlerin
It’s the end of the world as we know it, and everything does feel fine—not fine like chill, but fine like china, like glass, like thread. Everything feels so fine, and so fragile, and so shockingly worth saving. In the end, (the crisis) it will not be butchery. Instead it will be bakery as everyone has apparently decided that the best thing to do when the world lurches sideways is learn to make bread.
Laurie Penny in WIRED
Natur! Wir sind von ihr umgeben und umschlungen – unvermögend aus ihr herauszutreten und unvermögend tiefer in sie hineinzukommen.
Goethe, 1869
Die Menschheit kann nie sehr viel Wirklichkeit vertragen.
T.S. Eliot
Wie wäre es, wenn wir uns im Sinne des Wandels selbst verschwören würden?
Verschwörungen sind in aller Munde. Und unangenehm. Wir wissen: Sie dienen unsicheren und verunsicherten Menschen als mentaler Notnagel. Mit Verschwörungsbildern lässt sich die innere Angst und Zerrissenheit nach außen ableiten – in bisweilen gefährliche Konstruktionen, die erheblichen Schaden verursachen können. Deshalb verunsichert uns die Tatsache, das viele Menschen an gefährlichen Blödsinn glauben.
Was aber wäre, wenn wir den Verschwörungsfreaks nicht mit Überzeugungsversuchen, Furcht oder Hochmut begegnen würden? Wenn wir uns einfach SELBST verschwören würden? Etwa so:
Wir verschwören uns, Krisen, die im menschlichen Leben und in der Geschichte nicht zu vermeiden sind, so gut es geht als Herausforderungen für unsere Kreativität, Menschlichkeit und Resilienz zu verstehen. Oftmals erkennen wir in diesen Herausforderungen das Wesentliche – das, worauf es im Leben, also in Richtung Zukunft, wirklich ankommt.
Wir verschwören uns, NEIN zu sagen zu der Idee, dass Menschen schlecht sind und sich niemals ändern können. Das ist eine zynische und letztendlich menschenverachtende Haltung. Menschen ändern sich dauernd, passen sich unentwegt neuen Verhältnissen an, erfinden sich selbst und ihre Gesellschaften neu. Menschen sind fähig zum Wandel! Wenn das nicht so wäre, würde die menschliche Spezies nicht existieren.
Wir verschwören uns im Sinne eines neuen realistischen Humanismus. Lesen zum Beispiel: Rutger Bregman: Im Grunde Gut – eine neue Geschichte der Menschheit. Erschienen im Rowohlt Verlag, auch erhältlich bei Amazon.
Wir verschwören uns, uns keine Angst mehr vor übertriebenen, medial aufgeblasenen und unrealistischen Gefahren einjagen zu lassen. Wir wissen, dass viele Medien auf Übertreibung, Skandalisierung und Negativität angewiesen sind. Aufmerksamkeit ist die knappste und begehrteste Ware der Mediengesellschaft. Sie ist eine Verschwörung gegen unseren gesunden Menschenverstand, auf die wir nicht mehr hereinfallen werden.
Wir verschwören uns, in Zukunft, Shitstorms, Niedermachungen, Skandale, Überzeichnungen, Verschwörungswahn, Hass- und Abwertung anderer zu ignorieren, anstatt sie durch Aufmerksamkeiten auch noch aufzuwerten. Oder dort, wo er tatsächlich gefährlich wird, etwa im bösartigen Populismus, entschlossen zu bekämpfen.
Wir verschwören uns, die Botschaften der Aufklärung zu erneuern. Wir beharren auf einer Welthaltung, in der Vernunft, Wissenschaft, und zweifelndes dazulernen eine zentrale Rolle spielen. In dem wir selbst, als handelnde, bewusste Menschen, eine Rolle spielen. In dem aber auch das Zauberhafte und Wunderbare, das Überraschende und Humorvolle seinen Platz hat.
Wir verschwören uns, nicht mehr nur auf die Probleme zu starren, sondern von den LÖSUNGEN aus zu denken. Dafür nutzen wir die RE-GNOSE, eine mentale Technik, in der wir die Gegenwart aus der Perspektive der Zukunft betrachten. Dabei kann es uns gelingen, unseren eigenen inneren Wandel, unsere Selbst-Veränderung, in die Zukunftsvision einbeziehen (siehe letzte Kolumne: Was ist Regnose?).
Wir verschwören uns, mit der Zukunft in uns selbst zu beginnen. Anstatt über die böse Welt und ihren Niedergang zu jammern, werden wir selbst zum Wandel, den wir uns erhoffen. Wir erkennen: Zukunft ist eine Entscheidung!
Die Zukunft kommt uns nicht entgegen,
sie liegt nicht vor uns,
sondern sie strömt von hinten über unser Haupt.
Rahel Varnhagen,
Berliner Salondame des ausgehenden 18. Jahrhunderts, zitiert nach Florian Illies
Drei Monate nach dem Beginn der Großen Krise, der Covid-Krise, werde ich immerzu nach der Bedeutung des Wortes Re-Gnose gefragt.
Ist das nicht in Wahrheit dasselbe wie eine Pro-Gnose?
Um den Unterschied zu klären, möchte ich Sie ein wenig in die verrückte Quantenwelt entführen. Keine Angst, das tut nicht weh. Es ist eigentlich auch nicht kompliziert. Jedenfalls nicht, wenn man sich ein bisschen verzaubern lässt.
„Prognosen sind schwierig, vor allem wenn sie die Zukunft betreffen!”
Dieses Zitat wird häufig zu Beginn von Veranstaltungen zitiert, auf denen ich als Redner auftrete. Es wird abwechselnd Karl Marx, Karl May, Mark Twain und am liebsten Karl Valentin in die Schuhe geschoben.
Niels Bohr und Albert Einstein, Foto: Paul Ehrenfest (1880-1933)
Es stammt jedoch vom dänischen Atomphysiker Niels Bohr, einem genialischen Humanisten, der maßgeblich am Bau der Atombombe beteiligt war. Bohr soll diesen Satz in einer öffentlichen Diskussion mit Einstein im Jahre 1923 gesagt haben („Discussions with Einstein on Epistemological Problems in Atomic Physics”). Er formulierte den Satz wahrscheinlich im Kontext des Nonlokalitäts-Problems in der Quantentheorie.
Analog dazu besagt die Heisenberg’sche Unschärferelation, dass ORT und IMPULS eines Teilchens, eines Quantums, nicht gleichzeitig bestimmbar sind.
Zu kompliziert? Man kann es auch anders sagen: Die Wirklichkeit hängt von unserer Beobachtung ab.
Einige kennen dieses unlösbare Problem vielleicht von einem Gedankenexperiment namens „Schrödingers Katze”. Eine Katze ist mit einem komplizierten Radionuklid-Apparat in einer Box eingeschlossen, und man weiß nicht, ob sie lebendig oder tot ist. Erst wenn man die Box öffnet, kann man das wissen.
Dann ist die Wirklichkeit entschieden – durch unsere Beobachtung.
So ähnlich ist es auch mit der Zukunft.
Unsere Spezies homo sapiens hat durch die Evolution ein besonderes Instrument mit auf den Weg bekommen. Ein übergroßes Hirn, das sich als eine Art Zukunfts-Organ verstehen lässt. Wir können damit nämlich in die Zukunft reisen – und zurück in die Vergangenheit. Und beides miteinander verbinden – in endlosen Schleifen, aus denen Bewusstsein entsteht.
In diesem 100 Milliarden-Neuronen-Organ produzieren wir ständig Prognosen – über uns selbst und die Welt, und über dem Zusammenhang zwischen beiden: Wie wird der nächste Urlaub? Wie werde ich heute Abend aussehen? Wird die Welt immer verrückter? Hat die Sozialdemokratie noch eine Chance? Hat mein Mann/meine Frau noch alle Tassen im Schrank, oder wird er/sie diese demnächst nach mir werfen?
Ständig tauchen dabei Grundsatz-Fragen auf: Wie hängt das alles zusammen? Was ist real? Was ist gefährlich?
Worauf können wir vertrauen?
Der evolutionäre Sinn dieses aufwendigen Prozesses – das Hirn verbraucht bis zu 25 Prozent unserer Energie bei weniger als 1 Prozent Körpermasse – liegt aber nicht in der exakten Abbildung der Zukunft. Dies würde nicht nur unser Hirn überfordern, es würde uns auch in die Irre führen. Zukunft kann nie »exakt« sein, sie ist immer auch das Ereignis von Zufällen, Häufungen von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit. Aber aber auch von unseren eigenen Handlungen.
Wenn wir uns genau auf ein FIXIERTES ERGEBNIS festlegen würden, würden wir unsere Reaktionsmöglichkeiten allzu sehr einengen. Wir wären dann vollkommen hilflos, wenn sich die Zukunft plötzlich als Überraschung erweist. Deshalb bildet unser Hirn klugerweise Hypothesen, Metaphern, Abstraktionen, in der die Zukunft offen, aber trotzdem vorstellbar bleiben kann.
Dieses Spannungsverhältnis zur Zukunft hält uns lebendig. Es lässt uns wach bleiben, hoffen, wünschen, planen, wobei Irrtümer kostbar sind, weil sie uns leiten und belehren. Unser Future Mind, unser Zukunftsinstinkt, hilft uns dabei, uns ständig weiter zu entwickeln – in einem Dialog, einer Art Tanz mit der Zukunft. Wir sind mit der Zukunft mit einer Art elastischem Band, einem Resonanzverhältnis verbunden.
Können Sie diese seltsame, endlose Schleife spüren? Sie stammt aus der tiefen Vergangenheit, als unsere Vorfahren »Visionen« an die Wand von Höhlen malten. Sie setzt sich fort in unseren Anstößen, Wirkungen und unvergleichlichen Lebensmustern, die wir durch unsere Kinder, unsere Freunde, unsere Schöpfungen fortsetzen, auch nach unserem Tode. Auf diese Weise verbinden wir uns mit der Welt in einer überzeitlichen Weise.
Im Laufe unseres Lebens kann es allerdings passieren, dass sich die vielen Prognosen, die wir hin- und her wälzen, die medienverschärften Ängste und Befürchtungen, die inneren Frustrationen und verstockten Enttäuschungen, zu einer fixen Idee über Welt und Wirklichkeit verdichten. Wir klammern uns dann an einer negativen Grundprognose fest, die von Verlustangst geprägt ist.
Wenn unser Verhältnis zum Kommenden auf diese Weise verengt ist, sehen wir die Zukunft wie eine schrill pfeifende Lokomotive, die aus einem Tunnel auf uns zurast. Der Tunnel steht für die Unabänderlichkeit des »Kurses« der Zukunft, die Linearität. Wir können wahrscheinlich noch nicht einmal von den Gleisen springen. Da lauert die rußige Wand oder der Abgrund.
Menschen mit einer Zukunfts-Tunnelsicht erkennt man daran, dass sie sich nicht mehr überraschen lassen können. Sie nehmen alles zum Beweis für etwas, was sie angeblich immer schon wussten (hindsight bias, die Rückwärtsbestätigung). „Ich wusste immer schon, dass es so kommen wird!” Sie suchen ständig nach Beweisen für jene fixe Idee, in der sie die Zukunft sozusagen eingemauert haben. Diese Schlechterwisserei ist zu einer großen gesellschaftlichen Epidemie geworden, die man in allen Kommentarspalten im Internet, in endlosen Talkshow-Diskussionen, in fast allen Debatten über die Zukunft wiederfinden kann.
Auf diese Weise erstarrt die Zukunft in uns, sie verhärtet sich zur Prophezeiung. Wir PRODUZIEREN nun die Zukunft, die wir fürchten, durch negative Pro-Gnose – Voraus-Schöpfung. Man nennt das auch „Self-fulfilling prophecy” – Sich-Selbst-Erfüllende Prophezeiung.
Wenn wir uns innerlich prophezeien, dass unsere Beziehung eigentlich „nur schiefgehen kann”, dann geht sie auch schief.
Wenn wir uns innerlich prognostizieren, dass wir kein Talent in unserem Beruf haben (oder eigentlich GAR kein Talent haben, »niemand« sind), dann WERDEN wir in unserem beruflichen Leben immer »an den Umständen« scheitern. In Wirklichkeit scheitern wir an uns selbst.
Wenn wir glauben, dass die Welt uns nichts Schönes, Erhellendes und Wunderbares zu bieten hat, dann werden wir uns Schritt für Schritt in einen frustrierten, enttäuschten, bitteren und unfreundlichen Zeitgenossen verwandeln, der sich immer nur durch das Negative bestätigt. In einen apokalyptischen Spießer, der aus seinem Schlechterwissen den Honig der Komfortabilität und narzisstischen Selbstbestätigung saugt.
Wenn wir auf diese Weise unsere innere Zukunft, unser Entwicklungspotential verlieren, sind wir in einer verzweifelten Situation. Wir neigen dann dazu, uns von verbilligten Vergangenheiten, wie sie die Populisten anbieten, verführen zu lassen. Wir tendieren zu halluzinativen Begründungen unseres Elends. Wir lassen uns von den Medien in ihrem unendlichen Hunger nach Sensation, Übertreibung und Negativität an der Nase herumführen.
Verbunden ist das Ganze oft mit einer Haltung des Zynismus. Im Zynismus konstruieren wir unser Selbstbewusstsein durch die Abwertung anderer Menschen. Zynismus ist die Haltung, in der wir unsere innere Verwerfung, unsere Selbst-Abwertung, auf die Welt übertragen:
„In Zukunft wird sich überhaupt nichts ändern.”
„Die Welt wird immer schlechter.”
„Menschen sind unfähig, sich zu wandeln. Sie sind Idioten.”
„Wir sind doch alle zum Untergang verurteilt.”
Kennen Sie diesen sound?
Aber geht es auch andersherum. Wir können uns auch aus dem Sumpf unserer verpfuschten Pro-Gnosen ziehen.
„What we need now is the description of the »describer« or, in other words, we need a theory of the observer.”
Heinz von Foerster
Wie man sich mit seiner Zukunft verbindet
Stellen Sie sich vor, Sie wollen mit dem Rauchen aufhören. Oder Körpergewicht verlieren, mit dem sie unzufrieden sind. Wie kann das gelingen? Dass das höllenschwer ist, haben wir wohl alle schon einmal erfahren…
Am Beginn eines solchen Versuchs steht immer eine sorgenvolle Prognose. Sie sehen voraus: Wenn sie weiterrauchen, wird ihre Gesundheit irgendwann ein Riesenproblem bekommen. Wenn sie immer weiter zunehmen, fehlt ihnen bald die Körperfreude. Sie haben ein PROBLEM. Es »muss« sich deshalb etwas ändern!
Allerdings fangen die Schwierigkeiten jetzt erst an. Indem sie das PROBLEM markiert haben, fixiert sich ihr Hirn auf das, was FEHLEN wird. Auf den Verlust. Wenn Sie auf eine Party gehen, steht mit Ihnen selbst immer noch der PROBLEM-Troll im Raum, der Ihnen ständig sagt, dass Sie jetzt KEINE Zigarette rauchen dürfen! Auf keinen Fall!!! Sie denken also unaufhörlich an die Zigarette, die Sie gerade NICHT rauchen.
Und schon stecken Sie sich wieder eine an …
Problem
Problem
Problem!!!
Die Bekämpfung des »Schweinehundes«, oder des Trolls, macht diesen nur stärker. Ihre innere Fixierung auf das PROBLEM nagelt Sie in der Gegenwart – oder besser: in der Vergangenheit – fest. Denn dort sind Ihre Suchtgewohnheiten entstanden. Als Tröstungen und Belohnungen, als lustvolle Kompensationen, die durchaus ihren Sinn und Zweck für Sie hatten.
Sucht, so sollte man verstehen, kann man nur durch Genuss überwinden. Genuss ist die Freiheit des Sinnlichen.
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie könnten einfach in die Zukunft springen. Sie träfen dort auf eine Person, die Ihnen selbst ähnelt, aber mit dem Rauchen nichts am Hut hat. Für diese Person wäre das Rauchen völlig unwichtig, ihre Hirnstrukturen sprächen auf die Matrix »Zigarette«, oder »Doppelwhopper«, einfach null an. Ihre inneren Spannungen, die sie früher mit Zigaretten oder Essen lösten, haben sie durch andere Integrationen (oder Genüsse) zu lösen gelernt.
Stellen Sie sich jetzt vor, Sie könnten mit diesem neuen Selbst in Verbindung treten. Sich soweit in dieses zukünftige Ich hineinfühlen, dass Sie mit ihm sozusagen verschmelzen…
So funktioniert Re-Gnose.
So geschieht Wandel: Wenn wir uns selbst als ZUKÜNFTIGE begreifen – und uns auf diese Weise mit uns selbst verbünden.
Die Zukunft zurückgewinnen
Kehren wir also zur Re-Gnose-Übung aus dem Text „Die Zukunft nach Corona” zurück.
Setzen Sie sich im Herbst 2020 in ein Straßencafé in einer Stadt. Sagen wir in Venedig, auf dem Markusplatz.
Und beobachten Sie, ob sich die Welt verändert hat.
Welche Menschen gehen über den Platz? Wie sehen diese Menschen aus? Welche Körperhaltungen haben sie? Hören Sie das Geräusch der Rollkoffer?
Was haben sie erlebt, in den dunklen oder hellen Tagen von Corona?
Gibt es Tauben? Wo sind eigentlich all die Tauben hin?
Sehen Sie Flugzeugstreifen am Himmel?
Wie riecht die Luft, die vom Meer herüberweht (eine sanfte Oktoberbrise / ein steifer Wind, der das nächste acqua alta ankündigt, das herbstliche Hochwasser)?
Wie sieht der Kellner aus, der Sie gleich bedienen wird. Er trägt eine Maske. Wie sieht diese Maske aus?
Schauen Sie zurück auf sich selbst, wie Sie in Zeiten des LOCKDOWNS waren. Was haben Sie gefühlt, was haben Sie erlebt? Wie haben Sie sich in der Zeit seitdem verändert?
Liegt da draußen, am Pier bereits wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff mit schwarzen Rußspuren am Schornstein und 3.000 Passagieren, die sich jetzt gleich in die bellissima, die schöne Stadt, ergießen werden?
Eine Re-Gnose ist eine geistige Technik, in der wir uns selbst in die Zukunft versetzen. Und von dort aus zurückschauen. Dadurch wird der Spannungsbogen, der uns mit der Zukunft verbindet, rekonstruiert.
Die Re-Gnose ermöglicht eine Perspektive der Bewältigung, des Wandels. Wir betrachten die Welt »von vorn«, aus der Sicht dessen, der eine Krise überstanden hat. Damit verändern wir die Richtung unseres Fragens. Wir fragen nicht: Was könnte alles schiefgehen? (Damit liefern wir uns dem Problem-Troll aus und erzeugen eine falsche Pro-Gnose).
Sondern: Wie wäre es, wenn wir es hinbekommen hätten?
Wir fragen nicht mehr: Warum ist diese Zukunft unmöglich?
Sondern: Wie sind wir eigentlich hierhergekommen? Wie haben wir das geschafft?
Auf diese Weise verbinden wir uns wieder mit unserer inneren Zukunfts-Kompetenz. Unserem Future Mind.
Dadurch wird die Sicht frei auf die FREIsetzungen, die jede Krise mit sich bringt, wenn man sie annimmt, statt sie innerlich zu negieren.
Genau das haben viele Menschen in der Corona-Krise erlebt. Durch das zunächst äußerlich erzwungene Innehalten, das sie aber innerlich annahmen, haben sie etwas Neues in sich und ihrem Weltverhältnis entdeckt. Sie haben ihre Erwartungs-Routinen hinter sich gelassen und Selbst-Vertrauen entwickelt.
So wurden aus Einschränkungen neue Freiheiten.
Re-Gnose ist eine Bobachtung zweiter Ordnung; wir beobachten uns beim Beobachten selbst. Re-Gnose heißt »Wieder-Schöpfung«: Wir verwandeln uns selbst und erweitern unser Bewusstsein, indem wir die Welt aus einer neuen Perspektive betrachten.
Wir lernen, uns wieder zu WUNDERN. Wundern ist jener Prozess, in dem die Zukunft wieder lebendig wird, weil wir auf positive Weise ent-täuscht werden. Wir staunen, wenn wir die Welt in ihrer Ganzheit und Größe wahr-nehmen können. In ihrem Wesen als „verflochtene Welt” („Der Mönch und der Philosoph“, Matthieu Ricard).
In der Re-Gnose verstehen wir, dass das oberste Prinzip der Welt nicht der Untergang, der Verlust, das ENDE ist, sondern die EMERGENZ. Emergenz ist jene Eigenschaft von Systemen, die der Entropie entgegensteht. Jene spontane Formbildung, mit der sich alles immer wieder neu zusammensetzt. Das ist der Ursprung, die Botschaft des Lebens, deren Träger wir sind.
In der RE-Gnose erkennen wir, dass WIR SELBST es sind, die die Zukunft erzeugen. Wir streicheln die Katze, bis sie schnurrt. (Die Idee, dass wir »zu klein« dafür sind, ist nichts als eine Ausrede, eine Selbstabwertung, die uns immer wieder in die Opferhaltung, in die selbsterlernte Unmündigkeit bringt.)
Die Zukunft wird zum Wandel, der wir selber sind.
Früher haben mir die Gastgeber auf Zukunftskongressen oft eine billige Kristallkugel in die Hand gedrückt, wenn ich auf die Bühne ging. Ich habe mich dann immer ein wenig geärgert. Und geschämt. Heute bin ich damit im Reinen. Auf der Oberfläche einer gut polierten Kristallkugel sieht man immer nur sich selbst.
Gnothi Seauton stand über dem Eingangstor des Orakels von Delphi. Erkenne Dich selbst.
Vielleicht komme ich in Zukunft mit einer Kiste auf die Bühne. In der Kiste ist eine quietschlebendige Katze namens »Zukunft«. Diese Katze kann das Publikum aber nur sehen, wenn es in sich selbst hineinschaut. Sonst ist sie tot. Wäre das nicht schade?
At the end of all our exploring
Will be to arrive where we started
And know the place for the first time.
Von allen zivilisatorischen Übeln, die wir gerne durch die Corona-Krise überwunden hätten, ist eines am schnellsten zurückgekehrt: der Verschwörungswahn. Das war abzusehen. In der Corona-Zeit haben viele Menschen Erfahrungen innerer Öffnung gemacht. Ausgerechnet im Lockdown erlebten sie NEUES im Sinne einer Re-Gnose, einer Selbstschöpfung. Andere jedoch wurden in eine innere Krise gestürzt, an deren Rand sie sich schon lange befanden.
Inzwischen wissen wir eine Menge über die Psychologie der Verschwörungs-Theorien. Es sind im Grunde keine »Theorien«, sondern FÜHLmuster, bei denen es immer um eigene Daseinsberechtigung geht.
Menschen, die einem Verschwörungswahn anheimfallen, haben in ihrem Leben meistens starke Ohnmachtserfahrungen erlebt. Verletzungen, Entwürdigungen, Zurückweisungen oder existentielle Verluste. Dadurch sind sie zur Überzeugung gelangt, unwürdig zu sein. So haben sie den Kontakt zur Welt und zu sich selbst verloren. Wenn wir uns auf diese Weise verlustig gehen, versucht der MIND verzweifelt, Erklärungen zu finden, die diese Not auflösen. So werden aus Angst-Assoziationen KAUSALITÄTEN konstruiert, die das menschliche Gleichgewicht, die Homöostase, wiederherstellen können. Etwa durch die Konstruktion eines Bösewichtes, oder einer magischen Kraft, die den inneren Druck nach außen verlagert.
Ich kenne alle diese Effekte schon aus meiner Jugend in den 70er Jahren. Damals waren Verschwörungsphantasien viel verbreiteter als heute, allerdings nannte man sie nicht so. Es waren rebellische Weltbilder, »erhabene« Theorien, die dem Großen Ganzen, das uns verwirrte und ängstigte, eine Kontur gaben. Im studentischen Milieu Frankfurts, in dem ich als damals lebte, wimmelte es nur so von Menschen, die Schwierigkeiten hatten, sich selbst und ihr Leben zusammenzuhalten. Gleichzeitig war die Sehnsucht nach Erkenntnis und Selbsterweiterung gewaltig. Sektenangebote mit Verschwörungscharakter gab es an jeder Straßenecke: RAF, Baghwan, Marx in allen Varianten, Anarchie, Sri Chinmoy, Christliche Erweckung, psychedelische Drogen. Wöchentlich gingen Tausendschaften maoistischer oder trotzkistischer Sekten auf die Straße und die Anzahl individueller Paranoien war unfassbar hoch. Dahinter stand nicht zuletzt die innere Auseinandersetzung mit dem unfassbaren Zivilisationszusammenbruch, an dem unsere Eltern und Großeltern beteiligt waren. Weit verbreitet war die Vorstellung, dass uns ein »Schweinesystem« unterdrückte, eine internationale Weltverschwörung von »Imperialisten« und Kapitalisten. Viele dieser hermetischen Weltbilder haben sich bis heute gehalten; sie sitzen in jeder Talkshow.
Verschwörungsbilder schmeicheln dem angeschlagenen Ego durch Grandiosität. Wenn sich die ganze Welt gegen mich verschwört, dann werde ich großartig. Wenn derart raffiniert getarnte Kräfte mir nach Freiheit und Leben trachten, dann muss ich ungeheuer wichtig sein!
Verschwörungserzähler können ihre Angst nicht als Angst, ihre Scham nicht als Scham empfinden und artikulieren. Deshalb inszenieren sie ihre Gefühle als Wut und Größenwahn. Es sind oft selbstunsichere Männer, die um ihre virile Fassung ringen, die zu Wortführern von Wut-Ideologien werden. Attila Hildmann, der durchgedrehte Vegan-Koch, hat seine Fassung genau an jenem Punkt verloren, als er am höchsten Punkt seiner ungewöhnlichen Karriere angelangt war. Doch er konnte seinem eigenen Erfolg nicht vertrauen. Die Sidos, Naidoos, Gaulands und Trumps funktionieren nach dem gleichen Muster: Sie können im Grunde nicht an sich selbst glauben, und performen ihren Selbstzweifel zur ständigen Aggression.
Verschwörungs-Narrative sind auch attraktiv, weil sie eine besondere Variante des rebellischen Trotzes beinhalten: Elitäre Unverstandenheit. Je schriller der Aberglaube, desto fanatischer hält man daran fest. Das erklärt den seltsamen Sog-Effekt, den besonders skurrile Ideen ausüben. Im Trotz der Abweichung fühlen wir uns als etwas ganz Besonderes (www.vice.com). NUR WIR sehen ja, was die »Schlafschafe« der breiten Masse nicht sehen können, was die »Lügenpresse« leugnet! Das funktioniert für Djihadisten ebenso wie für 5-G-Coronagläubige, für Chemtrail-Fans wie für evangelistische Erwecker und völkische Fanatiker.
„Von bösen Mächten wunderbar geborgen” lautete neulich der treffende Titel eines Essays von Anselm Neft.
All das ist also durchaus mit den Erkenntnissen der Humanpsychologie zu ergründen. Aber warum machen uns Verschwörungsfreaks so eine Heidenangst, obwohl die meisten ihrer Ideen ja tatsächlich nur absonderlich sind? Sie werden irgendwie immer stärker, je mehr man sie bekämpft. Sie verhalten sich wie der monströse Grießbrei im Märchen der Brüder Grimm, der immer weiter aufkocht, je mehr man ihn zu stoppen versucht.
Ein Teil dieses Selbstverstärkungs-Phänomens hat mit der medialen Erregungsökonomie zu tun. Wer irgendeinen Unsinn erzählt, bekommt mit Sicherheit ein Kamerateam geschickt und wird besorgt über seine Befindlichkeit befragt. Früher ging man zu den Freaks in der Zirkus-Manege, heute klickt man sich durch Verschwörungsseiten im Internet.
Ich vermute aber, dass unsere Furcht auch noch andere Gründe hat. Wir fühlen uns womöglich den Verschwörungsfreaks nicht ganz so unähnlich, wie wir uns das vormachen. Hat nicht jeder von uns in seinem Leben schon Abwertungen erfahren, Zurückweisungen, Kränkungen? Und bauen wir uns daraus nicht unentwegt irgendwelche selbstschützenden »Weltanschauungen«, die aber in Wirklichkeit nur geronnene Gefühlslagen sind, ideologisierte Konstrukte? Womöglich sind auch wir zerbrechliche Seelen, die um sich herum einen Kokon errichten, der aus Fiktionen und erstarrten Ängsten besteht…
Zweitens machen uns Verschwörungsfreaks Angst, weil wir durch ihre unheimliche Energie einen Zusammenbruch der Zivilisation fürchten. Hat eine epidemische Besessenheit nicht schon einmal die ganze Welt verdorben? Entsprang der Zivilisationszusammenbruch des 20sten Jahrhunderts, der Nationalsozialismus, der Faschismus, nicht aus einer gigantischen Verschwörungstheorie, einem kollektiven Wahn, der nicht mehr zu stoppen war außer durch Krieg und Zerstörung? Und kommt das nicht alles früher oder später zurück?
Um mit dieser Paranoia vor der Paranoia umzugehen, schlage einen Akt der ANERKENNUNG vor. Das menschliche Hirn wurde von der Evolution nicht zur Findung von Wahrheit oder »Realität« geschaffen. „Wahrnehmung ist immer kontrollierte Halluzination!” sagen uns die Kognitionsforscher. (Andy Clark, Surfing Uncertainty, Prediction, Action and the embodied Mind. Oxford University Press 2016, P 14)
Wir tun uns leichter, wenn wir akzeptieren, dass Leben, Werden, Zukunft, immer auf Illusionen beruht. Als Menschen verbindet uns gerade diese Fähigkeit zur Illusion. In der Fachsprache nennt man das „symbolische Repräsentationen”. Wir Humanoiden haben diese merkwürdige Eigenschaft, dass wir durch gemeinsame Fiktionen eine Menge bewirken können.
Aber gerade WEIL das so ist, weil nichts hundertprozentig »wahr« oder »real« ist, sind unsere Konstruktionen von Wirklichkeit nicht beliebig. Sie sind kostbar, weil sie Schlüssel zur Zukunft sind. Sie können konstruktiv sein oder zerstörerisch. Aufbauend oder destruktiv. Sie können zu Verderben oder zu Kooperation führen. Zu Menschlichkeit oder Unmenschlichkeit.
Und DARAUF kommt es an.
Was wir jedoch OHNE jedes Wenn und Aber zurückweisen sollten, ist die Bösartigkeit, die aus der Verschwörungslogik entspringt. Also jenen Teil des Verschwörungswahns, der politisch manipulativ oder persönlich verletzend wird. An diesem Punkt brauchen wir eine konsequente Quarantäne-Strategie. Ich selbst antworte zum Beispiel nie auf Mails oder irgendwelche Messages, die mich beschimpfen, abwerten oder denunzieren. Ich schicke allenfalls eine Botschaft zurück: Das Künstliche Intelligenzsystem meines Computers hat diese Botschaft als emotional unkontrollierte FakeNews erkannt, bitte melden Sie sich bei Mark Zuckerberg. Die konsequente Verweigerung der Bösartigkeit verlangt schon die Selbstwürde. Und diese Quarantäne ist durchaus wirksam, wie man an der Entwicklung der AFD sehen kann. Wir sind nicht ohnmächtig.
Der Verschwörungs-Hass ist ein Reiz-Reaktions-Schema, das unterbrechbar ist wie eine Corona-Infektionskette.
Wie sinnvoll eine solche Differenzierung in Empathie und Abweisung ist, zeigt sich auch in den Zweier-Diskussionen, die die Zeitung DIE ZEIT seit Jahren zwischen Menschen veranstaltet, die sich als weltanschauliche Gegner empfinden. In der Begegnung ist die einzige Regel, dass man sich nicht beschimpft. Jeder darf glauben und formulieren, was er denkt. Wie sehnsüchtig Menschen, die sich mit Verschwörungen plagen, auf dieses Angebot eingehen, wie zart und konstruktiv diese Gespräche dann werden, zeigt worum es wirklich geht. Um gehört werden. Um als Person wahr-genommen zu werden.
Nein, die Verschwörungsfanatiker werden unsere Demokratie nicht zerstören, sie helfen uns vielmehr, die Immunsysteme zu stärken, die das Gesellschaftliche braucht, um zukunftsfähig zu bleiben. Der Rest ist eine Aufgabe für die Polizei und die Gerichte, denen ich im Großen und Ganzen vertraue.
Es gibt drei große Lebensirrtümer: Dass man so planen kann, dass das Leben endgültig sicher wird. Dass man lieben kann, ohne dass einem das Herz gebrochen wird. Und dass man sich selbst bleiben kann, ohne sich dauernd zu verändern.
David Whyte, Poet und Business-Coach
Vom Segen des Humors
Ist es nicht erstaunlich, wie viel in den Lockdown-Zeiten der Corona-Krise gelacht wurde? Dabei offenbarte sich auch, dass das, was in der Prä-Corona-Zeit als Humor galt, überwiegend Zynismus war.
Zynismus ist eine Verschwörung der Negativität zur eigenen Belustigung. Wahrer Humor hingegen ist die Fähigkeit, sich in unauflösbaren Paradoxien gemeinsam zu entspannen. Paradoxialität ist das Wesen des Lebens – Schatten und Licht, Leben und Tod, Krankheit und Gesundheit, Beschleunigung und Entschleunigung, Innen und Außen, Sicherheit und Risiko. Niemals werden wir all das vollständig zusammenbekommen, niemals können wir es wirklich auflösen. Denn dieses Spiel heißt LEBEN.
In der Corona-Krise sind wir alle mit interessanten Paradoxien konfrontiert worden: Distanzierte Nähe. Beschleunigte Verlangsamung. Sichere Unsicherheit. Autoritäre Demokratie. Im Lachen darüber erkennen wir unsere Fähigkeit, in verschiedenen Dimensionen und »Wahrheiten« gleichzeitig lebendig sein zu können.
Für Verschwörungsfanatiker kann Humor nicht funktionieren, weil es dort immer nur um Festlegungen und Eindeutigkeiten geht. Deshalb konnten sie wohl kaum über die Durchsage in einem ICE Mitte Mai lachen:
Und zum Schluss noch ein Hinweis für alle Verschwörungstheoretiker bei uns an Bord: Denken Sie daran, dass die Bundesregierung Speichelproben sammelt um Klone von ihnen zu produzieren, die sie dann ersetzen sollen. Behalten Sie also bitte ihre Gesichtsmaske auf!
Lachen löst den inneren Krampf, der uns am Leben, am inneren Wachstum hindert. Echter Humor verzeiht immer. Er ist nimmt nicht weg, sondern fügt etwas hinzu. Wie heißt das so schön? Wir lachen, weil dies unsere uralte Primaten-Methode ist, auf das Nachlassen animalischer Angst zu antworten.
Wie wäre es mit einem Witz zum Schluss?
Ein Mann, Risikopatient, Rotweintrinker, hat sich mit Corona infiziert. Er entschließt sich, lieber zu Hause in seiner geräumigen Altbauwohnung mit den vielen Büchern zu sterben, anstatt intubiert am Beatmungsgerät. In seiner letzten Agonie dringt plötzlich ein köstlicher, überirdischer Duft durch die Wohnung. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte kriecht der Mann in die Küche und zieht sich am Küchenblock hoch. ZIMTSCHNECKEN! Seine schwedische Frau hat Zimtschnecken gebacken, die er immer so gern mochte! Zitternd streckt er die Hände aus…
„SCHATZ!“, kommt es aus dem Nebenzimmer. „Die sind für die BEERDIGUNG!“. (Die Urform dieses Witzes stammt von Arthur Mc Carten aus einem wunderbaren TED-Video: On laughter | Anthony McCarten | TEDxMünchen)
Ist das lustig? Ist es unmoralisch? Das überlasse ich Ihnen. Ohne Humor, ohne die Kraft des Lachens, können wir der großen Weltverschwörung nichts entgegensetzen. Diese Weltverschwörung sitzt in uns drin. Es ist eine Verschwörung gegen uns selbst. Und gegen die Zukunft.
Womöglich sind Sie derzeit voll und ganz damit beschäftigt, zurück ins NORMAL zu gehen. Das ist mehr als verständlich. Es ist vollkommen verständlich, dass man will, dass alles so wird wie früher. Dass alles endlich wieder NORMAL wird, verdammt!
Aber geht das überhaupt?
Und was ist das überhaupt – NORMAL?
Beschreiben wir einmal die Welt vor Corona. Oft erkennt man man einen Ort ja erst dann, wenn man ihn verlassen hat und zurückschaut. Dasselbe gilt für eine bestimmte Zeit, eine Ära – wir verstehen sie manchmal nur rückwärts. Die Flugzeuge waren voll, übervoll. Man stand in langen Schlangen und war genervt. Im ICE telefonierten Leute laut und ignorant. Die Container fuhren über die Meere und brachten immer mehr neue Waren, Waren, Waren. Alles war voller Werbung, die unentwegt auf den Bildschirmen aufpoppte. Alle hatten Spaß, viel Spaß. Alles wurde immer schneller, billiger, aber auch nerviger. In den Firmen wurden ständig neue Absatzrekorde verkündet, neue Ziele gesetzt.
Auf Managementkongressen war die Siegespose das Normale.
Das heißt, nicht ganz. Im Januar, einen Monat vor dem Virus-Ausbruch, kam Greta Thunberg mit dem Zug nach Davos. Sie stand etwas verloren zwischen lauter Herren in Anzug und Schlips, die irgendwie schuldbewusst aussahen, und beteuerten, jetzt, demnächst, alles besser machen zu wollen. Immer größere Kreuzfahrtschiffe fuhren auf den Weltmeeren und legten – zum Beispiel – mitten in Venedig an. Dort am Kai saß ein unerkannter Straßenkünstler namens Banksy und verkaufte Gemälde von überfetten Kreuzfahrtschiffen an der Pier von Venedig. Einige kauften Bilder, weil sie dachten, es seinen Touristen-Bilder vom schönen Venedig.
Banksy, mit Hut getarnt, am Kai von Venedig. Oder ist es gar nicht Banksy? Wer ist Banksy überhaupt?
Das ALTE NORMAL war eine hektische Zeit. Eine Zeit der Ängste und rasenden Befürchtungen. Im Internet, und nicht nur dort, blühte der Hass, der Shitstorm und die Bösartigkeit. In den Talkshows wurde alles zerlegt, fragmentiert, polarisiert, polemisiert. In dieser Kultur der Bezichtigung ging es vor allem darum, das letzte Wort zu behalten.
Wir waren süchtig nach immer mehr Verwertungen. Auch von Ängsten und Befürchtungen. Nach Steigerungen. Nach unendlichem Spaß.
Aber gleichzeitig waren wir völlig verwirrt. Konfus. Orientierungslos.
Es war eine Normalität, die nicht an ihre Zukunft glaubte.
Die auf eine seltsame Weise in ihren eigenen Untergang verliebt war.
Und dann plötzlich: Stille. Am Flughafen. Im Bahnhof. In der Innenstadt. Im Stadion. An den Piers.
Mal ehrlich: Wollen Sie wirklich dorthin zurück? Ins ALTE NORMAL?
Von Wollen kann keine Rede sein, sagen Sie jetzt. Aber wo sollen wir den hin? Es muss ja weitergehen mit unserem gewohnten Leben. Die Wirtschaft. Der Wohlstand. Es muss alles wieder hochfahren. Ganz schnell. Ganz dringend. Sonst bricht tatsächlich alles zusammen.
Wirklich?
Wie wir die Welt konstruieren
Die meisten Menschen glauben, dass die Welt etwas Feststehendes ist, das wir von außen betrachten und bewerten können. Aber in Wahrheit findet die Welt in unserem Kopf statt. Unser Hirn ist so etwas wie eine Simulationsmaschine, in der ununterbrochen Wirklichkeiten konstruiert werden.
Unsere Wahr-Nehmung der Welt ist von Erwartungs-Routinen geprägt, die in uns wie eine ratternde Maschine laufen. Am laufenden Band schaffen wir uns Bilder, Konstruktionen, Ideolo-gien, die wir auf die Welt projizieren. Dadurch erscheint die kontrollierbar. Diese Konstrukte, die unsere Erwartungen repräsentieren, sind reine Fiktionen. Aber wir halten sie für real. Wir beharren auf ihnen, um jeden Preis. So lange, bis wir uns selbst mit ihnen verwechseln.
Im Grunde ist das eine Art Drogenabhängigkeit. Wenn wir unsere Erwartungen und Vorurteile bestätigt fühlen, erleben wir einen kleinen Euphorie-Kick. In unserem Hirn wird eine Dosis Glückshormon ausgeschüttet: Ich habe es doch gewusst! Dieses angenehme Gefühl hat die Evolution in uns eingebaut, damit wir uns mit den Zusammenhängen der Welt beschäftigen. Das dient zum besseren Überleben.
Viele unserer Vor-Urteile und Ansprüche darüber, wie die Welt zu sein hat, haben mit dem Reminescence Bump (Rückerinnerungs-Hügel) zu tun.
Damit bezeichnen die Kognitionspsychologen die intensive Formungsphase, in der sich unsere Vorstellung der Welt bilden, meistens in der Jugend. Das ist der „set point“ unserer Erwartungen an die Welt. Diese Auffassung, wie die Welt zu sein hat, tragen wir dann durch unser ganzes Leben.
Genau diese inneren Routinen sind es aber auch, die uns quälen. Sie machen uns fragil. Sie halten uns in einem Zustand ständiger Gereiztheit, ewiger Unzufriedenheit. Denn irgendwas kommt immer dazwischen. Die Welt funktioniert ja nie ganz, wie wir wollen. Wir werden immer nervöser, wenn die Welt nicht mit unseren Erwartungen zusammenpasst. Wir finden dann irgendwann sogar das Schlechte gut – weil wir uns dadurch bestätigt fühlen (der kleine Kick). Oder wir starren nur noch auf das Schlechte und fühlen uns dadurch in unseren Ängsten und Verletztheiten bestätigt. Das ist die Negativity Bias, die Negativ-Verzerrung. Wir neigen dann zur Häme. Zur Abwertung der Welt, auch unserer inneren Welt.
Unsere größte Sorge gilt dabei der Frage, ob wir genug Bedeutung haben. Für Bedeutung tun wir alles. Deshalb stellen wir uns ins Internet und gieren nach „likes“. Wir schütten unsere Mitmenschen mit unseren Meinungen, Ängsten und Aggressionen zu. Oder posieren mit unseren Smartphones am den „besten Plätzen der Welt“, um uns zu vergewissern, dass wir „da“ sind.
Wir sind aber gar nicht dort, nicht wirklich.
Auch Verschwörungstheorien haben mit dieser Selbstvergewisserung zu tun. Verschwörungsfreunde fühlen sich ja sehr mutig und äußerst bedeutsam. Sie sind ja ganz anders als alle anderen, als der blöde mainstream! Das weist aber darauf hin, dass sie sich in Wahrheit völlig verunsichert fühlen.
Man kann das besonders gut an Donald Trump beobachten. Aber bisweilen auch an sich selbst.
In der Krise ist diese ständig ratternde Anspruchs- und Erwartungsmaschine plötzlich zu einem knirschenden Halt gekommen. Sie wurde plötzlich sinnlos. Viele von uns haben in dieser Zeit eine Art innere Inventur gemacht. Wer die Krise derart zu nutzen wusste, der lernte seine inneren Gespenster und Dämonen ein bisschen besser kennen. Er trat sozusagen mit ihnen in Verhandlung. Er geriet in den Wandel.
Damit segelte er/sie der alten Welt, der Prä-Corona-Welt, davon. Wo aber segeln wir hin?
Über das Neue Normal, das jetzt entsteht, gibt es zwei verschiedene Anschauungen. Die eine geht davon aus, dass tatsächlich etwas Neues beginnt. Wir können vielleicht noch nicht genau wissen, was das genau ist. Aber es deutet sich etwas an, das der Zukunft eine andere Richtung gibt.
Die gegenteilige Denkweise wird von denjenigen vertreten, die immer schon alles gewusst haben. Durch die Krise wird sich nicht das Geringste verändern. Menschen, Gesellschaften, sind unfähig, sich zu verändern. Alles geht demnächst weiter den Bach herunter, nur schneller.
Es ist allerdings schlechterdings unmöglich, dass alles so bleibt, wie es war. Menschen, Gesellschaften, Kulturen, wandeln sich ja andauernd, sonst wären wir gar nicht hier. Das ist das evolutionäre Prinzip.
Besteht unser eigenes Leben nicht aus einer wahren Aneinanderreihung von Krisen? Geburt, Kindheit, Pubertät, Berufsleben, Familie, Reifung. Alter – sind das nicht alles krisenhafte Ereignisse, Übergänge, Transformationen, die immer mit Schmerz und Verlust verbunden sind, wenn sie gelingen sollen ? Und machen wir nicht immer die Erfahrung, dass Liebeskrisen, Berufskrisen, Orientierungskrisen dann zu einer neuen Richtung führen, wenn wir sie annehmen?
Wenn wir IN UNS Antworten finden, statt dauernd nur Ansprüche und Forderungen und alte Normalitäten zu formulieren?
Manchmal können auch ferne Katastrophen den Gang der Geschichte verändern. Das schreckliche Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755, bei dem 60.000 Menschen ums Leben kamen, führte zu einem Schub für die Aufklärung in Europa, der weit in die Zukunft reichte. Damals schrieb Voltaire sein Manifest für den Sinn des Verstandes, Architekturen, Denkweisen, Mentalitäten veränderten sich; es begann eine Ära des Aufbruchs aus den Unmündigkeiten.
In der Weltwirtschaftskrise von 1928, die inzwischen häufig als Vergleich für die COVID-Krise angeführt wird, entstand in Amerika ein neuer gesellschaftlicher Kontrakt. Im NEW DEAL wurden die Balancen zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik neu bestimmt. Daraus sollte schließlich Wohlstands- und Fortschritts-Modell entstehen, dass sich mehr als ein halbes Jahrhundert als äußerst erfolgreich erwies. Natürlich hatte auch dieses Modell des „Westens“, seine Schattenseiten, seine Rückfälle. Aber es erzeugte Zukunft, es veränderte die Welt.
Ist es wirklich so völlig ausgeschlossen, dass die COVID-Krise den kommenden GREEN DEAL beschleunigt? Ich halte das für sehr wahrscheinlich. Gerade die Wirtschaft braucht im Corona-Zeitalter eine neue Legitimität. Eine neue Narration, die sie wieder mit den Kunden, den Gesellschaften, den Märkten der Zukunft verbindet.
Die Welt von morgen wird aus den Fragmenten der Vergangenheit gemacht.
Erich Panofsky
Diese Krise wird die globalen Machtverhältnisse verändern. Sie enthüllt, welche gesellschaftlichen Systeme Krisen gewachsen sind, und welche nicht. Die kleinen Länder, oft von Frauen (oder integrativ agierenden Politikern) geführt – Neuseeland mit Jacinda Ardern, Dänemark, Portugal, Irland, Island, Finnland, Österreich, auch Schweden mit seinem kooperativen Sonderweg – kommen nicht nur besser durch die Krise, sie gewinnen darin auch neue Formen gesellschaftlichen Vertrauens. In anderen Ländern, den USA, Brasilien, Russland, wird die die Gespaltenheit, die innere Kaputtheit, umso sichtbarer. Hier erleben die Menschen die Seuche als Demütigung, als Niederlage. Das führt in die Finsternis, in einen Katharsis-Prozess, der irgendwann Platz für eine Renaissance machen wird.
Die Grenzen der Dekadenz
Was sich im NEUEN NORMAL dauerhaft verändern könnte, ist auch unser Verhältnis zum Spaß, der nicht mehr spaßig ist.
Wir erinnern uns: Der Virus tanzte mit auf den Tischen, als in Ischgl die After-Ski-Partys ihrem Höhepunkt zustrebten. Das Champions-League-Fussballspiel Atalanta-Valencia am 19. Februar, mit 44.000 frenetischen Zuschauern, verteilte das Virus über ganz Südeuropa. Jetzt wurde sogar das OKTOBERFEST abgesagt! Das Oktoberfest! Symbol für die Spaßgesellschaft, für die Rituale des Rausches und der Lebensfreude!
Mein Freund Michael Lehofer setzt sich in seinem neuen Essay „Die unheimliche Erleichterung” (ganzer Text auf www.diezukunftsnachcorona.com) mit den Grenzen des Spaßes auseinander:
„Zusätzlich erleben viele von uns insgeheim in der Krise eine fast beschämende Erleichterung, eine Befreiung von vielem, nicht zuletzt von einem Teil von sich selbst. Es ist wie ein verbotenes Glück im Unglück. Dieser Teil, den wir abwerfen dürfen, ist die Dekadenz. Die Dekadenz ist ein Zustand, der durch die Überfeinerung von Lebensgewohnheiten und Ansprüchen definiert ist. Kurz gesagt: Wir haben uns durch die Selbstverwöhnung geschwächt und wissen nicht mehr, wofür wir stehen und was wir wirklich brauchen. Wir alle versuchen ein schönes Leben zu führen. Deshalb optimieren wir den Genuss und zerstören ihn damit. Das kann man einfach selbst erfahren, wenn man genusssüchtigen Menschen zuhört, die über ihre vermeintlich tollen Erlebnisse berichten. Es sind Berichte, die sich nicht lebendig anfühlen, als ob sie nur darüber gelesen hätten. Das Blutleere in diesen Erzählungen erklärt sich durch die Vorstellung vom Schönen, die sich vor das unmittelbare Erleben gestellt hat. Was wir nicht erleben können, macht uns nicht satt. So erklärt sich die Unersättlichkeit des Dekadenten.”
Natürlich werden auch im Neuen Normal wieder Partys gefeiert. Es werden wieder Flieger nach Mallorca fliegen, Fußballspiele stattfinden, Kreuzfahrtschiffe fahren. Aber wie werden diese Kreuzfahrtschiffe aussehen? Werden wir uns wirklich wieder in vollgestopfte Billigflieger für 25 Euro das Ticket setzen? Wird der Fußball immer weiter in Richtung auf irrwitzig teure Glamour-Stars und Stadion-Randale gehen?
All das hatte schon im Alten Normal seine Grenzen erreicht. Die Kreuzfahrtbranche bereitet sich derzeit, wie die Luftfahrtindustrie (und langsam auch die Autoindustrie und der Fußballsport und viele andere Branchen) , auf einen völlig anderen Zukunftsmarkt vor. Viele Boom-Märkte, so wissen heute längst die klugen Manager, werden in Zukunft dauerhaft kleiner sein, volatiler, gebremster. Und ja doch: Auch grüner, nachhaltiger, vorsichtiger.
Der ECONOMIST, das wichtigste Wirtschaftsmagazin der Welt, nennt das die 90-Prozent-Ökonomie. Nie mehr, so die These, wird die Weltwirtschaft ihre Vor-Corona-Überhitzung erreichen. Zehn Prozent mindestens werden immer fehlen. Turbokapitalismus ohne diese entscheidenden zehn Prozent ist jedoch keiner mehr. Das bedeutet nichts anderes als die Entschleunigung der Globalisierung.
Das heißt nicht das Ende des Wachstums. Es heißt nur das Ende DIESES Wachstums. Des ver-alteten Wachstums.
Die No-kalypse
Ohne Zweifel hat diese Krise viel Leid mit sich gebracht, quälende Unsicherheiten, ökonomische Not. Das lässt sich nicht kleinreden, und es ist noch nicht vorbei. Aber gleichzeitig ermöglicht sie uns einen Blick auf das ANDERE. Sie macht die Dinge der Zukunft klarer, transparenter. Wäre es nicht schön, wenn wir daraus etwas machen?
Was im NEUEN NORMAL anders sein könnte, wäre zum Beispiel das Empfinden von Dankbarkeit. Dankbar können wir sein gegenüber denen, die die Zivilisation am Laufen hielten. Und dafür sorgten, dass es eben keine Apokalypse wurde, sondern (wie mein Sohn Tristan das getauft hat) eine NO-Kalypse. Die Welt ging „unter“, aber vieles funktionierte erstaunlicherweise sogar besser als vorher.
Dankbar sollten wir sein, dass wir eine Krise erleb(t)en, die sich von den furchtbaren Katastrophen, die unsere Vorfahren erlebten, erheblich unterscheidet. Als unsere Großeltern vor 75 Jahren aus den Trümmern des Zweiten Weltkriegs krochen, war es kaum denkbar, dass jemals eine friedliche, wohlständige Zeit anbrechen könnte.
Wer dankbar ist, stellt nicht immer sein Ego, seine Erwartungen, Meinungen und Ansprüche in den Mittelpunkt. Er schaut, was ist. Und was daraus werden kann mit seinem Zutun.
Im NEUEN NORMAL würden wir uns nicht mehr einreden lassen, dass es nur EIN einziges ökonomischen Zukunftsmodell gäbe, das Standard-Wachstums-Modell der Ökonomie. Wir würden etwa den neuen Wohlstands-Index von Island zum Maßstab nehmen, der auch die qualitativen Dimensionen von Prosperität misst – Umwelt, Gesundheit, Verbundenheit, Lebensqualität, Selbsterleben.
Wir könnten gelassener werden. Wir könnten uns entscheiden, nicht mehr jeder medial aufgeblasenen Hysterie, jeder galoppierenden Angst hinterherzurennen.
Wir könnten freundlicher werden. Denen gegenüber, mit denen wir verbunden sind. Aber auch mit denen, die wir erst kennenlernen.
Wir könnten verantwortlicher werden. Für uns selbst, für unser eigenes Denken, unsere Gefühle.
Denken lernen meint, dass wir zumindest etwas Kontrolle über das WIE und WAS unseres Denkens erlernen. Es meint, bewusst genug zu sein, um zu entscheiden, wohin wir unsere Aufmerksamkeit richten. Und zu verstehen, wie wir Sinn aus Erfahrungen generieren.
David Foster Wallace
Das interessante am NEUEN NORMAL ist ja, dass es mit den Kriterien der Vergangenheit nicht mehr zu verstehen ist.
Das sollten wir bedenken, wenn wir uns vorsichtig ins NORMAL zurücktasten. Die Zukunft beginnt, wenn wir anfangen, uns zu WUNDERN. Und damit aufhören, die Zukunft zu verhindern, indem wir nicht an sie glauben.
Begeben wir uns zum Schluss noch einmal auf den Zukunfts-Stuhl auf dem wir uns sozusagen selbst voraussagen. Es ist Ende Oktober 2020. Sie sitzen in einem Straßencafé in Venedig, auf dem Markusplatz. Bald wird es hier wieder acqua alta geben, das Herbst-Hochwasser.
Wie hoch wird es dieses Jahr?
Was ist anders geworden – womöglich für immer?
Gehen Menschen über den Platz? Tragen sie alle Masken?
Hören Sie das typische Klackern der Rollkoffer?
Sehen Sie den Kellner? Ein cooler italienischer Typ, Mitte 50. Trägt er eine Maske? Ja, eine Maske in den italienischen Farben.
Gibt es Tauben? Wo sind eigentlich all die Tauben hin?
Was hat dieser Platz alles schon gesehen? Kaufmannsaufzüge und Gauklerzüge, Pomp und Kommerz, Aufstände, Reformen, Revolutionen. Und immer wieder Epidemien. Seuchen haben Venedig in jedem Jahrhundert verändert. Auf diese Weise, durch den Wandel in Krisen, ist die unvergleichliche Schönheit dieser Stadt erst entstanden.
Von hier aus reicht alles in die tiefe Vergangenheit, und in die weite Zukunft.
Gibt es Flugzeugstreifen am Himmel?
Liegt da draußen am Kai schon wieder ein riesiges Kreuzfahrtschiff, mit 3500 Passagieren und diesem typischen Rußspuren am Schornstein?
Spüren Sie, wie die Welt sich neu zusammensetzt. Sie setzt sich immer neu zusammen, darauf können wir vertrauen.
Schauen Sie zurück, auf sich selbst, wie sie in der Lockdown-Zeit waren. Blicken Sie dann nach vorne, in eine Welt, die einen anderen Ton anschlägt, eine andere Melodie spielt. Können sie sich dort vergegenwärtigen?
Re-Gnose bedeutet, dass wir verstehen, dass wir selbst Teil der Zukunft sind. WIR sind der Wandel, den wir von der Welt erhoffen.
Wenn SIE selbst neu werden, wird die Welt neu.
Sie sehen dann, dass die Zukunft längst da ist.
So geht Wandel, nicht anders.
Vielleicht haben wir alle zu viele Netflix- und Hollywood-Untergangsfilme geschaut. Radikaler Wandel wird immer durch Zombies visualisiert, durch brennende Städte und riesige Fluten, die alle Hochhäuser zerstören. Wieso auch immer, aber wir lieben diese fantastischen Apokalypsen, in denen die Welt, wie wir sie kennen, krachend zugrunde geht.
In der ursprünglichen griechischen Bedeutung liegt das Wort »Apokalypse« näher an »Offenbarung« oder »Enthüllung«, weniger an der totalen Zerstörung, die wir damit assoziieren. Wir erwarten, dass die einzige Chance unsere über-beschleunigte Welt zu bremsen, in einem totalen System-Kollaps besteht. In diesem Sinne ist Covid-19 vielleicht nicht ganz die Krise, die wir erwarteten, aber vielleicht die, die wir dringend brauchten. Die Corona-Krise zeigt uns Risse und Spannungslinien in unseren Systemen auf, sie enthüllt Schwächen oder Disparitäten, an die wir uns gewöhnt hatten, und die wir für unveränderlich hielten. Sie zeigt uns all das fast ganz ohne Gewalt oder totalen Zusammenbruch: auf eine stille, fast bescheidene Art. Eine Art Un-Apokalypse eben.
Wie uns die zyklische Natur der Geschichte zeigt, sind wir verdammt sie zu wiederholen, wenn wir nicht aus ihr lernen. Sie wiederholt sich zwar nie exakt, spielt aber doch eine ähnliche Melodie. Wir sind derzeit am Beginn des Endes des Generations-Zyklus der Baby-Boomer. Generations-Zyklen beginnen mit massiven, weltverändernden Krisen. Ein paar Beispiele: die große Depression in Amerika, der Zweite Weltkrieg, die amerikanische oder französische Revolution. Und, wenn wir es nicht besser machen, die Millennium-Krise. Die Zyklen folgen dann den vier Jahreszeiten, wie in der Natur, und definieren dabei den jeweiligen Zeitgeist – um zum Schluss in der nächsten großen Kalamität zu enden.
Folgen wir also den Jahreszeiten der nun dominanten, bereits zum MEME gewordenen BABY BOOMER (geboren 1946 – 1965).
Euer Frühling war der Wiederaufbau nach der totalen Zerstörung der Weltkriege. Neue globale Strukturen wurden errichtet, um die Rückkehr der Kriege, und die Zerstörungen, die sie mit sich brachten, zu verhindern. Die Welt lag euch zu Füßen – wenn auch etwas ramponiert.
Euer Sommer war die Hippie-Bewegung – die Rebellion! Wie es in dieser Jahreszeit typisch ist, waren die Nach-Krisen-Organisationen zu rigide und autoritär, die Sehnsucht nach Freiheit, Gleichheit und Individualisierung brach sich Bahn. Freie Liebe, keine Kriege mehr, mehr Sex, rettet den Planeten! Wunderbar.
Euer Herbst war weniger rosig. Die Kulturkriege nach Vietnam ließen die erkämpften Ideale verblassen. Als die Blätter fielen, triumphierte Individualismus über die Gemeinschaft, die Gesellschaft änderte sich. Aber diese Veränderungen konnten sich nicht bewähren. Pluralismus und Heterogenität führten zu wachsendem Chaos.
Euer Winter ist der Winter aller. Die Ökonomie war überladen und überlastet mit sturem Individualismus, der zu einem Machiavellihaften Egoismus an der Spitze der Pyramide führte. Neuigkeiten wurden ersetzt durch Echokammern, sogar die persönliche Kommunikation wurde mehr und mehr polarisiert und digital zerfasert.
Die Generation Z, rund um die Jahrtausendwende geboren, hatte ebenfalls keine gute Zeit. Verdrossenheit gegenüber einem System, das viel zu egozentrisch geworden war, wurde »Faulheit am Arbeitsmarkt« genannt. Digitale Affinität mit Sucht gleichgesetzt. Versuche die Welt zu verändern als naiv gewertet. Allerdings waren die Krisen, die die Millennials erlebten, wesentlich abstrakter als die Zerstörungen des 20. Jahrhunderts. Es wurde akzeptiert, dass eine inflationäre Ökonomie alle zehn Jahre einen massiven Crash hinlegt. Die Jungen wurden Zeugen mindestens zwei solcher Krisen, die weit entfernt in den Elfenbeintürmen der New Yorker Börse begannen, uns aber nie so direkt betrafen wie die heutige Un-Apokalypse.
Nehmen wir einmal an, die Corona Krise ist der Beginn des nächsten Generations-Zyklus. Diese Krise verändert uns alle auf einer persönlichen, greifbaren Ebene. Generation Z war die letzte Generation vor dem »Großen Reset« – OK für mich, wir waren ja sowieso am Ende des XYZ-Alphabets angekommen. Die vier Jahreszeiten der nun beginnenden GENERATION CORONA werden nicht dieselben sein, aber es erklingen wieder bekannte Melodien.
Ihr Frühling galt der Reparatur des globalökonomischen Systems, aber hoffentlich nicht in derselben überbeschleunigten Weise. Ein Zusammenbruch alle paar Jahre war einfach nicht mehr ertragbar. Es gab einen instinktiven Rückzug in den Nationalstaat, um mehr Kontrolle über die eigenen sozioökonomischen Systeme zu erlangen. Hände schütteln wurde plötzlich seltener.
Ihr Sommer war konsequenterweise eine Rebellion gegen die starre re-nationalisierte Weltordnung. Die nächste Krise würde in ihrer Natur global sein und mit voller Wucht kommen. Sie wieder-verbanden die Welt, diesmal mit realen Sozial-digitalen Strukturen. Keine Echokammern mehr, keine Fake News.
Ihr Herbst ist heißer als erwartet. Während sie die Welt wieder zusammenführten und versuchten, sich selbst zu finden, vergaßen sie, die Institutionen zu adaptieren. Klingt bekannt? Die Jugend des Jahres 2050 rief von den Dächern herunter, aber die Generation C war zu sehr beschäftigt mit ihrem eigenen Leben. Plötzlich stand die globale Krise, die sie im Sommer vorausgesehen hatte, direkt vor der Tür.
William Gibson, der geniale Boomer-Sci-Fi-Autor, der auch den Begriff »Cyberspace„« erfand, nannte diese akkumulierte Krise, die nun folgte, den JACKPOT. Alle Krisen und Katastrophen aufeinandergetürmt. Big, big mess, bigger than Corona.
Ihr Winter hat wenig Schnee, aber einer Rezession folgte der Dritte Weltkrieg – dieses Mal fast ausschließlich im Cyberspace. Mit Klimaflüchtlingen überall quälte die Furcht vor einer globalen Pandemie erneut die Menschheit. Die stärksten Nationen taten sich zusammen, um es ihren Bürgern zu ermöglichen, die Erde zu verlassen. Mars First, dann der Asteroidengürtel, schauen, was am Jupiter noch geht, und weiter hinaus ins Sonnensystem. Das Space-Age hatte endlich begonnen, mal sehen, wer zuerst da ist. Elon Musk, lebensverlängert, wird uns sicherlich helfen.
Dieses Szenario ist natürlich lediglich ein mentales Experiment zur Selbsterkenntnis. Eine Re-Gnose eben. Es folgt dem zyklischen Modell von Strauss-Howe und M. Hopf, der die wiederkehrenden Muster der Geschichte so beschrieb: Harte Zeiten erzeugen starke Männer. Starke Männer erzeugen gute Zeiten. Gute Zeiten erzeugen schwache Männer. Und schwache Männer erzeugen harte Zeiten.
Aber die Covid-Krise ist nicht eine der „wirklich harten Zeiten”, wie sie die Menschheit immer wieder durchlaufen hat, dafür ist sie eben zu Un-apokalyptisch. Zum Glück sind es nicht mehr nur die Männer, die die Zukunft heutzutage definieren. Was Frauen schon lange können, schätzen wir nun auch, wir wenden es sogar an: Zwischenmenschlichkeit. Wenn es etwas gibt, was mir an der jungen Generation auffällt, ist es, dass der massive Zugang zu Kommunikation, Information und Wissen sie zum Besseren verändert hat. Auch, wenn sie von ökonomischen Krisen und Ungerechtigkeiten gebeutelt wird, tendieren die sozialen Werte der Jungen zu Toleranz und Diversität. Sie verstehen sogar (meistens), dass unsere Unterschiede uns resilient machen.
Wir sind alle Teil der Generation Corona. Ihr Boomer, wir Jungen, die vergessene Generation X und die neuen Kids nach der Krise. Alle. Schon vor der Krise konnte man Menschen kaum anhand von Alter definieren, sondern durch Werte und Lebensstile. Wir brauchen keine komplette Zerstörung, um unsere Richtung zu verändern – eine bescheidene Un-Apocalypse reicht schon aus. Wie wenn die Aliens endlich angreifen – ein simpler Virus kann denselben Komplexierungs-Job übernehmen.
Wenn wir zurück ins 20. Jahrhundert blicken, dann haben wir uns weitgehend von Rassismus und Sexismus befreit. Nahezu auch von Kulturalismus, und wir werden hoffentlich auch den Generationalismus überwinden – die vorletzte Bastion der sozialen Spaltungen außer Arm und Reich. In dieser Hinsicht könnte die gegenwärtige Un-Apokalypse als ein Segen in Verkleidung erscheinen. Die humane Evolution wurde immer durch die Überwindung scheinbar unveränderbarer Verhaltensmuster vorangetrieben. Wir werden das Mühlrad der Geschichte zusammen beenden. Oder zumindest die verschiedenen Melodien der Generationen zu einer Symphonie vereinen.
„Wo nehmen Sie eigentlich Ihren Optimismus her, Herr Horx?”
„Sie sind ja ein Optimist, was sagen Sie eigentlich dazu, dass …??? (es folgt eine schreckliche Meldung aus den Medien)”
„Wenn Menschen leiden und Angst haben – wie kann man dann etwas positiv finden? – Das ist ja geradezu »privilegiert«!”
„Wieso kommen Sie eigentlich darauf, dass sich nach dieser Krise irgendetwas ändert? Die Menschen sind egoistisch, und sie werden jetzt NOCH egoistischer, und nach ein paar Monaten werden alle Leute wieder gierig dem Turbokapitalismus hinterherlaufen!”
So geht es derzeit in meiner Mailbox zu. Neben unfassbar vielen berührten und berührenden Zuschriften, für die ich zutiefst dankbar bin, hat der Text „Die Welt nach Corona” auch etwas anderes auf den Plan gerufen. Diejenigen, die nicht an die Zukunft, eine bessere Zukunft, glauben können, setzen sich in Position.
Optimismus ist dabei zu einem regelrechten moralischen Vorwurf geworden. Ich möchte erwidern: Es hilft den Menschen die leiden, und denen unsere volle Empathie gilt, nicht im Geringsten, wenn wir alle nur finster mitleiden. Es würde vielmehr helfen, Mut zu machen. Das wäre konstruktiv.
Aber welche Haltungen helfen uns dabei, jenen Wandel herzustellen, der jetzt nötig ist? Mit welchem Weltbild kommen wir besser in die Zukunft? Optimismus oder Pessimismus?
Warum ich kein Optimist bin
Zunächst finde ich reinen Optimismus ziemlich langweilig. Wir alle kennen diese geleckten Typen, die immerzu positiv sind, einem auf die Schulter schlagen und immer alles KLASSE finden. Mit Voll-Optimisten kann man nur schwer in menschlichen Kontakt kommen. Denn mit dieser Haltung ist eine gewisse Ignoranz verbunden. Man ignoriert das Negative, das Dunkle, das es im Leben, in der Gesellschaft, der Welt ja ohne Zweifel gibt, zugunsten einer narzisstischen Fröhlichkeit. Das erzeugt eine Oberflächlichkeit, eine Untiefe, die auf Dauer unerträglich ist. Und immer schiefgeht.
Auch auf der Brücke der COSTA CONCORDIA am 13. Januar 2012 vor der Insel Giorgio im Mittelmeer herrschte der pure Optimismus – beim Umtrunk des Kapitäns Francesco Schettino stieß man auf das Glück und die Liebe an. Kurz bevor das Schiff auf ein Riff lief….
Viele Unternehmen der Alten Ökonomie sind schon länger in eine innere Krise geraten, weil sie einem linearen Optimismus folgen, der das alte Geschäftsmodell immer weiter in die Zukunft trieb. Am liebsten in exponentieller Kurve. Die Devise des „immer mehr, immer schneller” führte zunächst in lauter Desaster – Abgaskrise, Boeing-Abstürze – die aber irgendwie noch verkraftet werden konnten. Jedenfalls mangelte es der Autoindustrie, der Flugzeugindustrie, eigentlich ALLEN Industrien, nicht an Optimismus, im Gegenteil. Auf jeder Business-Veranstaltung, an der ich bis zur Corona-Krise teilnahm, wurden immer sagenhafte kommende Erfolge gefeiert.
Aber irgendwie war das ein Pfeifen im Wald.
In der Corona Krise war Optimismus auch nicht gerade ein gutes Rezept. In den Ski-Bars von Ischgl feierte man fröhlich-optimistisch in den Morgen, während die Virologen in den Fernsehstudios schon die kommende Wahrheit aussprachen. Hier hatte Angst ihr Gutes, sie tat ihren Job: Uns wachzumachen für einen dringend nötigen, wenn auch schmerzhaften Verhaltens-Wandel.
Was können wir daraus lernen? Optimismus hat seine Tücken. Als konstruktive Zukunftshaltung eignet er sich wenig, weil er immer an der Oberfläche verläuft. Er ist nicht ehrlich. Pessimismus hingegen kann in ganz bestimmten Situationen sehr hilfreich sein. Wenn er aber zum Prinzip des Lebens gerinnt, wirkt er fatal.
Wie aber mit den Pessimisten? Der Pessimist argumentiert ja, dass er nur auf Gefahren hinweist. Ich glaube allerdings, dass das ein Trick ist. In Wirklichkeit zielt er eher auf unsere Ängste – und verstärkt sie, durchaus in eigenem Interesse. Er möchte mit seiner Angst, die er in ein Weltbild steckt, nicht alleine bleiben. So verstärkt der Pessimismus das Problem, das er beschreibt. Mit der Aussage, dass alles nur schlecht ausgehen kann, macht man sich ja auf gewisse Weise unangreifbar. Man ist Mahner, Warner, und dadurch in einer Superposition. Gleichzeitig aber baut man eine riesengroße Barrikade gegen das auf, was helfen könnte: den Wandel.
Diese Logik der verstärkten Ängste macht den Pessimisten sehr beliebt. Und selbstsicher. Er muss sich um Aufmerksamkeit nicht bemühen. Alle, die Angst haben, sind vom Pessimisten fasziniert. Kamerascheinwerfer richten sich auf ihn, wenn er die Bühne betritt, und mit finster Stimme das Ende des Volkes/ die ständig wachsende Kriminalität/ den Zerfall Europas oder welche Katastrophe gerade unabweislich ist, beklagt. Das ist das populistische Prinzip: Man führt die Menschen an ihrer Angst an der Nase herum.
Seit der Vershitstormung der Welt hat der Pessimist noch eine andere Gestalt angenommen: Die des Trolls. Der Troll, bekannt aus den Hasstiefen des Internet, kombiniert sein inneres Elend mit der Aggression und saugt daraus den Honig der Zerstörung. Der Zerstörung von Debatten, von Gedanken, von Diskursen. Von Hoffnung und Zukunft.
Ich werde auch viel gefragt, „was ich denen sagen möchte, die ANGST haben”.
Auf diese Frage gibt es keine sinnvolle Antwort. Es ist ja so, dass man sich im Zustand der Angst nichts sagen lassen kann. Angst ist ein uns von der Evolution mitgegebener Reflex, eine Mobilisierung, die uns zum Kämpfen oder Fliehen befähigen soll. Wenn der Säbelzahntiger kommt, kann man keine Debatten führen und Argumente abwägen. Angst kennt kein »Aber«, Optimismus ist hier völlig unangebracht. Dann regiert das Adrenalin im Hirn und im Körper. Angst kann man vielleicht trösten, aber nicht widerlegen.
Aber sie geht auch vorbei, meistens jedenfalls.
Angst geht vorüber, und dann machen wir eine verblüffende Erfahrung: wir erleben eine Selbstverwandlung. Das ist nach jeder überstandenen Krankheit so, nach Trauerprozessen, nach Veränderungen, die uns forderten. Jeder hat das schon einmal erlebt, wenn er aus einer Krise herauskam und plötzlich „die Welt mit neuen Augen sah”.
Genau das macht die Corona-Krise mit uns. Die erstaunlichste Erfahrung dieser Krise ist doch, dass man die Angst überwinden kann, indem man sie zulässt. Dass wir auf der anderen Seite der Angst plötzlich wieder herauskommen können.
Wir wundern uns dann, dass wir immer noch da sind.
Und plötzlich wirkt die Welt wieder frisch.
Und fordert uns heraus.
(siehe dazu das Werk des Moralphilosophen Zygmunt Baumann, der sich immer wieder die Frage stellte „Wie wird die Welt wieder frisch?“”
Mein Vorschlag: Zuversicht
Zuversicht ist eine Haltung, die uns näher zum Handeln und Verändern bringt. Zuversicht hat etwas Zupackendes, und gleichzeitig nach der Zukunft Fragendes. Sie fragt: Was kann ich, was sind meine Kompetenzen? Was kann ich be-wirken? Was ändert sich, und wie kann ich darauf selbst eingehen?
In der Zuversicht finden wir das Prinzip der Re-Gnose wieder. Zu-ver-sicht – darin steckt bereits das Hin-Schauen UND nach Innen schauen. Im Zuversichtlichen fragen wir nicht mehr „wie wird die Zukunft ganz genau?” (das kann niemand wissen, auch der Zukunftsforscher nicht). Sondern „was können wir für die Zukunft tun?” Wir treten in unsere innere Zukunfts-Verantwortung ein, und dadurch MACHEN wir Zukunft.
Zuversichtliche Menschen erkennt man daran, dass sie etwas für möglich halten, was sie selbst mit verursachen. Also auch eine bessere Zukunft.
Zuversicht ist reifer, erwachsener Optimismus, nicht blauäugig, sondern motivierend. Man traut sich etwas zu, und damit verändert man die Welt, statt sich vor ihr zu fürchten.
Mein Lieblingsheld aus STAR TREK, Captain Picard – äußere Ähnlichkeiten sind rein zufällig – antwortet in der jetzt laufenden Serie PICARD auf die Frage nach seinem Lebens-Motto nach 40 Jahren Sternenflotte: „Eine Unmöglichkeit nach der Anderen!“
Jean Luc Picard, Kommandant der Sternenflotte, Im Schein-Ruhestand
Hans Rosling, der große Weltstatistiker, war selbst ein Seuchenforscher und hat in seinem Buch „Wie ich lernte die Welt zu verstehen” geschildert, wie kompetente Zuversicht gerade in schwierigen Umständen entsteht. Das Buch ist derzeit besonders lesenswert, weil es uns in die Welt der Krankheiten und ihrer Bewältigung entführt, unter anderem nach Mozambique in den 70er Jahren und nach Kuba. Hans Rosling hat die Zuversicht im Denken „Possibilismus” genannt. Possibilismus heißt, dass wir nicht in Ausschließlichkeits-Zukünften denken „Die Zukunft wird gut ODER schlecht”. Sondern in Möglichkeiten. Potentialen. (Siehe auch meine Kolumne: Wie man als Possibilist in die Zukunft schaut)
Zuversicht, oder Possibilismus, besteht also nicht in der Gewissheit, dass „schon nichts Schlechtes passieren wird”. Es wird eine Menge passieren! Auch Schlechtes, Schlimmes, kaum zu Ertragendes. Zuversicht wächst im Vertrauen darauf, dass wir auch dann eine ANTWORT finden können, wenn es schwierig wird. Das ist wahre Zukunfts-Kompetenz, die uns ganz neue Freiheiten schenkt.
Und tun Menschen das nicht andauernd, viel mehr als wir glauben?
Sehnsucht
Eine weitere produktive Zukunfts-Kraft, mit der wir uns verbinden können, ist die SEHNSUCHT. Von allen visionären Kräften ist sie die zarteste, vorsichtigste, schüchternste.
Sehnsucht lässt uns auf die Reise gehen, ohne dass wir ein allzu festes Ziel erwarten. In ihr ist die Ahnung erhalten, dass wir NIE die Zukunft erreichen, die wir uns ersehnen. Wie soll das auch gehen? Während wir uns einer imaginären Zukunft nähern, entfernen wir uns ja immer von unserem heutigen Selbst. Wir werden SELBST andere, und deshalb sieht die Zukunft, die wir dann erreichen, völlig anders aus als in der Erwartung.
Wie sehr haben wir vor zwanzig Jahren eine computerisierte Welt herbeigesehnt, in der man mit einem Sprachbefehl »alles« automatisch betreiben konnte, smart alle Informationen auf einem Gerät hatte, millionenfach mit der Welt verbunden und ständig mobil war? Aber da sitzen wir nun in unserem sprachkommandierten Auto, und es fehlt uns etwas, was wir in der Krise erstaunlicherweise wiederentdecken. Die Zukunft hat uns enttäuscht, aber wir trauen uns nicht richtig, das zuzugeben. Wir können uns sozusagen nicht rückwärts korrigieren.
Sehnsucht vermeidet die Zukunfts-Enttäuschung, weil sie die Dinge lässt, wie sie sind, aber sich innerlich bewegt. In der Sehnsucht bleiben wir in höflicher Distanz zur Zukunft. In einem Spannungsverhältnis, das produktiv ist. Denn wir wissen: Fixierte Zukünfte, die wir ERREICHEN WOLLEN, führen immer zu Enttäuschungen. Utopien werden immer zu Katastrophen, wenn wir uns ihnen nähern. Allzu fixierte Businesspläne, zu vorlaute »Visionen«, enden in Pleiten. Ich könnte viele Beispiele nennen.
Das richtige Wort, um diesen Sehnsuchts- Zustand zu beschreiben, ist RESONANZ. Zukunfts-Sehnsucht heißt, dass wir uns von der Zukunft nicht blenden lassen, sondern mit ihr eine Beziehung treten. Darin liegt auch das, was Hartmut Rosa „die Unverfügbarkeit der Welt” nennt. Wir können die Zukunft nicht »haben«, so wie wir auch einen Menschen, den wir lieben, nicht »haben« können. Wir können sie nicht festnageln. Selbst wenn wir Trump sind. Wir können uns nur ihr anverwandeln, auf dem Weg der Re-Gnose, des inneren Wandels.
Hartmut Rosa, Unverfügbarkeit (Unruhe bewahren) bei Rowohlt
„Man kann die Zukunft nie verlieren. Und es gehört zu ihrem Wesen, dass sie nicht die in Realität gegossene, längst vergangene Vorstellung von dem ist, was werden wird, sondern immer befremdlich anders. Insofern ist unsere Zukunft nie unsere Zukunft, außer in der jetzigen Vorstellung. Unsere Zukunft ist und bleibt das Un-fassbare, etwas Numinoses… Besser wir leben JETZT die Zukunft, jetzt oder nie.
Michael Lehofer
Aus: Altern ist eine Illusion, Wie wir uns von den Grenzen im Kopf befreien
Flatten the Curve
Hinter unserem Haus am Stadtrand von Wien, wo ich mit meiner Familie jetzt, Ende März, in coronaler Isolation lebe, ist der Wald voll mit hunderten von Menschen, die in kleinen Gruppen umherwandern. Jung und Alt, Arm und Reich, Mensch und Tier (Hund und sogar Katze). Paare, die in virologischer Einheit leben, küssen sich innig, aber immer mit zwei Meter Abstand zu Anderen. Fünfergruppen mit Hund stehen da und lachen – worüber? Humor, im Gegensatz zu Zynismus, ist ein wunderbares Gegenmittel gegen das Virus. Kinder sind fröhlich, weil sie plötzlich dauernd mit den Eltern zusammen sind. Eine Wolke von Energie breitet sich aus – eine Art positiver Gegen-Infektion.
Kann so etwas anhalten? Unsere Kultur verändern?
Wir alle sind konfrontiert mit einem Paradox, das uns Staunen lässt: Indem wir uns aus dem Weg gehen, kommen wir uns näher. Indem wir uns vereinzeln, bilden wir neues WIR. Indem wir uns stilllegen, werden wir aktiv. Dabei SPÜREN wir uns wieder.
Vielleicht erleben wir das, was wir »früher«, also in der Prä-Corona-Zeit am meisten vermissten: Selbstwirksamkeit. Das Gefühl, etwas bewirken zu können, fällt in der Corona-Krise plötzlich IN EINS mit dem Gefühl, etwas für die Gesellschaft zu tun. Indem wir unser Verhalten individuell ändern, sind wir plötzlich »politisch«. Indem wir für uns selbst sorgen, sorgen wir uns auch für andere. Die zerspaltene Welt fügt sich plötzlich zusammen.
Könnten wir dieses Gefühl von inneren Zukunfts-Werdung auch in eine Post-Corona-Zeit übernehmen? Könnten aus diesen vielen Menschen im Wald noch mehr werden? Alles läuft derzeit auf diese Frage heraus. Unmöglich, sagen die Pessimisten. Menschen sind gierige Idioten, die sich NIE ändern werden. Alle werden nach dem Leid der Krise noch schlechter drauf sein, es wird fürchterlich, ein Desaster, nach ein paar Monaten rennen und hetzen alle wieder wie zuvor…
Ich bin mir da nicht so sicher.
Es könnte auch anders kommen als erwartet.
Immerhin wäre das möglich.
FLATTEN THE CURVE! – die Parole für das gemeinsame Ausbremsen des Virus – könnte das nicht ebenso für die Fieberkurve der global-industriellen Zivilisation gelten? Was den Virus hervorbrachte, brachte auch die CO2-Überhitzung hervor. Wenn uns durch Selbst-Entschleunigung die Entschleunigung des Virus gelingt – könnte daraus eine Gegen-Infektion erfolgen – sozusagen ein positiver Virus, der sich in der humanen Kultur als Idee eine postfossilen Zukunft verbreitet?
Die Antwort müsst Ihr finden. Ihr selbst. Ich. Wir alle. Es gibt keine präzise Methode, das »vorherzusagen«. Optimismus und Pessimismus geben uns keine Antwort darauf. Aber darum geht auch gar nicht. Re-Gnose heißt ja, dass wir in uns selbst in die Zukunft „voraussagen“. Dass wir unsere Morgen-Verantwortung übernehmen. Change yourself and change the world.
Die Zukunft beginnt in uns. Sie ist, ähnlich wie die Liebe, eine Entscheidung.
Dieser Text ist frei abdruckbar mit dem Hinweis: www.horx.com.
Ich werde derzeit oft gefragt, wann Corona denn „vorbei sein wird”, und alles wieder zur Normalität zurückkehrt. Meine Antwort: Niemals. Es gibt historische Momente, in denen die Zukunft ihre Richtung ändert. Wir nennen sie Bifurkationen. Oder Tiefenkrisen. Diese Zeiten sind jetzt.
Die Welt as we know it löst sich gerade auf. Aber dahinter fügt sich eine neue Welt zusammen, deren Formung wir zumindest erahnen können. Dafür möchte ich Ihnen eine Übung anbieten, mit der wir in Visionsprozessen bei Unternehmen gute Erfahrungen gemacht haben. Wir nennen sie die RE-Gnose. Im Gegensatz zur PRO-Gnose schauen wir mit dieser Technik nicht »in die Zukunft«. Sondern von der Zukunft aus ZURÜCK ins Heute. Klingt verrückt? Versuchen wir es einmal:
Die Re-Gnose: Unsere Welt im Herbst 2020
Stellen wir uns eine Situation im Herbst vor, sagen wir im September 2020. Wir sitzen in einem Straßencafe in einer Großstadt. Es ist warm, und auf der Strasse bewegen sich wieder Menschen. Bewegen sie sich anders? Ist alles so wie früher? Schmeckt der Wein, der Cocktail, der Kaffee, wieder wie früher? Wie damals vor Corona?
Oder sogar besser?
Worüber werden wir uns rückblickend wundern?
Wir werden uns wundern, dass die sozialen Verzichte, die wir leisten mussten, selten zu Vereinsamung führten. Im Gegenteil. Nach einer ersten Schockstarre fühlten viele von sich sogar erleichtert, dass das viele Rennen, Reden, Kommunizieren auf Multikanälen plötzlich zu einem Halt kam. Verzichte müssen nicht unbedingt Verlust bedeuten, sondern können sogar neue Möglichkeitsräume eröffnen. Das hat schon mancher erlebt, der zum Beispiel Intervallfasten probierte – und dem plötzlich das Essen wieder schmeckte. Paradoxerweise erzeugte die körperliche Distanz, die der Virus erzwang, gleichzeitig neue Nähe. Wir haben Menschen kennengelernt, die wir sonst nie kennengelernt hätten. Wir haben alte Freunde wieder häufiger kontaktiert, Bindungen verstärkt, die lose und locker geworden waren. Familien, Nachbarn, Freunde, sind näher gerückt und haben bisweilen sogar verborgene Konflikte gelöst.
Die gesellschaftliche Höflichkeit, die wir vorher zunehmend vermissten, stieg an.
Jetzt im Herbst 2020 herrscht bei Fussballspielen eine ganz andere Stimmung als im Frühjahr, als es jede Menge Massen-Wut-Pöbeleien gab. Wir wundern uns, warum das so ist.
Wir werden uns wundern, wie schnell sich plötzlich Kulturtechniken des Digitalen in der Praxis bewährten. Tele- und Videokonferenzen, gegen die sich die meisten Kollegen immer gewehrt hatten (der Business-Flieger war besser) stellten sich als durchaus praktikabel und produktiv heraus. Lehrer lernten eine Menge über Internet-Teaching. Das Homeoffice wurde für Viele zu einer Selbstverständlichkeit – einschließlich des Improvisierens und Zeit-Jonglierens, das damit verbunden ist.
Gleichzeitig erlebten scheinbar veraltete Kulturtechniken eine Renaissance. Plötzlich erwischte man nicht nur den Anrufbeantworter, wenn man anrief, sondern real vorhandene Menschen. Das Virus brachte eine neue Kultur des Langtelefonieren ohne Second Screen hervor. Auch die »messages« selbst bekamen plötzlich eine neue Bedeutung. Man kommunizierte wieder wirklich. Man ließ niemanden mehr zappeln. Man hielt niemanden mehr hin. So entstand eine neue Kultur der Erreichbarkeit. Der Verbindlichkeit.
Menschen, die vor lauter Hektik nie zur Ruhe kamen, auch junge Menschen, machten plötzlich ausgiebige Spaziergänge (ein Wort, das vorher eher ein Fremdwort war). Bücher lesen wurde plötzlich zum Kult.
Reality Shows wirkten plötzlich grottenpeinlich. Der ganze Trivial-Trash, der unendliche Seelenmüll, der durch alle Kanäle strömte. Nein, er verschwand nicht völlig. Aber er verlor rasend an Wert.
Kann sich jemand noch an den Political-Correctness-Streit erinnern? Die unendlich vielen Kulturkriege um … ja um was ging da eigentlich?
Krisen wirken vor allem dadurch, dass sie alte Phänomene auflösen, über-flüssig machen…
Zynismus, diese lässige Art, sich die Welt durch Abwertung vom Leibe zu halten, war plötzlich reichlich out.
Die Übertreibungs-Angst-Hysterie in den Medien hielt sich, nach einem kurzen ersten Ausbruch, in Grenzen.
Nebenbei erreichte auch die unendliche Flut grausamster Krimi-Serien ihren Tipping Point.
Wir werden uns wundern, dass schließlich doch schon im Sommer Medikamente gefunden wurden, die die Überlebensrate erhöhten. Dadurch wurden die Todesraten gesenkt und Corona wurde zu einem Virus, mit dem wir eben umgehen müssen – ähnlich wie die Grippe und die vielen anderen Krankheiten. Medizinischer Fortschritt half. Aber wir haben auch erfahren: Nicht so sehr die Technik, sondern die Veränderung sozialer Verhaltensformen war das Entscheidende. Dass Menschen trotz radikaler Einschränkungen solidarisch und konstruktiv bleiben konnten, gab den Ausschlag. Die human-soziale Intelligenz hat geholfen. Die vielgepriesene Künstliche Intelligenz, die ja bekanntlich alles lösen kann, hat dagegen in Sachen Corona nur begrenzt gewirkt.
Damit hat sich das Verhältnis zwischen Technologie und Kultur verschoben. Vor der Krise schien Technologie das Allheilmittel, Träger aller Utopien. Kein Mensch – oder nur noch wenige Hartgesottene – glauben heute noch an die große digitale Erlösung. Der große Technik-Hype ist vorbei. Wir richten unsere Aufmerksamkeiten wieder mehr auf die humanen Fragen: Was ist der Mensch? Was sind wir füreinander?
Wir staunen rückwärts, wieviel Humor und Mitmenschlichkeit in den Tagen des Virus tatsächlich entstanden ist.
Wir werden uns wundern, wie weit die Ökonomie schrumpfen konnte, ohne dass so etwas wie »Zusammenbruch« tatsächlich passierte, der vorher bei jeder noch so kleinen Steuererhöhung und jedem staatlichen Eingriff beschworen wurde. Obwohl es einen »schwarzen April« gab, einen tiefen Konjunktureinbruch und einen Börseneinbruch von 50 Prozent, obwohl viele Unternehmen pleitegingen, schrumpften oder in etwas völlig anderes mutierten, kam es nie zum Nullpunkt. Als wäre Wirtschaft ein atmendes Wesen, das auch dösen oder schlafen und sogar träumen kann.
Heute im Herbst, gibt es wieder eine Weltwirtschaft. Aber die Globale Just-in-Time-Produktion, mit riesigen verzweigten Wertschöpfungsketten, bei denen Millionen Einzelteile über den Planeten gekarrt werden, hat sich überlebt. Sie wird gerade demontiert und neu konfiguriert. Überall in den Produktionen und Service-Einrichtungen wachsen wieder Zwischenlager, Depots, Reserven. Ortsnahe Produktionen boomen, Netzwerke werden lokalisiert, das Handwerk erlebt eine Renaissance. Das Global-System driftet in Richtung GloKALisierung: Lokalisierung des Globalen.
Wir werden uns wundern, dass sogar die Vermögensverluste durch den Börseneinbruch nicht so schmerzen, wie es sich am Anfang anfühlte. In der neuen Welt spielt Vermögen plötzlich nicht mehr die entscheidende Rolle. Wichtiger sind gute Nachbarn und ein blühender Gemüsegarten.
Könnte es sein, dass das Virus unser Leben in eine Richtung geändert hat, in die es sich sowieso verändern wollte?
RE-Gnose: Gegenwartsbewältigung durch Zukunfts-Sprung
Warum wirkt diese Art der »Von-Vorne-Szenarios« so irritierend anders als eine klassische Prognose? Das hängt mit den spezifischen Eigenschaften unseres Zukunfts-Sinns zusammen. Wenn wir »in die Zukunft« schauen, sehen wir ja meistens nur die Gefahren und Probleme »auf uns zukommen«, die sich zu unüberwindbaren Barrieren türmen. Wie eine Lokomotive aus dem Tunnel, die uns überfährt. Diese Angst-Barriere trennt uns von der Zukunft. Deshalb sind Horror-Zukünfte immer am Einfachsten darzustellen.
Re-Gnosen bilden hingegen eine Erkenntnis-Schleife, in der wir uns selbst, unseren inneren Wandel, in die Zukunftsrechnung einbeziehen. Wir setzen uns innerlich mit der Zukunft in Verbindung, und dadurch entsteht eine Brücke zwischen Heute und Morgen. Es entsteht ein »Future Mind« – Zukunfts-Bewusstheit.
Wenn man das richtig macht, entsteht so etwas wie Zukunfts-Intelligenz. Wir sind in der Lage, nicht nur die äußeren »Events«, sondern auch die inneren Adaptionen, mit denen wir auf eine veränderte Welt reagieren, zu antizipieren.
Das fühlt sich schon ganz anders an als eine Prognose, die in ihrem apodiktischen Charakter immer etwas Totes, Steriles hat. Wir verlassen die Angststarre und geraten wieder in die Lebendigkeit, die zu jeder wahren Zukunft gehört.
Wir alle kennen das Gefühl der geglückten Angstüberwindung. Wenn wir für eine Behandlung zum Zahnarzt gehen, sind wir schon lange vorher besorgt. Wir verlieren auf dem Zahnarztstuhl die Kontrolle und das schmerzt, bevor es überhaupt wehtut. In der Antizipation dieses Gefühls steigern wir uns in Ängste hinein, die uns völlig überwältigen können. Wenn wir dann allerdings die Prozedur überstanden haben, kommt es zum Coping-Gefühl: Die Welt wirkt wieder jung und frisch und wir sind plötzlich voller Tatendrang.
Coping heißt: bewältigen. Neurobiologisch wird dabei das Angst-Adrenalin durch Dopamin ersetzt, eine Art körpereigener Zukunfts-Droge. Während uns Adrenalin zu Flucht oder Kampf anleitet (was auf dem Zahnarztstuhl nicht so richtig produktiv ist, ebenso wenig wie beim Kampf gegen Corona), öffnet Dopamin unsere Hirnsynapsen: Wir sind gespannt auf das Kommende, neugierig, vorausschauend. Wenn wir einen gesunden Dopamin-Spiegel haben, schmieden wir Pläne, haben Visionen, die uns in die vorausschauende Handlung bringen.
Erstaunlicherweise machen viele in der Corona-Krise genau diese Erfahrung. Aus einem massiven Kontrollverlust wird plötzlich ein regelrechter Rausch des Positiven. Nach einer Zeit der Fassungslosigkeit und Angst entsteht eine innere Kraft. Die Welt »endet«, aber in der Erfahrung, dass wir immer noch da sind, entsteht eine Art Neu-Sein im Inneren.
Mitten im Shut-Down der Zivilisation laufen wir durch Wälder oder Parks, oder über fast leere Plätze. Aber das ist keine Apokalypse, sondern ein Neuanfang.
So erweist sich: Wandel beginnt als verändertes Muster von Erwartungen, von Wahr-Nehmungen und Welt-Verbindungen. Dabei ist es manchmal gerade der Bruch mit den Routinen, dem Gewohnten, der unseren Zukunfts-Sinn wieder freisetzt. Die Vorstellung und Gewissheit, dass alles ganz anders sein könnte – auch im Besseren.
Vielleicht werden wir uns sogar wundern, dass Trump im November abgewählt wird. Die AFD zeigt ernsthafte Zerfransens-Erscheinungen, weil eine bösartige, spaltende Politik nicht zu einer Corona-Welt passt. In der Corona-Krise wurde deutlich, dass diejenigen, die Menschen gegeneinander aufhetzen wollen, zu echten Zukunftsfragen nichts beizutragen haben. Wenn es ernst wird, wird das Destruktive deutlich, das im Populismus wohnt.
Politik in ihrem Ur-Sinne als Formung gesellschaftlicher Verantwortlichkeiten bekam in dieser Krise eine neue Glaubwürdigkeit, eine neue Legitimität. Gerade weil sie »autoritär« handeln musste, schuf Politik Vertrauen ins Gesellschaftliche. Auch die Wissenschaft hat in der Bewährungskrise eine erstaunliche Renaissance erlebt. Virologen und Epidemiologen wurden zu Medienstars, aber auch »futuristische« Philosophen, Soziologen, Psychologen, Anthropologen, die vorher eher am Rande der polarisierten Debatten standen, bekamen wieder Stimme und Gewicht.
Fake News hingegen verloren rapide an Marktwert. Auch Verschwörungstheorien wirkten plötzlich wie Ladenhüter, obwohl sie wie saures Bier angeboten wurden.
Ein Virus als Evolutionsbeschleuniger
Tiefe Krisen weisen obendrein auf ein weiteres Grundprinzip des Wandels hin: Die Trend-Gegentrend-Synthese.
Die neue Welt nach Corona – oder besser mit Corona – entsteht aus der Disruption des Megatrends Konnektivität. Politisch-ökonomisch wird dieses Phänomen auch »Globalisierung« genannt. Die Unterbrechung der Konnektivität – durch Grenzschließungen, Separationen, Abschottungen, Quarantänen – führt aber nicht zu einem Abschaffen der Verbindungen. Sondern zu einer Neuorganisation der Konnektome, die unsere Welt zusammenhalten und in die Zukunft tragen. Es kommt zu einem Phasensprung der sozio-ökonomischen Systeme.
Die kommende Welt wird Distanz wieder schätzen – und gerade dadurch Verbundenheit qualitativer gestalten. Autonomie und Abhängigkeit, Öffnung und Schließung, werden neu ausbalanciert. Dadurch kann die Welt komplexer, zugleich aber auch stabiler werden. Diese Umformung ist weitgehend ein blinder evolutionärer Prozess – weil das eine scheitert, setzt sich das Neue, überlebensfähig, durch. Das macht einen zunächst schwindelig, aber dann erweist es seinen inneren Sinn: Zukunftsfähig ist das, was die Paradoxien auf einer neuen Ebene verbindet.
Dieser Prozess der Komplexierung – nicht zu verwechseln mit Komplizierung – kann aber auch von Menschen bewusst gestaltet werden. Diejenigen, die das können, die die Sprache der kommenden Komplexität sprechen, werden die Führer von Morgen sein. Die werdenden Hoffnungsträger. Die kommenden Gretas.
„Wir werden durch Corona unsere gesamte Einstellung gegenüber dem Leben anpassen – im Sinne unserer Existenz als Lebewesen inmitten anderer Lebensformen.”
Slavo Zizek im Höhepunkt der Coronakrise Mitte März
Jede Tiefenkrise hinterlässt eine Story, ein Narrativ, das weit in die Zukunft weist. Eine der stärksten Visionen, die das Coronavirus hinterlässt, sind die musizierenden Italiener auf den Balkonen. Die zweite Vision senden uns die Satellitenbilder, die plötzlich die Industriegebiete Chinas und Italiens frei von Smog zeigen. 2020 wird der CO&sub2;-Ausstoss der Menschheit zum ersten Mal fallen. Diese Tatsache wird etwas mit uns machen.
Wenn das Virus so etwas kann – können wir das womöglich auch? Vielleicht war der Virus nur ein Sendbote aus der Zukunft. Seine drastische Botschaft lautet: Die menschliche Zivilisation ist zu dicht, zu schnell, zu überhitzt geworden. Sie rast zu sehr in eine bestimmte Richtung, in der es keine Zukunft gibt.
Aber sie kann sich neu erfinden. System reset.
Cool down!
Musik auf den Balkonen!
So geht Zukunft.
Gibt es eine Möglichkeit, anders mit der globalen Corona-Epidemie umzugehen als in den Reflexen von Angst (Panik!) oder reiner Beschwichtigung? Versuchen wir es. Machen wir eine kleine historisch-futuristische Übung.
Zunächst erinnert uns das Coronavirus (oder COVID-19) an etwas, was wir in einer hochtechnischen Zivilisation gerne verdrängen. Wir sind Teil der Natur. So sehr wir uns auch von der Welt des Organischen distanzieren, wir leben mit dem Biom der Erde in einer dynamischen Co-Evolution. Viren und Bakterien besiedeln unseren Körper inwendig und auswendig, so sehr wir uns auch schrubben und sterilisieren – ohne sie könnten wir gar nicht existieren. Die Mitochondrien, die Energiekraftwerke unserer Zellen, sind vor hunderten von Millionen Jahren aus der DNA von Mikroorganismen entstanden. Wir sind symbiotische Wesen; erschaffen aus dem gigantischen Pool der DNA auf dem Planeten Erde.
Das kränkt natürlich unser Autonomiebedürfnis. Manchmal wünschen wir uns deshalb, sterile Maschinen zu sein, die sich um das ganze biologische Gewimmel und Gewusel nicht scheren müssen. Das erklärt einen Großteil unserer Faszination mit Roboter-Existenzen und Künstlicher Intelligenz.
Das Leben aber geht seinen eigenen Weg. Es mutiert und adaptiert und baut um. Wo sehr viele Genome – von Hunden, Katzen, Schlangen, Vögeln, Reptilien – in nahen Kontakt geraten, wie etwa auf chinesischen Märkten, sind die Mutationsraten hoch. Viren sind Überlebensmaschinen auf organischer Basis, und sie suchen ihre Chance – wie wir.
Das COVID-19-Virus ist im Grunde nur eine weitere Variante der Grippe. Es ist nicht im Entferntesten so tödlich wie Ebola oder andere »Killer-Keime«, man denke an die »geschärften« Bakterien aus den Krankenhäusern. Eine echte Innovation ist jedoch die Selektivität des Virus. Eine Grippe macht alle Betroffenen gleich krank, COVID aber sucht sich die Alten und Schwachen heraus, bei Kindern und Jugendlichen gibt es oft noch nicht mal Symptome. Es scheint auch unscharf zu bleiben, wie lange eine Infektion braucht, und ab wann die Infizierten ansteckend sind. Das ist – aus der Sicht des Virus – ziemlich raffiniert, denn diese Varianz macht es schwierig, die Infektion zu unterbrechen. Der Virus hat sein Verhalten sozusagen an eine individualisierte Gesellschaft angepasst und sich dabei getarnt. Ziemlich schlau – im Sinne der evolutionären Fitness.
Der Sinn von Seuchen
Epidemien haben Millionen Menschenleben frühzeitig beendet. Sie waren, unter bestimmten Umständen, Massenkiller, was dann aber ihre Ausbreitung schnell begrenzte. Denn ein Keim, der seinen Wirt schnell tötet, hat keine echte Zukunftsperspektive. Gleichzeitig haben die Keime unser humanes Immunsystem aufgebaut, trainiert und immer weiter verfeinert. Es gibt Biologen, die sogar das menschliche Bewusstsein, die Größe unseres Hirns, auf diese ständige Wechselwirkung zurückführen. Wer unserer Vorfahren Infektionen überlebte oder gar nicht erst erkrankte, pflanzte sich fort, und »verankerte« seine Immun-Fähigkeiten und Resilienzen im menschlichen Erbgut. So setzten sich diejenigen durch, die über höhere organische Resilienz verfügten. Survival of the fittest Immune System.
Epidemien sind ein Produkt von Massengesellschaften, sie plagen den Menschen seit der Sesshaftigkeit, also seit rund 10.000 Jahren. Nomadische Jäger und Sammler sind oft die gesündesten Menschen – allerdings nur, wenn sie nicht mit »Fremdkeimen« konfrontiert werden, gegen die ihr Immunsystem hilflos ist. Das besiegelte das Schicksal der Inkas und vieler anderer indigener Stämme. Womöglich entwickelten sich schon in der Steinzeit Formen von sozialer Absonderung, von Quarantäne, als Reaktion auf Infektionsgefahren. Sozialtechniken von Askese und engem Gruppenbezug im Kontext von Religionen könnten also auch etwas mit Keimabwehr zu tun haben. So schufen Krankheiten womöglich gesellschaftliche Differenzierungen, Verfeinerungen von Kultur.
Als im Mittelalter die Pest die Anzahl der europäischen Bevölkerung in manchen Regionen bis auf die Hälfte reduzierte, führte dies zu einer ganzen Kaskade sozialer Innovationen. Die Idee des Privatlebens setzte sich durch und gleichzeitig entstanden Formen gesteuerter Migration, weil die Fürsten Ersatz für den Bevölkerungsverlust suchten. Hatte es zum Höhepunkt der Pest die klassischen Symptome von Hass-Paranoia und Sündenbock-Suche gegeben – zum Beispiel Hexenverbrennung und Judenhass – entstanden im Nachgang der Epidemie neue Toleranzen. Wo ganze Landstriche entvölkert waren, brauchte man Arbeitskräfte, »Bevölkerung«. Auch die Pest war eine Zoonose, die von Tieren (Ratten und Flöhen) auf Menschen übersprang – und sie erzwang Kulturformen der Hygiene. Dort, wo man Kanalisation, Badekultur und Sanitärwesen vorantrieb, konnten die großen Epidemien schneller bewältigt werden, auch Typhus und Cholera konnten so zurückgedrängt werden. Der Kampf gegen die Keime mündete schließlich in den bahnbrechenden Erkenntnissen der medizinischen Wissenschaften um 1900, dem Wissen um Sepsis, Viren und Bakterien, der das Spiel Mensch/Virus auf eine neue Stufe brachte.
So ist »Zivilisation« eben auch ein Resultat gelungener Seuchenbekämpfung – und gleichzeitig ihre Voraussetzung. Die meisten Opfer forderten Infektionen immer in Situationen, in denen sich soziale Strukturen zugunsten von Massen-Chaos auflösten. Die Spanische Grippe, die am Ende des ersten Weltkriegs weltweit 50 Millionen Opfer forderte, zeigte, wie sich Viren und Bakterien an die »Verhältnisse« anpassen können – sie »schärfen« ihre Mortalität, wenn sie auf ein unbegrenzt verfügbares organisches Reservoir stoßen, auf Menschenmassen ohne Abwehrkräfte. Viren sind adaptiv – aber das sind auch die menschlichen Sozialformen, die denselben evolutionären Gesetzen von Mutation, Selektion und Adaption folgen.
Das Zeitalter der Meta-Kooperation
Erstaunlich ist zunächst, dass wir in einem Zeitalter des globalen Massentransports leben, aber sich dennoch in den letzten 50 Jahren keine größere Pandemie herausgebildet hat (mit EINER Ausnahme, dazu gleich mehr). Vier Milliarden Menschen sitzen jährlich in Flugzeugen auf engstem Raum zusammen und dennoch hat sich noch kein echter planetarer »Killerkeim« entwickelt. Die Ursache könnte auch darin liegen, dass unsere Immunsysteme heute andere sind als früher. Besser trainiert, variabler aufgestellt. Allerdings sind sie auch »gestresster«. Während wir nur noch Soy-Latte schlürfen und auf Erdnüsse allergisch reagieren, arbeitet unser Immunsystem auf Hochtouren, um mit der ganzen Keim-Diversität fertigzuwerden. Auch Viren und Bakterien sind längst multikulturell.
Eine Ausnahme war die AIDS-Epidemie. Sie verbreitete sich nur in intimen Kontakten, wählte also einen globalen Verbreitungsweg, der SO vorher nicht existierte. AIDS verlief völlig anders, als in den pessimistischen Prognosen vorausgesagt – ich kann mich noch an die Weltuntergangsstimmung und die Schlagzeilen in den 80-er Jahren erinnern. Doch AIDS führte weder zum Niedergang von Sex noch zu einer verschärften Stigmatisierung von Homosexuellen, sondern auf verquere Weise zum genauen Gegenteil. Die steigende Toleranz gegenüber Homosexualität und das erstaunliche Mitgefühl mit den Infizierten (Ausnahmen bestätigen die Regel) war ein Triumph der Aufklärung. Ein Erfolg, der selten gewürdigt wird, der aber etwas über die Paradoxialität erzählt, in der sich Werte- und Kulturnormen verändern. Neben Genen verbreiten sich auch MEME – kulturelle Codes – in der globalen Gesellschaft. Auch Toleranz und Solidarität wirken manchmal ansteckend.
Der Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 hat gezeigt, dass die globalen Gesundheits-Institutionen durchaus in der Lage sind, schnelle Interventionen bei regionalen Krisen zu organisieren. Hans Rosling, der Große Meister der globalen Statistik beschreibt in seiner Biographie „Wie ich lernte, die Welt zu verstehen”, wie dieses erstaunliche Ergebnis zustande kam. Wenn es darauf ankommt sind Menschen durchaus in der Lage, Solidarität über Grenzen hinweg zu organisieren. Auf diesen »kooperativen Egoismus« kann man in Richtung Zukunft besser vertrauen als der Hoffnung auf reine Selbstlosigkeit.
So erzeugt die globale Seuchengefahr womöglich einen neuen integrativen Globalisierungs-Effekt. Ähnlich wie die Weltraumfahrt, die die Menschheit auf einer höheren Ebene symbolisch vereint (Der »Overview-Effekt«), spielen Pandemien die Rolle einer Menschheits-Vereinigungs-Instanz. Vor dem Virus sind wir alle gleich. Wie Aliens können Keime die menschlichen Streit-Kräfte vereinen.
Der Corona-Virus wirkt also wie ein großes sozialevolutionäres Experiment. Eine Übung in globaler Resilienz und Zusammenarbeit. In diesem Experiment wird getestet, welche sozialen Kooperationsformen sich bewähren und die besten Antworten gegen die Mikroben-Welt entwickeln. China hat nach einem ersten Versuch der Ignoranz seine mächtige kollektive Kompetenz bewiesen – Rigorosität kann manchmal sinnvoll und human sein. Aber diese Erfahrung wird China auch SELBST verändern. In China wird es keine Wochenmärkte des alten Stils mehr geben, davon kann man ausgehen. Und auch die Frage einer bürger-kooperativen Informationspolitik wird auf dem Tisch bleiben. Singapur und Hongkong haben durch effiziente Organisationsformen die Seuche konsequent bekämpft – obwohl diese Stadtstaaten eine enorme Menschendichte aufweisen, gab es bislang kaum Todesopfer. Südkorea versucht sich in Digital-Methoden, scheitert aber teilweise im Kulturellen. Generell stellt der Virus auch die digitale Frage neu: Haben uns die Auguren der Künstlichen Intelligenz nicht immer wahre Wunderwerke versprochen, wenn es um die Entwicklung neuer Medikamente geht? Also her mit dem Impfstoff! Oder sind am Ende soziale Antworten doch besser als technologische?
Im Iran hat COVID-19 den Bruch zwischen despotischer Herrschaft und Bürgern weiter verbreitert. In Italien ist die Lage widersprüchlich – manche Beobachter sprechen aber von einem Solidaritäts-Effekt, der die inneren Spaltungen überbrückt. In Deutschland ist endlich eine Meta-Debatte um die hysterische Überzeichnung von Gefahren entstanden. Hinter der Virus-Angst kulminieren viele andere Ängste: Wohlstands-Angst, Fremden-Angst, Versagens-Angst, soziale Paranoia in allen Varianten. Unweigerlich wird hier magisches Denken aktualisiert, Schuld- und Strafbereitschaft. Haben „wir uns an der Natur versündigt, die jetzt zurückschlägt?”
Epidemien bieten jedoch auch einen Erfahrungsraum für das Gegenteil. Der Stillstand, der durch Seuchen entsteht, hat eine erfrischende Gegenseite. Wir erfahren Entschleunigungen, erleben, dass nicht alles gleich zusammenbricht, wenn einmal Großveranstaltungen ausbleiben oder die ewige Flut der Waren stockt. Wenn nicht alles immerzu rennt und hastet, werden neue Kommunikationsformen ermöglicht. Wie auch beim Ausbruch des Isländischen Vulkans Eyjafjallajökull vor zehn Jahren, als die globale Zivilisation auch »zusammenbrach«, aber sich plötzlich Menschen begegneten, die sich sonst nie begegnet wären. Und Island der größte Touristenboom aller Zeiten beschert wurde.
Ausgerechnet Gesundheitskrisen bergen kulturelle Heilungspotentiale. Wir erleben uns als verletzlich, aber auch auf einer neuen Ebene gleich. Erfolgreich sind in dieser Entwicklung jene Gesellschaften die a) vertrauensvoll kooperieren können und b) denen es gelingt ihre Ängste und Paniküberschüsse zu moderieren. So bildet sich ein neuer evolutionärer Selektor für die Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft aus. Erfolgreich und gewinnend sind diejenigen, die sich Risiken selbstbewusst entgegenstellen, ohne gleich die Nerven zu verlieren. Darin liegt eine Weisheit des menschlichen Kultursystems. Das Immunsystem des Gesellschaftlichen kann durch Krisen wachsen.
Es wäre ein Treppenwitz der Geschichte mit erheblichem Heiterkeits-Effekt, wenn Donald Trump ausgerechnet am Corona-Virus scheitern würde. Das behauptet der US-amerikanische Nationalökonom Nouriel Roubini, der die Finanzkrise von 2009 ziemlich präzise prognostizierte. Trumps Wiederwahl, so Roubini, ist schon verloren, weil Trump die Corona-Infektion verharmloste. Populisten dürfen alles, aber nicht die Grandiositäts-Illusion ihrer Anhänger beschädigen. Wenn in den USA die Börsen zusammenklappen und das US-Gesundheitssystem sich als dysfunktional und überfordert herausstellt, wird aus dem Ballon Trump die Luft herausgelassen – pffff. Wenn das tatsächlich so käme (ich glaube allerdings nicht so ganz daran), wäre das eine interessante Pirouette der Weltgeschichte – und eine lehrreiche Erzählung über das wahre Wesen des Wandels.
Wie kommt es, dass wir uns schrecklich vor der Zukunft fürchten – und uns dabei gleichzeitig so furchtbar wohlfühlen?
Die Welt ist kaputt. Verdorben. Auf direktem Weg zum Abgrund. Die Zukunft hat sich endgültig verabschiedet, nichts wird besser, alles nur schlechter. Global Warming. Neue Seuchen. Trump. Brexit. Europa fällt auseinander. Soziale Spaltung. Flüchtlingsströme. Kriege. So geht das Stakkato der Medien, und so berichtet es uns das Gemurmel der öffentlichen Meinung rund um die Uhr. Wer an dieser Weltsicht zweifelt, macht sich irgendwie verdächtig. Es kann sich nur um Verharmlosung handeln, oder schlichte Naivität.
80 Prozent der Deutschen fürchten sich vor der Zukunft. Sie glauben, dass „die Zukunft auf jeden Fall schlechter wird als die Gegenwart”, und dass unsere Kinder es schlechter haben werden als wir selbst. Das ist kein ausschließlich deutsches Phänomen, aber hierzulande besonders stark ausgeprägt.
Gleichzeitig jedoch – und das ist des eigentlich Absurde – bezeichnen sich 80 Prozent der Deutschen als glücklich oder sehr glücklich. Ein Wert, der in den letzten Jahren kontinuierlich angestiegen ist.
Wie kann das sein? Wie kann man gleichzeitig vom Schlimmsten ausgehen, die Zukunft verloren geben und sich dabei glücklich fühlen?
Wie kommt es, dass wir mitten in einem historisch einmaligen Wohlstand so von Ängsten gepeinigt sind, dass wir diesen Wohlstand weder genießen noch in Richtung auf eine nachhaltigere Welt weiterentwickeln können?
Ich habe diesen paradoxen Effekt einmal »Apokalyptisches Cocooning« genannt. Oder ein bisschen bösartig »Doomsday-Spießertum«. Fragt man Menschen nach dem RADIUS ihrer Ängste, wird diese Bezeichnung noch ein bisschen deutlicher. In der Familie, im Freundeskreis, in der unmittelbaren Naherfahrung (Stadt, Gemeinde, Region) fühlen sich die Menschen überwiegend optimistisch. Es ist ziemlich gut hier in Bayern, Zittau, selbst in Kreuzberg oder Bremerhaven. Ja, klar, kleine Probleme gibt es immer, aber das sind UNSERE Probleme. Und wie geht es dem Land, Deutschland? Alles verdorben und korrupt. Europa? Am Rande des Abgrunds. Die Welt, die Erde? Demnächst geht es zu Ende, ganz gewiss…
Wenn man nach dem Zustand der Galaxie fragen würde, hieße es wahrscheinlich nicht „unendliche Weiten”. Sondern „überall nur Schwarze Löcher”!
Von der Unmöglichkeit des Positiven
Seit vielen Jahren nutze ich auf meinen Vorträgen den »Global Ignorance Test«. Dieser wunderbare Multiple-Choice-Test, prüft unser Wissen über die großen globalen Trends. Erfunden wurde er vom 2017 verstorbenen Hans Rosling, einem Gesundheits- und Weltstatistiker, der uns das wunderbare Datensystem Gapminder hinterlassen hat, mit dem sich die globale Entwicklung in ihren Zusammenhängen verstehen lässt. Der Test beinhaltet zum Beispiel Fragen wie diese:
Wie hoch ist die mittlere globale Lebenserwartung?
Wie hoch ist heute die Anzahl der Analphabeten auf dem Planeten – 40, 30 oder 20 Prozent?
Wie viele Kinder weltweit sind gegen Masern geimpft – 20, 50 oder 80 Prozent?
Hat sich der Anteil der in bitterer Armut Lebenden auf der Erde global seit 1970 gedrittelt, halbiert oder verdoppelt?
Wo ist die Geburtenrate höher – in den christlichen oder den islamischen Ländern?
Wann war die friedlichste Epoche der Menschheit?
Die Antworten lauten: 70 Jahre/ 20 Prozent/80 Prozent/gedrittelt/gleich/heute.
Immer, wenn ich den Test mit dem Publikum durchführe, entsteht eine seltsame Schockstarre. Wenn klar wird, wie über-negativ man die globalen Trends eingeschätzt hat – die richtigen Antworten liegen fast immer unter 10 Prozent – knirscht es im seelischen Gebälk. Ein kleiner Teil der Zuhörer ist dann wirklich verblüfft und erleichtert, ja geradezu euphorisiert – er fühlt sich befreit. Zwei Drittel des Auditoriums geht jedoch in eine Art Verweigerungs-Trance. Viele sind richtig sauer, angefressen, sie empfinden eine unterschwellige Wut. Entweder glauben sie, ich bin ein Scharlatan und habe die Daten nur erfunden. Oder sie suchen nach Möglichkeiten, nachzuweisen, dass das vielleicht »irgendwie« stimmen mag. Aber trotzdem eine Sauerei ist. Was ist mit den Flüchtlingen in den Schlauchbooten? Den Kindern in Somalia? Den sterbenden Gletschern und Insekten?
Es ist wahnsinnig schwer, langfristige graduelle Verbesserungen positiv zu bewerten, ja sie überhaupt wahrzunehmen. Good News are Bad News. Warum?
Das erste Problem liegt an der speziellen Konstruktion unseres Hirns, das Wirklichkeit immer nur in Narrationen, konkreten Geschichten beschreiben kann. Jedes Bild eines sterbenden Kindes ist viel stärker, als eine Statistik, die den Rückgang der Kindersterblichkeit beweist. Jede konkrete Katastrophe überschreibt alle verhinderten oder vermiedenen Katastrophen. Wenn ein Flugzeug abstürzt, produzieren die entsetzlichen Bilder ein tiefe Markierung in unserem Gedächtnis. Die mehr als 20.000 Verkehrsflugzeuge die wunderbarerweise mit erstaunlicher Sicherheit jeden Tag landen und starten, werden sozusagen ausgelöscht. Wie viele Flugzeuge gibt es auf der Welt
„Nichts ist so unsichtbar wie das Gelungene”, sagte einst die Physikerin Marie Curie.
Erstaunlich ist aber auch, wie hartnäckig Menschen an negativen Narrationen festhalten, ja regelrecht an ihnen klammern, wenn es neue Informationen gibt. Die Idee der »Bevölkerungsexplosion« zum Beispiel, ein Dauermantra der Kulturpessimisten von rechts bis grün, hält sich hartnäckig in den Köpfen, obwohl die Geburtenraten weltweit rapide zurückgehen und die Weltbevölkerung noch in diesem Jahrhundert wieder sinken wird. Wir werden kaum mehr als zehn Milliarden Menschen im »Human Peak« sein, und diese Anzahl von Menschen kann die Erde selbst mit den heutigen Nahrungserzeugungen ernähren.
Ähnlich ist es mit der Entwicklung der Gewalt. Wie viele Morde gibt es jedes Jahr in der Bundesrepublik Deutschland? Die mittlere Schätzung lautet: 2500.
Es sind 386 (2018). Davon sind drei Viertel tragische Morde im familiären Umfeld, die man noch nicht einmal im TATORT sehen möchte. Mordopfer in Deutschland
Die Starre, mit der wir auf Annahmen beharren, die »negativ falsch« sind, liegt an dem, was die Psychologen »Confirmation Bias« nennen. Unser Hirn arbeitet strukturkonvervativ, wenn nicht reaktionär.
Wenn wir einmal an bestimmte generelle Negativ-Entwicklungen glauben, fräst sich diese Vorstellung sozusagen ins Hirn ein. Sie wird zur Identität. Wir selektieren dann in unserer Wahrnehmung nur noch jene Informationen, die unsere Befürchtung bestätigen. Dabei entsteht oft das, was man Untergangsstolz nennen könnte. Wer die Apokalypse vertritt, den unweigerlichen Niedergang von Diesem und Jenem, der verfügt über einen großen Hammer, mit dem sich viele Nägel einschlagen lassen. Deshalb sitzen die düsteren Herren des Weltuntergangs bei allen Talkshows immer in der ersten Reihe, in der Gestalt von »Experten«. Sie wirken kompetent, weil sie immer alles schon schlechter wissen und dadurch eine Sicherheit suggerieren, die der offene Mensch nie haben kann. Auf diese Weise entstehen regelrechte Superstars der Negativität, wie etwa Thilo Sarrazin, der die Islamisierung des Westens salon- und hassfähig machte und die erste Phase des medialen Populismus einläutete.
Der Negativitätsbedarf oder die Kraft des Schlechten
Um das apokalyptische Paradox tiefer zu verstehen, müssen wir lernen, Negativität als eine Art NACHFRAGE zu begreifen – als Resultat eines inneren und eines äusseren, eines gesellschaftlichen und mentalen Bedarfs.
Der größte Negativitätsbedarf besteht zweifelsohne in den Medien. Schon in der alten Zeitungs- und Fernsehwelt galt die Regel „Bad news are good news”. Das Internet hat in den letzten Jahrzehnten die Anzahl der Kanäle, Sender und Empfänger nun fast ins unendliche ausgedehnt. Dadurch ist ein gnadenloser Kampf um die wahre Knappheits-Ressource unserer Zeit entstanden: Menschliche Aufmerksamkeit. Das mediale System (nicht unbedingt das einzelne Medium) muss die Reize ständig steigern, immer neue Notlagen, Skandale und Katastrophen (er)finden, um das Publikum bei der Stange beziehungsweise beim Klick zu halten. Dabei verbündet es sich mit immer kleinen Minderheiten, die ihre Unzufriedenheit oder Aversion äußern und verstärkt deren Weltdeutungen ins Übergroße.
Viele Medien verlieren dabei ihre Fähigkeit, zwischen Gruppen und Öffentlichkeiten vermitteln zu können – ihre ursprüngliche gesellschaftsbildende Funktion. Sie mutieren zu Reiz- und Aufmerksamkeits-Maschinen, deren Wirklichkeit sich immer mehr von der Realität abkoppelt und uns 24 Stunden am Tag in einen Erregungskokon einspinnt.
Der Erfolg des medialen »Immerschlimmerismus« ließe sich jedoch nicht erklären ohne unser aller Kollaboration.
In ihrem Buch The Power of Bad: How the Negativity Effect Rules Us and How We Can Rule It dechiffrieren zwei Kognitionspsychologen, John Tierney und Roy Baumeister, den Negativitäts-Effekt, der uns die Welt sozusagen a priori schlechtmacht. Das menschliche Hirn interessiert sich etwa viermal so viel für das Negative wie für das Positive. Wir sind »minusverzerrt«, magisch angezogen von allem, was Bedrohung verheißt. Eine Kakerlake in einer leckeren Suppe verdirbt die Suppe. Aber keine Suppe kann einen Haufen Kakerlaken lecker machen. Wir nehmen Gefahren ungleich deutlicher, plastischer, erregender wahr als Signale der Lösung und der Sicherheit.
„Um zu überleben, muss das Leben jeden Tag gewinnen. Der Tod hingegen muss nur einmal gewinnen. Ein winziger Fehler, eine Fehlkalkulation, kann alle unsere Erfolge auslöschen. Die Negativitäts-Bias ist ADAPTIV, ein Ausdruck, den Biologen für eine Eigenschaft nutzen, die die Chancen für das Überleben eines Individuums oder eine Gruppe erhöhen. In der Savanne, wo unsere Ur-Vorfahren als Jäger und Sammler lebten, waren diejenigen im Überlebensvorteil, die mehr Sorgfalt darauf verwandten, giftige Beeren zu identifizieren, als die leckeren zu genießen. Die Erfolgreichen waren mehr alarmiert von gefährlichen Löwen als angezogen von leckeren Gazellen. Die Freundlichkeit eines Mitmenschen zu schätzen war keine Frage von Leben oder Tod, aber eine Feindseligkeit zu übersehen konnte zum Auslöschen der ganzen Gruppe führen.(S.11).
»Negativity Bias« ist also letztlich etwas ganz Natürliches. Wir sind die genetischen Nachfahren der Vorsichtigen, der Nervösen, der Ängstlichen. Was in der Savanne unserer Urväter und -mütter nützlich war, kann in unserer modernen Welt jedoch das Gegenteil bewirken. Unser Hang zum Beispiel, möglichst viel zu essen, wenn der Tisch voll ist – man kann ja nie wissen, wann wieder was kommt! – führt angesichts übervoller Supermarktregale und hochkalorischem Industrie-Food zu epidemischen Übergewicht. Unsere natürliche Neugier, die dem Überlebenswillen entstammt, wird zur Erregungsfalle, wenn wir uns rund um die Uhr CLICKBAITEN lassen.
Dagegen helfen nur Formen weiser Ignoranz. Oder wissender Gelassenheit. MEDIALE EMANZIPATION wird das große Bildungsprojekt der kommenden Dekaden. Es wird ein schwieriges Projekt, denn es ist ohne höhere Selbst-Kompetenz, ohne die Verachtsamung des eigenen Innenlebens, nicht zu haben.
Possibilismus als Zukunfts-Heilung
Meine Zuversicht, dass diese Negativ-Spirale, die uns ja nicht nur die Laune, sondern auch die ZUKUNFT verdirbt, überwunden werden kann, liegt in der Tatsache begründet, dass Menschen immer auch Hoffnungswesen sind. So ängstlich und reaktionär wir auch in die Welt schauen – die Sehnsucht nach dem Besseren, die Vitalität des Kreativen, lässt sich nie ganz unterdrücken.
Wie sagte Mark Twain so schön? „Ich habe schon viele Katastrophen überlebt, die meisten haben nicht stattgefunden.”
Nach den Erkenntnissen der Positiven Psychologie, die auch Tierney und Baumeister vertreten, basiert unsere innere Zukunftsfähigkeit – unsere HOFFUNGSKOMPETENZ – auf der „Eins-zu Vier-Regel”. Paare bleiben glücklich zusammen, wenn die Erfahrungen zwischen den Partnern mindestens vier POSITIVE Zuwendungen im Verhältnis zu EINEM Konflikterleben enthalten. Diese Daumenregel der Liebe zieht sich über alle menschlichen Verhaltens- und Erlebensweisen. Sie betrifft unser Arbeitsleben ebenso wie unser Familienglück, unsere Alltäglichkeit wie die Zukunft des Ökologischen. Negativität ist auf Dauer nicht NACHHALTIG, sie ist lebensfeindlich und das macht sie instabil. Auch Trumps Tage sind gezählt, man kann die Uhr schon ticken hören.
Erst dadurch, dass man sich dem Positiven ZUWENDET, merkt man oft, dass es existiert. Wenn wir uns in der konkreten Wirklichkeit bewegen, mit anderen Menschen in Verbindung und Beziehung geraten, realisieren wir, dass die Welt weder ein Sündenpfuhl noch am Rand des Untergangs ist. Und dass WIR SELBST etwas damit zu tun haben, ob das Positive entsteht. Deshalb lohnt es sich, sich im Kleinen eine Ahnung zu gewinnen, was auch im Großen gelingen kann. Wenn ich in meiner Gemeinde / meinem Stadtteil / meiner Familie sozial INNOVATIV bin, sieht auch der weitere Horizont ganz anders aus. Auch anderswo gibt es Menschen, die sich für das Bessere engagieren. Anfangs reibt man sich überrascht die Augen: Wie kann das sein, dass gar nicht alles so verseucht, verderbt, apokalyptisch ist? Dass die Welt so erstaunlich schön ist, auch wenn das Schreckliche existiert?
Ich nenne diese Haltung, in der wir uns vom Destruktiven zum Konstruktiven wenden, den Possibilismus. Das hat nichts mit »Optimismus« zu tun – der huldigt oftmals nur der Ignoranz.
Possibilismus fußt auf der Gewissheit, dass auch etwas anderes MÖGLICH ist als das Befürchtete. Dass es sehr wahrscheinlich ANDERS kommt, als unser Befürchtungshirn es uns weismachen will. Possibilismus ist eine ALLOKATION unseres inneren konstruktiven Seins. Eine Entscheidung für die Zukunft.
Nehmen wir als Beispiel die große Herausforderung unserer Tage:
Klima-Possibilismus
Acht Regeln für einen zukunftsgerichteten Umgang mit Global Warming
Die globale Erwärmung ist ein Fakt. Es gilt also, das Phänomen als Problem anzuerkennen und sich un-hysterisch damit zu beschäftigen, wie DEKARBONISIERUNG stattfinden kann. Das heißt zunächst, das Jammern, Beschuldigen und Überzeichnen einzustellen und es für MÖGLICH zu halten, dass wir das Problem MODERIEREN können. Es heißt auch, anzuerkennen was fossile Technologien in der Vergangenheit für die Wohlstandsentwicklung der Menschheit getan haben.
Die Fähigkeiten des Einzelnen im Kampf gegen die Atmosphärenerwärmung sind beschränkt. Individuelle Verzichts-Strategien führen jedoch meistens zu verblüffender Erfahrung von STEIGERUNG der eigenen Lebensqualität. Einzelne Verzichtsstrategien sind jedoch allein nicht in der Lage, größere Wirkungen zu erzeugen. Diese entstehen nur durch die KOOPERATION und INTEGRATION staatlicher, wirtschaftlicher, technologischer UND individueller Strategien. Dazu benötigt es eines KULTURWANDELS in Richtung auf ganzheitliches Denken.
Klima-Widerstand beginnt damit, Verantwortung zu übernehmen. Verantwortung heißt, ein Problem nicht ständig ins Abstrakte zu delegieren. Es nutzt wenig, immer nur den »Kapitalismus« oder den »Neoliberalismus«, »die Politiker«, »Trump« oder »den dummen Konsum-Menschen, der zu blöd ist« zu beschimpfen. Ideologische Klimaleugner werden in ihren Wirksamkeiten überschätzt; es lohnt sich, sie zu ignorieren. Lokale und regionale Strategien sind hingegen sehr wirksam, weil sie einen Spill-Off-Effekt erzeugen und als Vorbild für das Gelungene dienen.
Jonathan Franzen hat Recht, wenn er sagt, dass der Klimawandel inzwischen unvermeidlich ist. Das beinhaltet aber keine fatalistische Haltung. Denn WIE WEIT die Temperatur steigen wird, ist einerseits ungewiss, andererseits probabilistisch voraussagbar. Extreme Verläufe der Klimaerwärmung, wie sie heute in den Medien bevorzugt werden, sind möglich, aber nicht wahrscheinlich. Die wahrscheinlichste Variante ist eine Erderwärmung um etwas mehr als 2 Grad, was eine starke Veränderung bedeutet, aber nicht unbedingt eine Mega-Katastrophe. Menschen können mit Umweltveränderungen umgehen, zumal wir heute bessere technische und organisatorische Voraussetzungen für globale Krisenbewältigung haben als unsere Vorfahren.
Greta Thunberg darf und muss Angst machen, um das Thema zu vitalisieren. Ihre Sympathisanten, und die GESAMTE Klimabewegung, sollten sich jedoch nicht auf Angststrategien, sondern auf Möglichkeitsszenarien konzentrieren.
Menschen sind durchaus fähig, miteinander zu kooperieren, um Katastrophen zu verhindern. Das zeigt die Verhinderung des Ozonlochs, das Schützen der Wale, die Nichtkatastrophierung von AIDS und die Entwicklung supranationaler Organisationen, der Wirksamkeit grösser ist als in der öffentlichen Wahrnehmung verankert ist.
Dekarbonisierung kann sexy und cool sein, sie braucht die Hilfe der Architektur, des modernen Designs und der genuinen menschlichen Kreativität, um attraktiv zu werden. Ökologie braucht eine neue Farbe, die sie aus der Verzichts- und Schuldlogik befreit. Dies nenne ich die BLAUE Ökologie, eine Ökologie der Fülle, der Schönheit und der Erweiterung von Möglichkeiten.
Wir sind nicht am Anfang. Es gibt in der Transformation zu einer postfossilen Welt längst eine Menge Erfolge, die im Rauschen des Negativen allerdings unsichtbar bleiben. Diese Boten der Zukunft sichtbar zu machen, ist die Aufgabe des Zukunftsforschers. Also von uns allen.
An diesem Jahresanfang werde ich von Journalisten öfters gefragt, ob ich als Zukunftsforscher die „Zukunft von Trump” voraussagen kann. Wird Donald Trump 2020 erneut gewählt? Wird er einen Krieg anzetteln, gar einen Weltkrieg? Wie geht es weiter mit dem Hass-Populismus, den Trump ja gewissermaßen als zorntwitternde Großmacht verkörpert, als eine Art Flaggschiff der Rechtspopulisten?
Es ist leicht, angesichts dieser Frage in die klassischen Prognosefehler zu verfallen, etwa »wishful thinking« – man wünscht sich etwas und macht es zur Voraussage. Oder man lässt seine düsteren Gefühle durch eine innere Apokalypsemaschine laufen und behauptet das Schlimmste, mit der unbewussten Hoffnung, erleichtert zu sein, wenn es nicht so schlimm kommt. Aber die Frage nach »Zukunft Trump« lässt sich auch als eine Art case study für die Möglichkeiten und Grenzen von Zukunftsforschung einsetzen. Was kann ganzheitliche Prognostik – Zukunftsforschung mit Hilfe von Komplexitätstheorie, Spieltheorie und anderen dynamischen Disziplinen – leisten? Kann sie ÜBERHAUPT etwas sagen zu solch komplexen und gleichzeitig konkreten Fragestellungen?
Um eine Antwort auf die Frage nach Trumps politischer Zukunft zu wagen, müssten wir viel Faktoren beziehungsweise »Systeme« analysieren bzw. prognostizieren.
Den Ausgang der amerikanischen Wahldynamik auf Grund des heute vorhandenen Wissens.
Eine systemische Analyse / Bestandsaufnahme des politischen Phänomens Trump in Bezug auf die amerikanische Gesellschaft.
Ein Modell der möglichen ERFOLGE seiner Politik: Kann er seine Versprechungen halten?
Ein Prognosemodell seiner VERHALTENSWEISEN: Wir er noch aggressiver, oder versucht er es im Wahlkampf mit einem weiteren Kurs?
Zu 1)
Vor zehn Jahren veröffentliche Nate Silver, ein Statistiker und Wahlforscher, eine viel beachtetes Buch mit dem Titel „The Art and Science of Prediction”.
Darin schildert der zeitweise bekannteste Daten-Prognostiker der USA seine Methoden zur Prognose von Sportergebnissen oder Wahlausgängen. Tatsächlich gelangen ihm einige Volltreffer: Er konnte mit seinen Systemen die Leistung und berufliche Entwicklung von Baseballspielern voraussagen und sagte er den Ausgang von zwei Präsidentenwahlen voraus, bis hin in die einzelnen US-Bundesstaaten. Das machte ihn berühmt und in der politischen Publizistik sehr begehrt.
Doch 2016 war alles anders. Nate Silver versagte völlig und hielt Hillary Clinton für die wahrscheinliche Wahlsiegerin. Heute arbeitet er dennoch für mehrere Medien als Statistik-Spezialist, (z.B. https://fivethirtyeight.com), ist aber sehr vorsichtig geworden, was Voraussagen betrifft. Politische Wahlen, so die Lehre von 2016, scheinen seit einigen Jahren anders zu funktionieren als früher; die Ergebnisse hängen mehr von brachialen Strategien in den Medien oder gar von ausländischen Eingriffen ab. Die Stochastik des Wahlgeschehens franst an den Rändern aus, chaotisiert sich und hat immer mehr mit Personen und immer weniger mit Parteien zu tun. Besonders stark ist dieser Effekt in Ländern mit Mehrheitswahlrecht.
Es lässt sich also kaum etwas mit reiner Wahlarithmetik ausrichten. Was aber ist mit einer prognostischen Einschätzung der KOHÄRENZ der Trump-Bewegung? Wie tief reichen die sozioökonomischen Wurzeln, die zu Trumps Wahlsieg führten und wie weit hat sich das in den letzten zwei Jahren verändert?
Alle Zahlen verraten uns, dass die Loyalität der Fans von Trump ungewöhnlich konstant hoch ist. Seine Beliebtheit schwankt nur wenig um die 36-Prozent-Marke. Das ist eher niedrig, aber erstaunlich konstant – eine Art Wagenburg hat sich hier gebildet. Trump hat das, was man eine »betonharte Gefolgschaft« nennt. Allerdings ist die nicht die Mehrheit. Was in einem postdemokratischen System allerdings wenig bedeutet.
Sind die Motive, die seine Wähler antrieben, geringer geworden? Die Methode Trump wird getragen von der Verzweiflung von Millionen Menschen über die Enttäuschung ihres Lebensmodells, ihrer Ziele, ihrer Träume. Der amerikanische Traum selbst ist in einer tiefen Krise, und das wütende Leugnen dieser Tatsache brachte Trump ins Weiße Haus. Seine Kern-Wählergruppen aus den Rust Belts des mittleren Westens und aus den rechten und reaktionären Milieus stehen heute noch stärker hinter ihm.
Die Auswirkungen seiner Politik sind weder im Positiven noch im Negativen real spürbar – es handelt sich sowieso überwiegend um Symbolpolitik, die nicht auf Veränderung, sondern auf rhetorischer Wirkung und Feindschaft basiert. Der Wagenburg- Effekt, der durch »narrativen Illusionismus« entsteht, ist soziopsychologisch weitgehend erforscht: er hat etwas mit der menschlichen Eigenschaft zu tun, enttäuschte Erwartungen nicht eingestehen zu können. Und mit dem tribalen Erbe der Spezies homo sapiens: In traumatischen Bedrohungsgefühlen versammeln wir uns um den vermeintlich Stärksten und Lautesten – den, der am lautesten trommeln kann.
Allerdings bietet gerade das auch die Möglichkeit für einen Gegeneffekt. Die letzten Präsidentenwahlen wurden weitgehend von der Wahlabstinenz der Unentschiedenen geprägt. Jetzt könnte es anders kommen – die Polarisierung schwappt zurück zugunsten einer Anti-Trump-Allianz. 83 Prozent der Anhänger der Demokraten betrachten die Entfernung von Trump aus dem Amt als enorm wichtig (und 43 Porzent der neutralen Wähler). Das Momentum, das Trump an die Macht hievte, scheint gebrochen.
Eine Charakterwahl also, in der es nicht um Politik, sondern um die NEGIERUNG (oder Verherrlichung) einer Person geht. In der jüngsten These der demokratischen Kandidatin Elizabeth Warren, dass NUR eine Frau Trump schlagen kann, ist etwas Wahres. Das unsäglich chauvinistische und bösartige Verhalten Trumps macht besonders urbane Frauen aus der Mittelschicht traurig und wütend. Das könnte reichen. Dieser Effekt macht eine Abwahl Trumps in einem Verhältnis 60 zu 40 wahrscheinlich.
Wie aber steht es mit den realen Erfolgen Trumps? Kann er halten, was er seinen Wählern versprach? Eine These hierzu könnte lauten: Darauf kommt es gar nicht an. Denn die Logik des Erfolgs von Trump basiert nicht auf Ergebnissen. Sondern auf Narrationen. Auf Posen. Auf Demonstrationen der Stärke, der Unbedingtheit, der Unbesiegbarkeit, der Wut. Fallen wird Trump, wenn dieses Bild Risse bekommt.
Um ein bisschen zu verstehen, welche Logik hier am Werk ist, kann man einen Umweg über die Spieltheorie machen. Spieltheorie handelt von der Voraussage von komplexen Verhandlungsprozessen, wie sie in Gesellschaften unentwegt vorkommen. Die Spieltheorie hat viele erhellende »Storyboards« hervorgebracht. Zum Beispiel das Gefangenen-Spiel, bei dem Verrat und Treue eine Rolle spielen – zwei Gefangene werden getrennt in Zellen gebracht und isoliert befragt. Oder die Konflikt-Modelle von John Maynard Smith, eines spieltheoretischen Ökonomen. Eines seiner interessantesten Spiel-Szenarien spielt auf einem (simulierten) Planeten. Es ist der Habicht-Tauben-Planet.
Stellen wir uns einen Planeten vor, der ausschließlich von netten, hübschen Tauben bewohnt, die immerzu freundlich miteinander kooperieren. Beim »Spiel« des Futterfindens teilen sie immer brav jeden Brocken. Sie gurren vorbildlich den ganzen Tag. Die solidarischen Grünen, die »Gutmenschen« bzw. »-vögel«, haben auf diesem Planeten gesiegt.
Man könnte jetzt meinen, dieser Planet wäre besonders stabil und ausgeglichen, wie wir uns das ja von im moralischen Sinne »guten« Systemen wünschen. Aber was auf der Taubenwelt entsteht, ist nicht Stabilität, sondern Statik. Wenn immer dasselbe Spiel gespielt wird, entwickelt sich keine Komplexität, keine Varianz, mit anderen Worten: keine Innovation. Und das macht das System anfällig.
Wenn es keine Bösewichte gibt, wird man nachlässig.
Kommt zum Beispiel ein Habicht vorbei, ist ziemlich schnell Schluss mit der Idylle. Ein solcher Raubvogel (oder besser zwei; noch haben die Habichte kein Cloning gelernt) wäre in der Lage, den Taubenplaneten innerhalb kurzer Zeit vollständig zu übernehmen. Denn er spielt das permanente Futterspiel einfach andersherum. Immer, wenn er auf Futter trifft, frisst er alles auf und verjagt die Tauben. Lassen wir dabei Übergewichtsprobleme und andere Spitzfindigkeiten außer Acht: Innerhalb kürzester Zeit hätte die Habichtpopulation den ganzen Planeten übernommen und die Tauben verhungern oder verstecken sich in den Büschen und ernähren sich von Abfall.
Kommt uns das irgendwie bekannt vor? HOPE stand auf den Plakaten von Obama. Ein Hoffnungsplanet. ZORN ist das ewige Motto des Habichts Trump…
Nun pendelt dieses Spiel auf Dauer aber auch wieder in die andere Richtung. Die Habichte fangen kurz nach ihrem Sieg an, sich gegenseitig zu bekämpfen. Die ständigen Rangkämpfe kosten Energie, die der Planet aber als Nahrung nicht hergibt. Sie würden auch irgendwann eine Widerstandsbewegung hervorrufen. Einige der Tauben entwickeln womöglich ein gutes Tarngefieder und können sich unsichtbar dem Futter nähern. Andere verbünden sich, bewaffnen sich und schlagen den Habicht in die Flucht. Oder aber sie gehen ins Sportstudio und entwickeln sich zu Taubichten, die manchmal Futter teilen, manchmal die Krallen zeigen. Die Erfindung einer Taubenpolizei, der Erlass von Gesetzen, der das Habichtverhalten reguliert, könnte auch helfen. Auch hier gilt: Ähnlichkeiten mit der herrschenden humanen Realität sind nicht beabsichtigt, aber auch nicht rein zufällig.
Die Allegorie lässt sich so auf die amerikanische Gesellschaft übertragen: Vor Trump war die US-Gesellschaft hochgradig kooperativ »codiert«, der gesellschaftliche Diskurs orientierte sich an der HOPE-Ästhetik von Barack Obama. Das deckte die gewaltigen Spannungen der amerikanischen Gesellschaft zu, und gegen diese »Lüge« rebellierten die Trump Anhänger mit der Wahl eines Rüpels, der „aber immer sagt was er denkt”.
Entscheidend wird also der Konflikt zwischen »Hopern« und »Changern« sein. Das Time-Magazin titelte neulich: “The real Battle Lines 2020: Hope Versus Change”.
»Hoper« sind jene in der demokratischen Partei – aber auch in der Gesellschaft – die auf einen weichen Weg setzten, auf langfristige Versöhnung, auf Werte, Kooperation und Diversität. »Changer« sind diejenigen, die anpacken und real VERÄNDERN wollen – und zwar am liebsten gleich das ganze System. Denn unter einem Systemwechsel werden die Probleme, die der amerikanische Traum in seiner welken Blüte hervorbringt, nicht moderiert werden können.
Bei den demokratischen Kandidaten kämpfen gerade die »Changer« gegen die »Hoper«. Bernie Sanders verspricht, ebenso Elizabeth Warren, einen »fundamental change«. während Buttigieg und Biden eher »Hoper« sind, die auf humanistische Rhetorik, Selbstorganisation und eben HOFFNUNG setzen.
Dass die Zeiten des empathischen Hoffens auf »Change« wiederkehren, ist unwahrscheinlich. Zu groß ist der Frust mit der Obama-Zeit. Die Demokraten hätten deshalb eher eine Chance, wenn sie einen »Macher« zum Kandidaten küren würden. Das aber würde die demokratische Mehrheitschance schwächen.
Es könnte sich bei »Trump und die Zukunft« sich also um ein so genanntes »Nash‘sches Äquilibrium« handeln – nach dem Mathematiker und Spiel-Theoretiker John Nash (seine Biographie wurde durch den Film „A Beautiful Mind”) bekannt). Ein solches Äquilibrium bildet einen Zustand, in dem in dem kein Spieler auf dem Spielfeld etwas gewinnen oder verlieren kann, wenn er etwas verändert. Eine »Systemische Starre«, aus der es keinen »vernünftigen« – also prognostizierbaren – Ausweg gibt.
Eine fanatische Minderheit steht zu Trump wie der Teufel zu sich selbst. Die Republikaner brauchen Trump – sonst würde die Partei zerbrechen. Die Demokraten brauchen Trump, um ihre innere Zerrissenheit zu kaschieren. Die amerikanische Gesellschaft braucht Trump als Nemesis UND Hassobjekt – eigentlich für ihren Selbsthass. Ein immerwährendes Karussell.
Bleibt Trump selbst. Wie berechenbar sind seine Handlungen? Knallt er irgendwann endgültig durch? Wie weit kann er die Aura des Erfolges, der Unbesiegbarkeit aufrechterhalten? Seine Taktik, das hat sich inzwischen endgültig herausgestellt, ist paradoxal, aber höchst wirksam. Er verhandelt alles tatsächlich so, wie er es auf seinen Baustellen als Immobilien-Tycoon verhandelte: Den Gegner unter Druck setzen, eskalieren, und dann zurückrudern. Maximale Drohungen folgen maximalen Umarmungen. Solcherart hyperchaotische, paradoxale Strategien sind im Prinzip unbesiegbar, weil sie keine Rationalität, keinem stringenten Erwartungsmuster folgen. Die Gewinne erfolgen bisweilen durch Zufälle, wie der Abschuss des ukrainischen Flugzeuges über Teheran. Wenn für Trump etwas schiefgeht, sind die anderen schuld. Wenn etwas – meist ebenfalls durch Zufall – gelingt, ist er der Held.
Am Ende ist Trump der einzige, der Trump zu Fall bringen kann. Das ist gar nicht unwahrscheinlich, denn je länger er seinen Furor im Weißen Haus veranstaltet, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit von Fehlern, Irrtümern, kleinen Zufällen, die sich aufschaukeln. Oder irgendetwas aus seiner Vergangenheit taucht doch noch plötzlich auf. Das energetische System Trump läuft laufend am Limit und dadurch wird es zwangsläufig instabil. Das Impeachment treibt ihn nicht aus dem Amt, macht ihn aber nervös.
Auf Dauer werden die gestapelten Risiken seiner Chaosaktionen und seines Blutdrucks auf Trump zumarschieren wie Birnams Wald in Shakespeares Macbeth. Die Wahrscheinlichkeit, dass er in einem irren Drama, oder in Krankheit abtritt, ist hoch. Hysterische und narzisstische Menschen wie er müssen ständig ihre Handlungen steigern und das führt irgendwann automatisch ins Desaster. Fast möchte man ihm eine zweite Amtszeit WÜNSCHEN, damit dies deutlich werden kann: Der tobende Kaiser hat gar nichts an. Und genau das ist das wahrscheinlichste Szenario: Trump wird wiedergewählt, aber dann geht ziemlich schnell irgendetwas schief, denn auch, nein gerade für den Meisterspieler auf der Klaviatur der Umdeutungen gilt: shit happens!
Wie wir die 20er Jahre klüger begrüßen können als mit Nostalgieshows oder Zukunftsangst
Ein Jahrzehnteanfangstext
Es ist seltsam, wie hartnäckig sich unser Geschichts- und Zeitgefühl nach Jahrzehnten sortiert: Die 60er, die 70er, die 80er, die 90er Jahre – rund um die Uhr dudelt im Radio derart katalogisierte Musik, versetzen uns Serien und Dokumentationen in die jeweiligen »Zeitalter«: Tütenlampen / Plateausohlen / Schlaghosen / 99 Luftballons / Vokuhila / Mauerfall / Winds of Change / Lady Gaga.
Wir werden nicht müde, uns in ewigen Rückblenden jene Erfahrungen zu erzählen, die wir gewohnt sind. Dabei runde Zahlen zu benutzen, vermittelt das Gefühl von SINN und Ordnung. Auch wenn Jahrzehntwenden in Wahrheit rein fiktive Ereignisse sind, können sie uns doch Orientierungshilfen bieten. Sie ermöglichen ein Innehalten, ein Erkennen: Was ist in in einem Zeitraum von zehn Jahren wirklich geschehen? Wie hat sich die Welt verändert – und vor allem: wir uns in ihr?
Offenbar leben wir in einer Zeit dämonischer Furcht vor der Wiederkehr alter Schrecken. „Sind wir heute nicht wieder in einer Situation wie vor hundert Jahren?” – so lautet eine beliebte Frage in den meist düsteren Talkshows. Fängt nicht alles wieder von vorne an – Wirtschaftsschwäche, Schuldenkrise, Massenhysterie, Diktatur, Weltenbrand? Laurie Penny, eine amerikanische Publizistin, brachte das panische Zeit-Gefühl so auf den Punkt:
Wenn wir uns mit dem aktuellen Moment der modernen Geschichte beschäftigen, fühlt sich das an wie eine endlose Panikattacke. Fluten, Feuer, Wahlen. Impeachment-Anhörungen, eine Flut von grinsenden autoritären Shitclowns, die jeden verhöhnen, der sie davon abhalten möchte, die Welt in Einzelteile zu zerlegen. All das implodiert in einer Art hektischer Immanenz, einen Kollaps von Zeitlinien. Im Moment ist das, was viele von uns erfahren, eine Art Kultureller Depression, ein „Fieber im kollektiven Kopf”. Eines der Symptome von Menschen mit Depressionen ist die Unfähigkeit, sich die Zukunft vorstellen zu können. Das heißt nicht, dass sie sich nicht vorstellen können, dass jemals wieder etwas Gutes passiert – sie können nur keine »ganze« Zukunft mehr imaginieren.
Tatsächlich scheint uns im vergangenen Jahr die Zukunft im Sinne eines Besseren abhandengekommen zu sein. Obwohl, oder gerade, weil ZUKUNFT – groß geschrieben! – ein unendlich inflationierter Begriff geworden ist: Auf allen Business-Broschüren, Plakaten, Anzeigenkampagnen taumeln grinsende Roboter unter dem ZUKUNFTS-Logo durchs Bild, auf den Werbeplakaten fahren SUVs unaufhörlich in die ZUKUNFT (weite Landschaften, leuchtendes Grün), alle Parteiprogramme wimmeln von ZUKUNFTs-Phrasen. Aber je mehr der Zukunftsbegriff zum Allgegenwarts-Wort wird, desto hohler erscheint er in seinem Inneren.
„Wenn das Böse kommt, dann sicher nicht in Gestalt eines SIE, als etwas Fremdes, das wir leicht von uns weisen können. Es wird in Gestalt eines WIR kommen.”
Karl Ove Knausgård
Das liegt nicht an der Ökonomie, stupid. Auch nicht wirklich an der Politik. Es liegt an einer radikalen Veränderung der Wahrnehmungsformen – an einem Verlust dessen, was wir gemeinhin »Realität« nennen.
Das Jahrzehnt der Negativität
Aus dem großen Trend zur Individualisierung hat sich, befeuert durch das Digitale, ein neues Massenphänomen entwickelt: Die subjektiven Total-Entäußerung. Wir leben seit rund zehn Jahren in einer Epoche, in der alles Private, Subjektive, Gefühlte und Gemeinte nicht nur unentwegt ausgestellt, sondern auch benutzt, gesteigert und »gestylt« wird. Wie Hans Magnus Enzensberger es in seinem jüngsten Altersbuch mit melancholischer Milde ausdrückte: „Anthropologische Veränderung: Nicht nur, dass es früher klinisch kranken Leuten vorbehalten war, im öffentlichen Raum ihre intimsten Probleme und Obsessionen lauthals preiszugeben. Auch eine neue Gestik ist zu beobachten. Fast überall führen Menschen Geräte mit sich, zu denen sie ein erotisches Verhältnis pflegen. Sie wischen, fummeln, wedeln und stöpseln, kitzeln, streicheln, knuddeln und massieren, was bei Unbeteiligten, sofern es sie gibt, ein Gefühl der Fremdscham hervorruft.&rfquo; (Nur ein Notizbuch).
Die Prophezeiung der Always-Online-Kultur hat sich voll und ganz bewahrheitet. Damit sind wir ins Zeitalter der HYPERMEDIALITÄT eingetreten. Hypermedialität bedeutet, dass Medien nicht mehr Wirklichkeiten und Öffentlichkeiten reflektieren und vermitteln. Sondern dass sie Realitäten auf direktem Wege herstellen.
Übertreibung ist die Wahrheit, die ihre Laune verloren hat.
Khalil Gibran
Über den Skandal in der Talkshow schreiben die Zeitungen am nächsten Morgen, worauf ein shitstorm entsteht, über den in den Zeitungen berichtet wird, worauf eine Welle von Talkshows das Thema aufgreift. Dieter Nuhr erregt sich über die Empörung, die seine Empörung über Empörungen erzeugt. Mikroaggressionen werden zu Kampagnen, Hass reagiert auf Hass, Vermutung auf Vermutung. Die harte Währung dieser Schreckensökonomie ist die Angst, ihre Gestalt ist die »Meineritis«, eine Art Entzündung der Diskurskanäle der Gesellschaft. Felix Stephan brachte es in der Süddeutschen so auf den Punkt: „Wir leben in einer öffentlichen Arena, die darauf angelegt ist, dass die Debatte ständig eskaliert aber auf keinen Fall vom Fleck kommen darf.”
„Die Digitalmoderne liefert keine verbindlichen kollektiven Bilder, keine »Erzählungen der Zukunft«, zumeist nur Trennendes, nur Hass und Zwietracht und Fake News.” so formulierte es die Literatur-Nobelpreisträgerin Olga Tocarczuk bei ihrer Dankesrede in Stockholm.
Nennen wir es eine KOGNITIVE KRISE. Wir wissen nicht mehr, was wahr ist, und zunehmend auch nicht mehr, was Wahrheit eigentlich bedeutet (eine Wirklichkeit, auf die wir uns einigen können). »Realität« – als jener Zusammenhang, zu dem wir uns als Menschen, als Gesellschaft in Beziehung setzen können, scheint zu verschwinden. Aber wie jede Entwicklung der menschlichen Kultur erzeugt auch diese eine Gegenkraft. Im Schrecken des aktuellen Problems verbergen sich immer schon die Lösungen von Morgen.
Das Neue Innen
Hinter dem Lärm der Erregungs- und Gefühlsorgien waren die Zehner Jahre auch ein Jahrzehnt der neuen Innerlichkeit. Psychologie war der heimliche Gewinner; auch die Philosophen erlebten ein Comeback. Einer der großen Bestseller der Dekade war Daniel Kahnemanns „Schnelles Denken, Langsames Denken“, ein Buch über die Art und Weise, wie wir kognitiv Wirklichkeit konstruieren. Daniel Kahnemann: Schnelles Denken, langsames Denken
Selbst Yuval Noah Hararis Zukunfts-Epos „Homo Deus”, das den Posthumanismus in verdaubarer Dosis präsentiert, wendet sich am Ende der Internalität zu: im letzten Kapitel empfiehlt der Autor Meditation als allein wirksame Weltordnungstechnik. Die eigentliche, die latent mächtige Frage der Dekade lautete: Wer SIND wir eigentlich? Yuval Noah Harari: Homo Deus: Eine Geschichte von Morgen
Die Menschheit kann nie sehr viel Wirklichkeit vertragen.
T.S. Eliot
Meditation und Yoga sind heute anerkannte Kulturtechniken, die selbst in Behörden betrieben werden. Buchtitel wie „Gelassenheit“ und „Würde” erreichen Millionenauflagen (überhaupt wird wieder mehr analog gelesen – wurde uns nicht noch vor kurzem prophezeit, dass Bücher »demnächst« nur tote Bäume sind?). Der Begriff der Achtsamkeit hat sich zu vielleicht größten Sehnsuchtsbegriff unserer Tage entwickelt. Großunternehmen ernennen Achtsamkeits-Manager, und Millionen Menschen sind gerade dabei, der medialen Erregungs-Hydra den Rücken zu kehren.
Wenn Richard David Precht uns auffordert, „Achtsam zu sein und das eigene Gehirn in Sicherheit zu bringen”, formuliert er einen Kernwunsch unserer Zeit: die Sehnsucht nach mehr Freiheit zwischen Reiz und Reaktion (der berühmte Psychiater Victor Frankl). In gewissem Sinne kehren wir damit zurück zu Bewusstseinsfragen der 60er und 70er Jahre: Wie können wir uns als Individuen so verändern, dass auch ein gesellschaftliches WEITER ermöglicht wird? Wie werden wir unabhängiger, freier von den Konditionierungen der Konsum- und Mediengesellschaft? Der Begriff, der damals wichtig war und demnächst eine Renaissance erlebt, lautet: Emanzipation – im Sinne des Ausstiegs aus der erlernten Unmündigkeit.
Die Demenz des Digitalen
Die große Story, der revolutionäre Mythos dieses vergehenden Jahrzehnts war ohne Zweifel der Digitalismus. Diese Ideologie hatte magische Geschichten zu bieten, Narrative von höchster Faszination: Künstliche Intelligenz, Smart Living, Bitcoin- und Blockchain-Mirakel, Virtuelle Wunder, Internet der Dinge und erweiterte Realitäten. Im Rausch des »Dataismus« nahmen die Errungenschaften der Computertechnik bisweilen halluzinative Formen an, bis zum Status einer semireligiösen Erlösungsphantasie. Bis er erst vor Kurzem dem wich, was man »digitale Ernüchterung« nennen kann, oder auch den digitalen Katzenjammer.
In den USA begann dieser Ernüchterungs-Prozess schon Jahre früher. WIRED, das Leitmagazin des digitalen Pop, prägte im Trump-Wahljahr 2016 den Begriff »Techlash«, eine Mischung aus »Backlash« und Technik. Pünktlich zur Jahrzehntwende veröffentlichte WIRED jetzt eine melancholische Rückwärts-Bilanz der digitalen Revolution:
„Wenn man durch die ersten 25 Jahre WIRED blättert, fällt auf, dass die Zukunft niemals gleich verteilt wird. Die Zukunft hört einfach nicht auf, anzukommen, zu mutieren… Zurückblickend auf WIREDs frühe Visionen der digitalen Zukunft erscheint als größte Fehler die Annahme, dass die Ökonomie des Überflusses die sozialen und ökonomischen Ungleichheiten beenden würde. 1997 argumentierte John Katz, dass wir „Zeugen einer neuen Gestalt von Nation sind, der DIGITAL NATION – und die Formung einer postpolitischen Philosophie. Die Digitale Nation zeigt den Weg zu einer rationaleren, weniger dogmatischen Politik. Die Informationen der Welt sind befreit, und in Folge werden auch WIR befreit sein!“ …Wir würden alle Millionäre, alle Kreative, alle würden wir vernetzte Kollaborateure. Doch was als tiefe Einsicht in das Wesen von Bits und Atomen begann verwandelte sich kurzerhand in eine Goldgrube für Investitionskapitalisten, um große, lukrative Märkte durch die Unterwanderung von Regulationen zu erobern. Aus der Sharing -Ökonomie von gestern wurde die Gig-Ökonomie von heute.” www.wired.com
Am Anfand der Zehner Jahre waren die Banker die verhassteste gesellschaftliche Gruppe. An ihrem Ende waren es die Tech-Tycoons aus dem Silicon Valley. Heute wird das digitale Wunder-Lied nur noch in einer bayerischen Partei, auf FDP-Parteitagen und auf den ewigen IT-Konferenzen mit 90 Prozent Männeranteil gesungen. Besonders die Autoindustrie gaukelt uns weiterhin vor, Mobilität könne durch »Digitalisierung« gewonnen, beziehungsweise ZURÜCKgewonnen werden. Inzwischen ahnen wir: In Zukunft stehen wir dann eben digital im Stau.
Der Abschied vom digitalen Utopismus heißt natürlich nicht, dass digitale Technologien wieder verschwinden. Aber wir treten in eine neue Phase ein, in der das Digitale Universum einerseits selbstverständlich wird, andererseits qualitativ NEU konstruiert werden muss. Die Zähmung und Zivilisierung des Internets steht bevor. Auch das ist im Grunde ganz normal: Neue Techniken erzwingen UND erzeugen immer auch neue Soziotechniken – erst durch die damit verbundenen Krisen evolutionieren nach und nach intelligentere Systeme, die man in der heutigen Sprache »nachhaltig« nennt.
Greta Thunberg oder das Gefühl der Eindeutigkeit
Womit wir bei Greta Thunberg wären.
Immer in turbulenten Übergangszeiten tritt scheinbar aus dem Nichts eine charismatische Symbolfigur – ein Zukunfts-Avatar – auf die Bühne der Weltgeschichte. Jeanne D’Arc, Gandhi, John F. Kennedy…
Dabei kommt es weniger darauf an, ob diese Personen tatsächlich »Erfolg« haben. Je umstrittener, ja verhasster sie sind (Kennedy wurde sogar erschossen), desto wirksamer weisen sie die Richtung auf den neuen zivilisatorischen Code.
Als Aspergerin verfügt Greta über die seltene Gabe, die vielen »Abers« und »Wenns« zu ignorieren, die mit der Klima-Herausforderung zusammenhängen. HOW DARE YOU DESTROYING OUR FUTURE! Eine solche Haltung macht die Welt wieder frisch, weil sie sich nichts mehr einreden lässt.
Bei Menschen, die noch nicht völlig verbittert sind, entsteht dabei eine heilsame Wirkung, eine Katharsis, die ins Neue führt. Wir erkennen plötzlich schamvoll, dass sich mit dem ungeheuren (und unbestreitbaren) Erfolg des Industrialismus eine fatale Verstrickung verbindet. Die exzessive Nutzung fossiler Energien ist nicht nur ein Nebenaspekt unserer Lebensweise, sie ist der Kern eines Welt- und Naturverständnisses, das in die Sackgasse führt. Unsere Gesellschaft selbst ist auf gewisse Weise FOSSIL geworden. Der brutale Ökonomismus, der sich in der Verteidigung des »Extrahismus« zeigt, hält uns den Spiegel vor. Wir sind alle Junkies eine Lebensweise, die weder uns noch der Natur guttut.
Gegen alle Widerstände (ja gerade MIT ihnen) wird sich das ökologische Mem in diesem Jahrzehnt zum Schlüssel der zivilisatorischen Weltwahrnehmung entwickeln. Allerdings wird es sich dabei auch selbst verändern müssen. Verzicht und Vermeidung mögen vorübergehend notwendige Antworten sein. Aber der wahre GREEN DEAL tritt erst in Kraft, wenn das Ökologische zu einer Befreiungs- und GESTALTUNGS-Idee wird. Ökologie berührt nicht nur die Frage der stofflichen Kreisläufe, der Gestaltung der Mensch-Natur-Zusammenhänge. Sie betrifft auch Eigentums- und Demokratiefragen. Kommunikationsstile und Selbstbilder, Wertedimensionen und Lebensweisen, nicht zuletzt auch das Verhältnis der Geschlechter.
Die besondere Attraktivität des Ökologischen besteht darin, dass sie uns als Menschen, als Erdbewohner, auf neue Weise IN BEZIEHUNG setzt – was der ZEIT-Autor Bernd Ulrich in seinem Buch „Alles wird anders” mit dem Begriff »menschheitsneu« bezeichnet. „Mit der Klimakrise werden die Menschen in einer existentiellen und ganz praktischen Weise zueinander in Beziehung gesetzt und so auf neuer Stufe vermenschheitlicht.”
Kein Wunder, dass der populistische Nationalismus diese Idee mit jeder Faser bekämpft!
Probleme, die die Vergangenheit erzeugt hat, lassen sich jedoch nie mit den Mitteln der Vergangenheit lösen. Sondern immer nur auf einer neuen Stufe des Zusammenhangs. Der chinesische Autor Liu Cixin ist zu einem Superstar des Science-Fiction-Genres geworden. In seinem Opus „Die Wandernde Erde” (in einer wunderbar kitschigen Verfilmung bei Netflix zu sehen), macht sich »die Menschheit« gemeinsam auf, die vom Untergang bedrohte Erde zu retten. Das ist pathetisch, kindlich, und manchmal richtig rührend. Der chinesische Nationalismus erweist sich dabei als dienend und emphatisch. Die entfremdeten Generationen finden wieder zusammen. In der Wiedereroberung ihrer Zukunft läuft »die Menschheit« zu ganz neuen Formen der Kooperation auf. Sie konstituiert sich selbst.
Die Zwanziger Jahre des Einundzwanzigsten Jahrhunderts werden die Tür zu einem einzigen blauen Planeten dazu weiter aufstoßen, aller Hysterie, allem besserwisserischen Zynismus und aller Untergangsangst zum Trotz. Wir sind mittendrin in einem Wandel, den unser furchtverliebtes Hirn immer noch als Katastrophe missversteht.
Wie die kommende High-TechÖkologie unsere Zukunft formt
1. Die Macht der Meme
Wie entsteht eigentlich Wandel? Gemeint sind hier nicht kurzfristige Trendphänomene, sondern tiefer, grundlegender Wandel – BIG SHIFTS, in denen sich ALLES verändert: Wirtschaft, Kultur, Politik, das ganze Wertesystem, das Denken, sogar die Weltwahrnehmung der Menschen. Solche Transformationen geschahen vor 8000 Jahren, mit dem Übergang vom Jäger- und Sammler-Dasein zur Landwirtschaft. Im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, dem Zeitalter der Renaissance. Oder zwischen 1850 und 1900, als die Industriegesellschaft die agrarische Gesellschaft ablöste. Solche Übergänge verlaufen nie bruchlos, immer kommt es zu Ungleichzeitigkeiten, Turbulenzen, Unruhen. Typisches Anzeichen: Wir erkennen die Welt nicht wieder, und uns selbst auch nicht. Denn das Alte hat noch nicht aufgehört, und das Neue noch nicht wirklich begonnen.
Genau dort stehen wir heute: Im Wandel vom INDUSTRIELLEN zum ÖKOLOGISCHEN Zeitalter. Es geht darum, einen Abschied zu organisieren: den Abschied von der FOSSILEN ÄRA, in der die Macht der Kohlenwasserstoffe uns eine rasende Erhitzung der menschlichen Systeme beschert hat. Natürlich fällt uns das schwer. Das hat mit Gewohnheiten zu tun, aber auch mit gedanklichen Modellen, „wie die Welt zu sein hat”. Wie sie aber nie mehr wird.
Der Widerstand ist stark. Er organisiert sich in Windkraft-Hassern, AFD-Klima-Leugnern, in Lobbys, die Wut organisieren und auf die Straße bringen. In Ignoranz und Zynismus, in Verweigerung und Negativität.
Wenn das Neue bevorsteht, steigt vorübergehend die Macht des Alten.
Um epochale Übergänge besser zu verstehen, ist es hilfreich, sich mit den MEMEN beschäftigen. Das Wort, von dem Evolutionsbiologen Richard Dawkins popularisiert, entstand in bewusster Anlehnung an die GENE: Während GENE die biologische Evolution codieren, entwickeln sich MEME im Inneren der humanen Kultur. In Wikipedia heißt es:
Das Mem (Neutrum; Plural: Meme) bezeichnet einen einzelnen Bewusstseinsinhalt, zum Beispiel einen Gedanken. Es kann durch Kommunikation weitergegeben und damit vervielfältigt werden und wird so soziokulturell auf ähnliche Weise vererbbar, wie Gene auf biologischem Wege vererbbar sind. Ganz entsprechend unterliegen Meme damit einer soziokulturellen Evolution, die weitgehend mit denselben Theorien beschrieben werden kann wie die biologische: Selektion, Mutation und Adaption.
Bekannt wurden Meme zunächst als nerdige »Memes« im Internet – Kulturelle Schnellcodes wie Katzen, die so reden wie Trump, ironische Wortspiele und zynische Witze. Aber »richtige«, komplex ausgewachsene Meme – so genannte MEMPLEXE – umfassen viel mehr. Sie sind „Ideen, Überzeugungen, Verhaltensmuster” (Richard Dawkins). Sie beinhalten Wertekonstrukte, Weltbilder, Mythologien. Es sind die Codes, mit denen wir der Welt einen Sinn geben, und mit deren Hilfe wir die Zukunft sehen können. Sie äußern sich in folgenden Phänomenen:
Latenter Wertewandel: Epochale Umbrüche kündigen sich durch Werte-Shifts an, die länge Zeit in der Gesellschaft »schlummern«. Am Anfang sind es nur Avantgarden, kleine Gruppen, die einen abweichenden Werte-Set annehmen und zunächst an etablierten Mehrheiten scheitern. Aber an bestimmten TIPPING POINTS greifen die neuen Codes auf den Mainstream über. Auf diese Weise ist das ökologische Denken in den letzten Jahren aus seinem Getto ausgebrochen und hat weite Teile der Gesellschaft erfasst.
Komplexitätsweisende Krisen: BIG SHIFTS entstehen, wenn ein etabliertes sozioökonomisches System sich erschöpft hat. So, wie Europas Ritter-Fürstentümer im 16. Jahrhundert oder die Monarchien Europas um 1900. »Komplexitätsweisend« ist eine Krise immer dann, wenn sie auf eine höhere Ebene der Lösung verweist. Genau eine solche Krise ist GLOBAL WARMING: Das Problem der Erderwärmung lässt sich nicht mehr mit den Mitteln industrieller oder nationaler Strategien lösen, sondern nur durch GLOBALE Kooperation – und radikal andere Produktionsweisen.
Wütender Widerstand: Das Auftauchen eines neues Groß-Mems provoziert wütenden Widerstand. „In Zeiten der Veränderung steigt die selektive Wahrnehmung”, schreibt Wolf Lotter in Brand Eins. „Vereinfachung, Lagerdenken und das Setzen immer engerer Rahmen sind bewusstseinsreduzierende Drogen.” Genau das erleben wir heute im Furor des Rechtspopulismus, der Hysterisierung der Medien, der Polarisierung der Zukunftsdebatte.
Ikonen des Morgen: Als Vorboten solcher Transformationen treten scheinbar aus dem Nichts heraus Symbolfiguren auf den Plan – Propheten des Kommenden. Man denke an Jeanne D’Arc, Gandhi, Kennedy, Che Guevara. Greta Thunberg ist eine solche Person. Solche Persönlichkeiten werden immer mit Hass UND Bewunderung verfolgt, sie SPALTEN die Wahrnehmungen, und genau das ist ihre Aufgabe. Denn erst wenn sich Welt-Wahrnehmungen spalten, können wir die DIFFERENZ erkennen, um die es geht.
Damit ein epochaler Übergang aber tatsächlich stattfinden kann, muss noch etwas anderes passieren: Das Mem, das den Wandel einleitet, in diesem Fall das ökologische Mem, muss sich SELBST verändern. Es muss die Form eines MYTHOS annehmen.
Die Frage ist heute: Wie wird Ökologie, »das Ökologische« oder »das Grüne«, wahrgenommen, prozessiert und kulturell codiert? Als bloßer Naturschutz? Als Restriktion und Diktat menschlicher Handlungen? Oder als Öffnung und Befreiung – als Fortschritt in einem neuen Sinne? Meme können nur die Gesellschaft durchdringen, wenn sie echte ZUKUNFT in sich tragen.
2. Die Grüne Ökologie
Die Ursprünge der GRÜNEN, also der reinen Natur-Ökologie lassen sich bis in die Naturromantik des frühen 19. Jahrhunderts zurückverfolgen. „Alles ist Wechselwirkung” formulierte schon der Universalist Alexander von Humboldt, der die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Natur voraussah. Zurück-zur-Natur-Bewegungen begleiteten die gesamte Industrialisierung. Schon um 1900 gab es die ersten vegetarischen Landkommunen (etwa auf dem Monte Verita in Ascona). Ihre erste Breitenwirkung entfaltete die ökologische Bewegung jedoch erst im Zenit des westlichen Wirtschaftsbooms – in der Blüte der Hippie- und Alternativbewegung. Damals entstanden nicht nur die Grünen als politische Partei, sondern auch ein neues, postmaterielles Weltbild, das nach dem Verhältnis des Menschen zur Natur fragte und das industrielle Konsum-Primat in Frage stellte.
In den grünen Bewegungen der 70er und 80er Jahre bildete sich ein stabiles, über die Zeit aber stagnierendes postmaterielles Kulturmilieu aus, und zwar nicht nur in den Müsli-Hochburgen von Kreuzberg oder Altona. In jeder Kleinstadt, in jedem Dorf Europas leben seit einem halben Jahrhundert Menschen, die die technische Zivilisation, den »linearen Industrialismus«, skeptisch betrachten. Im Lauf eines halben Jahrhunderts hat sich daraus so etwas wie eine Ökologische Klasse entwickelt: Wissensarbeiter, liberaler Mittelstand, Auf- und Aussteiger in Kreativberufen, Teile des Digital-Milieus und »humanistische Ältere« bilden heute ein weitgehend globalisiertes Milieu, das viele Prominente und zunehmend auch Unternehmer umfasst. In der Friday-for-Future-Zeit, gewinnt dieses Milieu schubartig an Deutungsmacht. Die grüne Partei ist auf dem besten Weg, die dominante Partei der Mitte zu werden. Das stellt die Machtfrage auf neue Weise – und führt, wie wir deutlich sehen, zu heftigen Abwehrreaktionen.
Aber woran lag es, dass die grünen Ideen (mit Ausnahme des Kernkraft-Ausstiegs in Deutschland) bislang so randständig blieben?
Ökologie in ihrer grünen Form hatte stets drei weltanschauliche Basis-Ideologien: Erstens das Dogma der existentiellen Knappheit. Die Weltmodelle des Club of Rome, dessen legendärer Bestseller „Die Grenzen des Wachstums” das grüne Denken formte, basierten auf Modellen einer fundamentalen Rohstoff- und Ressourcenknappheit, die alle menschlichen Aktivitäten radikal begrenzt. Devise: Es kann NIE für alle reichen!
Zweitens fußte »das Grüne« auf einer Romantisierung der Natur als »heile«, ja heilige Welt. Darin spiegeln sich alte religiöse Muster, Ursprungs-Mythen, die nicht nur im Christentum eine Rolle spielen. Vor dem »Sündenfall« lagen im Paradies Lamm und Löwe friedlich nebeneinander – bis das sündhafte Verhalten der Menschen Unordnung bringt.
Daraus entwickelt sich – drittens – die SCHULDLOGIK des grünen Ökologismus.
3. Das Grüne Öko-Mem
Hier trifft sich die grüne Denkweise irgendwann mit konservativen und reaktionären Denkweisen: Wir sind zu viele Menschen auf dem Planeten, wir treiben »Raubbau« – schon durch unsere nackte Existenz. Von hier aus führt ein direkter Pfad in die Menschenfeindlichkeit, wie sie heute die »Antinatalisten« predigen: Menschen sind so schnell wie möglich zu begrenzen und zu eliminieren.
Das Dreieck aus Schuldlogik, Knappheitsdenken und Romantisierung macht »das Grüne« zu einer Selbst-Negation. „Wenn wir uns eine Welt vorstellen, in der überhaupt keine Ressourcen mehr verschwendet würden”, so schrieb neulich eine grosse deutsche Wochenzeitung, „dann sähen wir vor uns, wie Menschen in naturbelassenen Kleidern in selbstgepflückte Biofrüchte beißen, auf selbstrecycelten Fahrrädern ihre Ferienreise nur ins nächstgelegene Mittelgebirge machen; und zum Einkaufen gehen sie, wenn sie überhaupt etwas einkaufen, mit einer zehn Jahre alten, selbstgeflickten Tasche aus heimischem Hanf … Etwas Neues kommt nicht mehr, weil nämlich für alles Neue auch neue Ressourcen erschlossen werden müssten”.
Natürlich ist das zugespitzt, polemisch. Aber so sieht die Welt tatsächlich aus, wenn Vermeidung zum Grundgedanken des Lebens wird. Knappheits-Ideologien schaffen immer Verteilungskämpfe: Wer MUSS verzichten? Wer DARF noch etwas? Wenn mit der Ökologie keine Öffnung, keine neue Freiheit verbunden ist, fehlt ein entscheidender Faktor, ein dynamisches Moment, das Bewegungen des Wandels dringend benötigen: Energie und Vitalität, Hoffnung auf das Neue und BESSERE. Nur wenn sich das ökologische Super-Mem in DIESE Richtung verändert, kann es erfolgreich sein.
Die Blaue Ökologie begreift Ökologie nicht als Zwang zum Verzicht, sondern als lustvolle Befreiung vom Zuviel.
Was wäre, wenn die klassischen grünen Prämissen nicht stimmen? Wenn die Natur weder »harmonisch« wäre noch die Rohstoffe wirklich begrenzt – und wir nicht schon durch unsere pure Existenz »Sünder am Planeten« wären? Dann begänne ein anderes Zukunfts-Spiel. Dieses Spiel ist die BLAUE Ökologie.
Blau ist die Farbe des Horizontes, der Atmosphäre, des offenen Meeres, auch des Technologischen. Dabei geht es aber nicht um den Glauben an eine Wunder-Technik, die das CO2 wieder aus der Atmosphäre saugt. Blaue Ökologie handelt von intelligenteren Systemen, in denen wir mit Natur und Technik in eine neue Beziehung treten. Auf dem Weg dorthin hilft es, Natur auf tiefere Weise zu verstehen – etwa in der Differenz zwischen Effektivität und Effizienz. Zwei Worte die gleich klingen, aber etwas völlig anderes meinen.
4. Effizienz vs. Effektivität
Effizienz ist immer der Versuch, ein (Teil-)System zu OPTIMIEREN. Immer mehr herauszuholen. Es sozusagen auszuquetschen. Das treibt das System, und seine angrenzenden Systeme, unweigerlich in Richtung Entropie. Man versucht, mit immer weniger Input MEHR Autos, MEHR Kalorien, MEHR mediale Wirkung zu erzeugen. Man pumpt das Schaf so lange auf, bis es platzt. Man überhitzt es. Das ist der Kern fossil-industrieller Logik, und es führt zu all dem, was wir als Folgeschäden des Konsum-Industrialismus erleben: krankhaftes Übergewicht, endlose Staus, Hühner, die nicht mehr stehen können, verwirrte Online-Seelen. Und globale Hitzewellen.
Die Natur ist dagegen effektiv: Die verschiedenen Teil-Systeme sind sinnvoll ineinander VERWOBEN. Und dabei gleichen sich Überschüsse aus, die ständig neu entstehen. Ein Baum ist kein Meister der Produktivität, Photosynthese ist eher ein langsamer Prozess, ebenso das Wachstum, aber er ist durch vielfältige Kreisläufe, Synthesen, Symbiosen und KOOPERATIONEN mit seiner Umwelt verbunden. Das macht ihn pro-duktiv in Komplexität. Dadurch entsteht Schönheit – als Signifikanz von Anti-Entropie.
Blaue Ökologie sieht ihre Aufgabe darin, das Prinzip dynamischer Effektivität im Möglichkeitsraum Mensch/ Natur/ Technologie neu zu konstruieren.
Zum Beispiel Nahrungsmittelproduktion. Während die grüne Ökologie das rein »Biologische« im Sinne des idealisiert Natürlichen präferiert, setzt blaue Technologie effektive Gewächshaus-Technologien ein, auch und gerade in großen Städten. Oder in Wüstengebieten mit Wasserknappheit. In einem normativen grünen Denken müsste man Holland, das über weite Flächen unter dem Wasserspiegel liegt, eigentlich zugunsten »der Natur« aufgeben – es ist ja nicht »natürlich« entstanden. Im Blau-Ökologischen würde man dagegen Gewächshaustechniken weiterentwickeln, bis ihr ganzheitlicher Nutzen den ökologischen Schaden übersteigt (was sie zumindest in Holland heute schon tun, an der spanischen Mittelmeerküste eher nicht). Plus-Ökologie statt Minus-Ökologie. Auch eine Tomate, die mit Geothermie-Wärme in Island oder in Gewächshäusern in Somaliland auf Steinwolle gewachsen ist, ist ein »richtiges« und »gesundes« Lebensmittel.
In ökologischen Kontexten könnte die Digitalisierung, die uns in ihrem Heilsversprechen bislang ziemlich enttäuscht hat, tatsächlich jene Wunder wirken, die sie uns bislang verweigert hat. Zum Beispiel bei dezentralen Energie-Produktionsnetzen, in denen Millionen von Häusern, Kleinkraftwerken und energetischen »Aktivatoren« zusammenwirken – wie in einem zellularen Organismus. Innerhalb von kaum zehn Jahren sind in Deutschland 2 Millionen Energieproduzenten von Sonnen- und Windenergie entstanden. Der Anteil der Welt-Strom-Erzeugung durch erneuerbare Energien durch Sonne und Wind hat sich in nur 20 Jahren verhundertfacht. Und das ist erst der Anfang einer technischen Revolution, die das fossile Energiesystem ablösen und Energie üppig machen wird. Der Grund für diese Fülle lässt sich jeden Tag mit bloßem Auge besichtigen. In einiger Entfernung von der Erde hängt ein gigantischer Fusionsreaktor im Himmel. Diese Energiequelle ist (zumindest für die nächsten fünf Milliarden Jahre) unerschöpflich. Sie bringt jeden Tag hunderttausendmal mehr Energie auf die Erdoberfläche als die Menschheit nutzen kann.
Und was ist mit den »knappen« Rohstoffen? Selbst die SELTENEN ERDEN sind nicht so knapp wie befürchtet. Als China vor einem guten Jahrzehnt 80 Prozent der damals begehrten seltenen Substanzen aufkaufte, als strategische Reserve, sanken die Preise innerhalb weniger Jahre auf ein Zehntel. Entweder weil Recycling eingesetzt wurde. Oder weil ANDERE Substanzen gefunden oder sogar GENERIERT wurden, die die alten ersetzten konnten.
Eine Schlüsselrolle für die blaue Ökologie der Zukunft spielt innovative Material-Technologie. Je weiter sich der Wirkungsradius der molekularen Chemie entwickelt, je mehr neue Fertigungs- und Konversionstechniken entstehen, desto besser lassen sich aus vorhandenen Molekülen andere Moleküle machen. Aus dem »Problemstoff« CO2 lassen sich heute bereits Karbon-Fasern herstellen, hochfeste Folien, Treibstoffe, oder sogar Nahrungsmittel, verdauliches Eiweiß (siehe solarfoods.fi) – dazu braucht man nur aus der Atmosphäre extrahiertes CO2 plus (erneuerbare) Energie. Das C in CO2 ist ja nichts anderes als Karbon, der Grundstoff des Lebens. Dass das alles noch »zu teuer« ist, ist in Wahrheit kein Argument. ALLE Verfahren dieser Neuen Alchemie sind zunächst teuer, aber die Preise fallen schnell, wenn wir die Produktion skalieren.
Die mediale Skepsis gegen ökologischere Technologien hakt sich oft an falschen Verdachtsmomenten fest. So entstehen anti-ökologische fake news: „Kobalt für Batterien wird im Kongo von Kinderhand geschürft und deshalb sind E-Autos unmoralisch!” Batteriefirmen setzen jedoch mehr und mehr auf zertifiziertes »Clean Kobalt«. Und die nächsten Generationen der Autobatterien für die E-Mobilität BRAUCHEN gar kein Kobalt mehr. Andere Stoffe, andere Spiele. Innovation goes on. Ziemlich sicher werden sich auch im Kongo in den nächsten Jahren Arbeits-Standards durchsetzen, die in anderen Teilen der Erde gelten.
Und so geht es weiter: Ist Wasser knapp? Nein, es ist nur ungleich auf der Erde verteilt. Man kann schlecht damit umgehen, es künstlich verknappen – aber die Wassersparanleitungen auf deutschen Klos sind einfach nur bizarr. Wasser kann nicht »verbraucht« werden, nur verschmutzt oder schlecht verteilt. Desalinationstechniken ermöglichen heute Wohlstands-Städte in Wüsten (natürlich muss man sie solar betreiben und an Küsten mit gutem Wasseraustausch platzieren). Man kann Trinkwasser sogar aus menschlichen Fäkalien machen – so hat es uns Bill Gates mit seinem Omniprozessor gezeigt (siehe die Netflix-Dokumentation “Inside Bills Brain”).
Gibt es »zu viele Menschen«? Dieses reaktionäre Gerücht steckt tief in den Köpfen, vielleicht hat es etwas mit unseren anthropologischen Knappheitsängsten zu tun – der Furcht, dass „der Stamm zu groß wird”. Aber die in den 60ern prognostizierte Bevölkerungsexplosion ist längst abgesagt. Der humane Bevölkerungs-Zenit wird irgendwann in diesem Jahrhundert bei rund 10 Milliarden Menschen stattfinden, plus minus 5 Prozent. 10 Milliarden Menschen kann die Erde schon heute ernähren – es würde reichen, die Hälfte der Lebensmittelverschwendung in den Industrieländern zu beseitigen. Aber wie gesagt: Innovation goes on.
Wird Plastik den Planeten verderben? Nur wenn wir so blöde damit umgehen wie bisher. In einer Cradle-to-Cradle-Welt mit eleganten Rohstoffkreisen wird man aus Kunststoffen immer neue Kunst-Stoffe machen können, ohne dabei hässliche Parkpoller zu produzieren. Das nennt sich Upcycling. Was wir heute »Recycling« nennen, ist nur eine primitive Vorstufe der kommenden Wiege-zu-Wiege-Welt, in der alles, was wir nutzen, entweder kompostiert und damit in den biologischen Kreislauf zurückkehrt, oder molekular sortiert wird. Das erfordert allerdings intelligentere Materialflüsse. Wenn wir aus »egoistischen« Gründen ökologisch handeln können, synchronisiert sich das Streben des Menschen nach Eigen-Vorteilen mit Vorteilen für die Natur. Wir werden dann vom Verderber und Schmarotzer der Natur zu ihrem nützlichen Symbionten.
5. Die Logik der Intelligenten Verschwendung
Im Zentrum eines Wandels von der grünen zur blauen Energie steht also ein Paradigmenwechsel von Knappheit zu Fülle. Um zu verstehen, wie das funktionieren kann , brauchen wir ein bisschen Kognitionspsychologie.
Krankhaftes Übergewicht ist nicht selten das Ergebnis des Gefühls »nicht genug zu bekommen«. Allerdings auf einer anderen, nämlich emotionalen Ebene. Essen ist, wie wir alle wissen, ein verdammt guter Tröster, ein tolles »Kompensat«. Also essen wir mehr, als uns guttut. Wir verschieben einen Mangel auf der einen Ebene auf ein Erlebnis von Überfülle auf der anderen. Dabei blieben wir aber sozusagen am Mangel kleben. Auf eine paradoxe Weise werden wir niemals satt, obwohl wir uns im Über-Fluss befinden. Dieser trancehafte Zustand ähnelt der gesamten industriellen Zivilisation in Bezug auf das Öl und seine Derivate: Wir können einfach nicht genug davon bekommen, WEIL wir ständig Angst haben, dass es knapp wird.
Diäten, also gewaltsamer Verzicht, helfen nicht – im Gegenteil. Wirklich abnehmen – leicht werden – funktioniert nur, wenn wir uns innerlich von der Angst verabschieden, nicht genug zu bekommen. Nur so gelingt auch die ökologische Transformation: Nicht durch grüne Askese, sondern durch Anerkennung von Fülle. Dann entsteht eine neue Freiheit des Verzichts, in dem wir nichts vermissen müssen.
Verbote können dabei durchaus hilfreich sein. Nehmen wir das Rauchverbot in Restaurants und Flugzeugen: Eindeutig eine Freiheitsbeschränkung, gegen die lange erbittert polemisiert wurde, ähnlich wie heute gegen Geschwindigkeitsbeschränkungen auf Autobahnen. Als das Rauchverbot realisiert wurde, waren alle verblüfft: Alle fühlten sich plötzlich befreit! Warum? Weil eine neue soziale Fülle entstand, die sogar die Raucher umfasste. Die konnten nun vor der Türe neue Freunde finden, und wurden von ihrem schlechten Gewissen befreit, andere vollzuqualmen.
Ähnlich funktioniert die Umwandlung von autoverstopften Innenstädten in offene Räume für Bürger und Radfahrer, die so genannte Kopenhagenisierung. Solange man nur auf die Seite des Mangels starrt – also auf die geringere Möglichkeit, mit dem Auto in die Stadt hineinzufahren – wird nur schlechtgelaunte Ablehnung und dummer Lobbyismus produziert. Betritt man aber das reale Kopenhagen, Oslo oder Amsterdam, entwickelt sich plötzlich ein anderer Mindset. Diese Städte leben auf eine neue und verblüffende Weise. Man vermisst die Autos nicht, wenn sie »fehlen«, sondern genießt, was plötzlich möglich wurde.
Die Idee der Grenzen des Wachstums könnte ein Irrglaube sein. Dass sie dennoch so populär ist, hängt damit zusammen, dass unsere Vorstellung von unseren Ressourcen immer noch die eines steinzeitlichen Jägers und Sammlers ist. Damals hieß es: Wenn alles Wild gejagt ist, werden wir sterben. Wenn alle unsere Vorräte aufgebraucht sind, müssen wir verhungern. In Wahrheit sind unsere Ressourcen aber nahezu unerschöpflich. Und mit unserem Erfindungsreichtum und unserer Fantasie werden wir immer besser in der Lage sein, sie zu nutzen.
Vince Ebert
Bernd Urich schrieb in der ZEIT (1. Oktober 2019: Grün ist schön, macht aber viel Arbeit): „Erst die Enttabuisierung des Verzichts macht auch den Blick frei für die kulturellen Vorzüge und befreienden Aspekte, die Verzicht haben kann.” Erst wenn unser MIND sich von der Knappheit löst, entsteht der so genannte VERZICHTSVORTEIL. Wir merken dann plötzlich, dass wir vieles von dem, was wir UNBEDINGT zu brauchen glaubten, in Wahrheit gar nicht »nötig« haben.
Wer weniger Fleisch isst, kann Fleisch viel mehr genießen.
Wer Vegetarier/Veganer wird, gewinnt großen Genuss am Gemüse (und vice versa).
Wer nicht dauernd im SUV durch die Gegend rast, merkt, dass Mobilität etwas ganz anderes ist als der Besitz eines schweren Autos.
Blaue Ökologie bedeutet also vor allem eine andere Denkweise, in der wir vom Mangel-Angst-Denken zur BEFREIUNG VOM ZUVIEL gelangen. Dabei geht es um eine neue Üppigkeit, die wir im alten Denkmuster nicht WAHR-NEHMEN können. Michael Braungart, der Apologet der CRADLE-TO-CRADLE-Bewegung, hat das auch INTELLIGENTE VERSCHWENDUNG getauft. Durch immer weitere Kreise intelligenter Produktions- und Materials-Rückkoppelungen erzeugen wir einen menschlichen Auftritt, der der Natur nicht schadet, sondern nutzt.
Es geht im Ökologischen dann nicht mehr um die zwanghafte Verringerung unseres »Fußabdrucks«, sozusagen um das Gehen auf ökologischen Zehenspitzen. Wir nehmen »der Erde« nicht etwas weg, sondern fügen ihr etwas hinzu – und damit entsteht eine andere, produktive Wirklichkeit. Damit gestalten wir uns selbst als TEIL der Natur. Und überwinden die innere Spaltung, die uns in Richtung des ökologischen Wandels ständig zu Heulsusen und Zynikern macht.
BLUE:TECH
Die neuen High-Öko-Technologien
Warum nennen wir die neue Ökologie »Blau«? Weil blau die Farbe der Atmosphäre ist, um die es bei GLOBAL WARMING geht. Blau ist die Farbe der Erde als Ganzes aus dem Weltraum gesehen. Und BLAU ist der Horizont, zu dem wir unseren Blick erheben, wenn wir in die Zukunft schauen…
Hier die wichtigsten TECHNOLOGIEN der Blauen Ökologie in der Übersicht:
Cradle to Cradle
Die Cradle-to-Cradle- Bewegung ist bereits 20 Jahre alt – sie wurde von Michael Braungart und dem amerikanischen Architekten William McDonough ins Leben gerufen. Es geht um die Schließung von Recycling-Kreisläufen im Sinne des UPCYCLING, also einer Wiederverwertbarkeit, die alle Materialien auf Dauer WERTVOLLER macht.
2nd Generation Renewables
Erneuerbare Energien werden normalerweise auf Windgeneratoren, Solarpaneele und allenfalls noch Biomasse reduziert. Aber längst ist eine neue Generation natureller Energieerzeugung in Konstruktion. Dazu gehören z.B. VORTEX-Windgeneratoren, die durch waagerechte Oszillationen Energie erzeugen können und dadurch geräuschlos sind, oder WELLEN-GENERATOREN unterschiedlichster Bauart.
Mega-Solar-Power
Es gibt auf der Erde unendliche landschaftliche Weiten mit starker Sonneneinstrahlung. Nur etwa 1 Prozent der Erdoberfläche würde reichen, um die gesamte Stromversorgung der Menschheit (einschließlich Elektroautos) zur Verfügung zu stellen. Deshalb und wegen der rasch fallenden Zellen-Preise werden weltweit riesige Solarkraftwerke gebaut.
Diese können in 2025 Energie entsprechend 1000 Atomkraftwerken (in 2019 sind weltweit knapp 500 Reaktoren aktiv) liefern.
Hyperbatterien
Lithium-Ionen-Batterien haben sich zunächst in der neuen Strom-Welt durchgesetzt. Lithium ist zwar mit 58 Millionen Tonnen Weltreserven nicht selten, aber als Material schwer zu gewinnen. Deshalb ist das Rennen um die nächste Generation Batterien in vollem Gange. Dabei geht es zum Beispiel um Speicher-Technologien, die mit Lignin, einem Abfallstoff von Holz in großen Behältern skalierbar Strom speichern können, die sogenannten REDUX FLOW-Batterien. Möglich sind auch Kavernenspeicher in unterirdischen Höhlen.
Moleculeering – Neo-Materialien
Im Mittelalter versuchten die Fürsten, den Alchemisten ein Geheimrezept für Gold zu entreißen – daraus entstand zumindest das Porzellan. Heute ist Materialkonversion eine der großen „Alchemien“. Für die Energie- und Materialwende brauchen wir immer mehr Ersatzstoffe für seltene Erden, immer mehr raffinierte Methoden, aus organischer Materie, letztlich also mit Hilfe des Carbon-Moleküls. VARIANZEN entstehen zu lassen. Dieses Feld ist in den letzten Jahren explosionsartig gewachsen, hier nur einige Beispiele:
Die Firma CuanTec macht transparente Nahrungsmittel-Folien aus Muschelkalk: https://www.cuantec.com
Die Firma Covestro hat das Erste Dämmaterial aus CO2 auf den Markt gebracht: www.covestro.com/de
BIO-LUTIONS produziert Verpackungen aus allen möglichen Pflanzenresten: www.bio-lutions.com
Carbon Harvesting
Stellen wir uns vor, man könnte aus dem »Problemstoff« in der Atmosphäre, CO2, Energie erzeugen. Wie bitte, geht nicht? Geht doch! Mindestens 100 Firmen arbeiten weltweit daran, genau das zu tun. Mit überraschenden Erfolgen. Da das C in Carbon der Grundbaustein aller organisch-reaktiven Substanzen ist, wird es demnächst möglich sein, auch preiswerte Treibstoffe zu erzeugen. Dafür wird mit Sequestern CO2 aus der Luft gefiltert – oder mit umgebauten Klimaanlagen! Aus Wasser wird mit erneuerbarer Energie H2 gewonnen – aus beiden entstehen Stoffe, die als Treibstoff CO2-Neutral sind. Das ist aber erst der Anfang. Das finnische Unternehmen SOLEIN-SOLAR FOODS erzeugt heute schon ein Grund-Protein aus CO2, das man wie eine Pizza verbacken kann. Mit Aromen angereichert ist das ein Grundstoff für Müsli oder – Low-Carb-Lasagne.
Intelligent-energetische Strassen
Die schwedische Firma ELONROAD geht einen anderen Weg. Sie bietet Induktionsschienen an, die in der Mitte des Fahrwegs auf der Straße verlegt werden.
Bio-Powerfuels: Kerosin 2.0
Ob Flugzeuge jemals sicher mit Batterien und Strom fliegen können, ist ungewiss – noch braucht es dazu wohl einige Sprünge in Batterie- und Materialtechnik. Aber vielleicht muss das auch gar nicht sein, synthetische Treibstoffe können CO2-neutral sein, und im Flugzeugbereich deutet sich hier eine ganze Palette von Möglichkeiten an. Algen, Eukalyptus, Tabakpflanzen, aber auch einfache Pflanzenreste ermöglichen die Destillation von synthetischem Kerosin.
Foodcities & Solar Farming
Der Trend zum »Urban Gardening« geht in die zweite Runde: »Urban Farming« kommt jetzt mit großen Projekten, die in der Lage sind, Teile städtischer Nahrungsproduktion ortsnah zu realisieren.
In Paris eröffnet im Jahr 2020 AGRIPOLIS – 40.000 Quadratmeter Intensiv-Gemüsebau über den Dächern: www.archdaily.com
Die SUNDROP Farm in Australien erzeugt 15 Prozent des australischen Tomatenbedarfs mit Solarenergie und Meerwasser-Desalinisation: www.sundropfarms.com
Seawater Greenhouse eröffnet demnächst eine große Solarfarm in Somaliland – überall dort, wo viel Sonne und Meerwasser zur Verfügung stehen, lässt sich so die Nahrungsversorgung stabilisieren: https://seawatergreenhouse.com“
Hydricity – Das Zeitalter des Wasserstoffs
„Hydrizität” (zusammengesetztes Wort aus dem englischen Begriff Hydrogen und Elektrizität) bezieht sich auf den dualen und sich ergänzenden Gebrauch von Wasserstoff und Elektrizität als Energiewährung, welche die Energiequellen mit den Energiedienstleistungen koppelt. Natürlich wird das H-Age, das Zeitalter des Wasserstoffs, irgendwann kommen. Aber bis dahin brauchen wir noch eine Menge Zwischenschritte, vor allem was die Lagerung und nichtfossile Herstellung des flüchtigen Stoffs betrifft.
Biomorph Tech/ SOLAR-PUNK
Technologien erzeugen immer auch eine bestimmte Art von visionärer Popkultur, einen Pop-Mythos. Man denke an den »Cyberpunk«, die literarische und filmische Verherrlichung des virtuellen Lebens. Oder den »Steampunk«, die utopische Weiterzeichnung der Technik des viktorianischen Englands; eine Art mechanisches Zauber-Wunderland. Neuerdings gibt es auch eine Übersteigerung des Ökologischen, einen »ÖKO-Futurismus«, der aus bekifften Hippieträumen zu entspringen scheint: »Solarpunk«. In Wikipedia ist zu lesen: „Solarpunk ist eine Bewegung, die angesichts aktueller Umweltprobleme wie Klimawandel und Umweltverschmutzung sowie sozialer Ungleichheit zu optimistischen Zukunftsvorstellungen anregt. Solarpunk umfasst eine Vielzahl von Medien wie Literatur, Kunst, Architektur, Mode, Musik und Spiele…”.
Blue:Topia: Klimaresiliente Architektur
Wo leben Menschen, die Mitte des Jahrhunderts wegen steigender Meeresspiegel große Städte verlassen müssen? Vielleicht wider Erwarten nicht nur in Elendsvierteln. Der Klima-Adaptionismus ist eine neue Design- und Architektur-Richtung, die die globale Erwärmung als gegeben und unumkehrbar betrachtet. Zum Beispiel »Oceanix City« des dänischen Architekten Bjarke Ingels. In voneinander unabhängigen autarken Wohn-Inseln können bis zu 10’000 Personen in einer Stadt auf dem Meer mit hohem Lebenskomfort leben. Man kann die unterschiedlichen Inseln immer zu neuen Konfigurationen zusammensetzen, sie sind nicht völlig hochseefest, eigenen sich also eher für Fjorde oder Buchten. In Holland werden heute schon ganze Cluster von schwimmenden Häusern und erweiterten Hausbooten ausprobiert.
Wer sich mit der Zukunft beschäftigt, wird irgendwann zwangsläufig mit der Frage nach den inneren WELTHALTUNGEN konfrontiert. Hans Rosling, der berühmte Welt-Statistiker, hat auf die Frage, ob er eher zu OPTIMISMUS oder PESSIMISMUS neige, immer den Begriff des POSSIBILISMUS benutzt. Lesen Sie hier das entsprechende Kapitel aus meinem neuen Buch 15 ½ Regeln für die Zukunft. Was ist POSSIBILISMUS? Warum ist auch der Optimismus nur eine Ideologie? Es geht um Hoffnung, Zuversicht, die Überwindung von Ängsten und Apokalypseglauben. Und die Fähigkeit, den Anfängergeist zu trainieren.
Zukunftsregel 14: Überwinde Pessimismus und Optimismus.
Werde Possibilist!
Misstraue jedem, der alles gut findet,
und dem, der alles für schlecht hält,
noch mehr aber dem, dem alles gleichgültig ist.
Johann Casper Lavater
Man erkennt erst das Wirkliche, wenn man das Mögliche überschaut.
Otto Neurath
Nach meinen Vorträgen kommen immer wieder Menschen auf mich zu und machen mir ein gefährliches Kompliment:
Ich habe Ihren Vortrag sehr genossen. Vor allem fand ich gut, dass wir alle unbedingt OPTIMISTISCHER werden müssen!
Ich freue mich sehr über solches Lob. Aber MÜSSEN wir wirklich optimistischer werden?
Optimisten, so heißt es, gehen besser, leichter, aktiver durchs Leben. Sie erzeugen bessere »Ergebnisse«, weil sie auf dem Wege der »self-fulfilling prophecy« Realitäten schaffen. Auf der sonnigen Seite des Lebens ist man kreativer, sozialer. Produktiver in jeder Hinsicht. Deshalb trommeln uns die Motivationstrainer unentwegt ihre Positiv-Botschaften ins Ohr: Du kannst fliegen! Du bist ein Adler! Glaube an Dich! Alles wird gut, wenn Du dran glaubst! Tschacka!
Pessimisten hingegen stecken uns mit ihrer dunklen Sicht der Dinge an. Sie schöpfen ihre eigene Bedeutung aus der Betonung des Negativen. Sie lehnen jede Verantwortung für die Welt durch ihre düstere Haltung ab. Pessimisten sind gefährlich für die Seele, und vor allem für die Zukunft, weil sie das Negative vorwegnehmen.
Klarer Fall. Oder?
Der Trick des Optimismus
Was meint »Optimismus« eigentlich? Natürlich, der Glaube an einen guten Ausgang. Und ist das nicht eine ganz besondere Gnade, wenn man fröhlich durch die Welt läuft und das Gute voraussetzt, das Gute im Menschen und der Welt?
Optimismus wirkt in der Tat ansteckend. Menschen mit Stimmungsproblemen sollten sich Optimisten als Freunde nehmen, das hilft besser als Pillen gegen Depression. Aber diese Ansteckung kann auch leicht in positive Hysterien umschlagen. Nehmen wir als Beispiel die Bankenkrise von 2008. Von welchem Charaktertypus wurde die Krise verursacht? Na klar. Von Optimisten! Die optimistisch davon ausgingen, dass der Boom, die Blase, unendlich weitergehen musste. In immer höhere Höhen! Damals wimmelte die Welt von jenen glühenden Auguren einer immer besseren Zukunft, eines Booms, der nie zu Ende ging. Analysten, Anleger, Banker und auch Politiker, die den rauschenden Boom so lange beschworen, bis er platzte, waren in einer autistischen Optimismus-Blase gefangen.
Auch auf der Brücke der »Costa Concordia« am 13. Januar 2012 vor der Insel Giorgio im Mittelmeer, kurz bevor das Schiff auf ein Riff lief und sank, herrschte der pure Optimismus – beim Umtrunk des Kapitäns Francesco Schettino stieß man auf das Glück und die Liebe an. Bis der Kapitän zu spät merkte, dass er sein Schiff auf ein Riff gesetzt hatte. Und sich ganz optimistisch rasch auf einem Rettungsboot davon machte, bevor das Riesen-Passagierschiff mit rund 3200 Passagieren kenterte. Ein Optimist eben.
Optimismus als »gradlinige« (lineare) Haltung hat einen hohen Preis. Man muss das Schlechte, das Schlimme, das Deprimierende ignorieren. Man darf es nicht an sich heranlassen. Das Tragische dieses Konzepts wird besonders deutlich, wenn es nicht klappt: „Vergiss alle Sorgen, werde der Titan Deines Lebens!”. Dieser Satz von Mister Motivationstrainer geht runter wie Öl. Bleibt aber auch schnell in der Kehle stecken, wenn es nicht »klappt«.
„Positive Zukunftsfantasien verleiten dazu, dass Leute den Eindruck haben, sie seien schon angekommen. Sie fühlen sich weniger energetisiert und über den systolischen Blutdruck konnten wir messen, dass sie sich tatsächlich entspannten.” Das sagt Gabriele Oettingen, die die »positivistischen« Geisteshaltungen in der Praxis untersucht hat und mit ihrem Buch „Die Psychologie des Gelingens” das Phänomen Optimismus mit der Verhaltenstherapie matcht (Gabriele Oettingen: „Die Psychologie des Gelingens“. München: Droemer 2015). Ihre Erkenntnis: Wer in seiner zuversichtlichen Grundhaltung Hindernisse ignoriert, stellt sich selbst ein kognitives Bein; er fällt über seine Selbst-Illusionen.
Es gibt viele Arte von Optimismus. Taktischen Optimismus, der nur so tut als ob. Der eigentlich zynisch ist und einem das Geld aus der Tasche ziehen will. Selbstbetrügerischen Optimismus, der einen von tiefsitzenden Schwierigkeiten ablenken will. Und narzisstischen Optimismus, der sich in Wahrheit wenig um das Wohlergehen der Welt schert, und das Lächeln eher als eine Art Zwangshaltung einübt – als Maske, hinter der man das eigene Elend verbergen kann.
Der Trick des Pessimismus
Ganz anders hingegen der Pessimismus. Ist er nicht wunderbar einfach und ehrlich? Konstatiert er nicht, dass alles schiefgehen kann, ja schiefgehen MUSS, und wir am Ende alle tot sind? Ohne Zweifel gibt es großartige Pessimisten. Denken wir an einen wunderbaren Thomas Bernhard, der in seiner negativistischen Würde so grandiose Sätze sagte wie:
„“Es ist, wie es ist – und es ist furchtbar!”
„Die Kunst des Nachdenkens besteht in der Kunst, das Denken genau vor dem tödlichen Augenblick abzubrechen.”
„Letzten Endes kommt es nur auf den Wahrheitsgehalt der Lüge an.”
„Zum Glücklichsein braucht man eine gehörige Portion Dummheit.”
Das ist grandios, und wir alle spüren, dass uns diese Sätze in ihrer fatalistischen Größe gleich wieder ein Stückchen optimistisch macht. Bernhards Pessimismus hat Würde, Gravitas; von hier aus kann es nur noch besser werden.
Natürlich muss man einen soliden Pessimismus von schlichtweg mieser Laune oder reaktionärer Gesinnung trennen. Gute Pessimisten sind ja wirklich Wissende, die ihr Auge nicht vor dem Elend der Welt verschließen. Das Melancholische lässt vermuten, dass es über Empathie verfügt. Der gute Pessimist sagt uns, dass ihn die Welt durchaus etwas angeht. Er leidet mit der Welt, und er leidet damit auch stellvertretend mit uns allen.
Anders der Zynismus. Zynismus ist galoppierender Pessimismus, der scheinbar eine hohe Souveränität verspricht. Das Gefühl eigener Bedrohung wird mit einer Haltung der Überlegenheit beantwortet: Mich geht das nichts an, aber ich werde mich darüber amüsieren! Zynismus beinhaltet Hohn und Distanz, vor allem Distanz von sich selbst. Der Zynische erhebt sich über alle Wertungen, alle Bindungen, alles Leid. Er nimmt die Hintertür aus der Welt heraus, und lässt seine Verletzlichkeit im Dunklen.
Die vielbeschriebenen Nachteile des Pessimismus lassen sich so zusammenfassen:
Erstens muss der Pessimist für nichts und niemand Verantwortung übernehmen. Wenn alles sowieso zum Teufel geht, ist sowieso alles egal.
Zweitens hat er IMMER recht, weil seine Haltung als Warnung verstanden werden kann. Wenn es nicht so schlecht kam, wie pessimistisch prognostiziert, dann lag es IMMER daran, DASS er drastisch gewarnt hat! Das ist die Attraktivität des Prophetischen.
Drittens versucht der Pessimist eine innere Vermeidungs-Strategie, die ihn unverletzlich machen soll. Darin liegt die Attraktivität des Pessimistischen: Man versucht, durch die mentale Vorwegnahme von Schmerzen diese Schmerzen zu vermeiden. Wenn ich erwarte, dass es schlimm wird, dann wird es nachher weniger schlimm. Das Schlimme ist nur: Es stimmt nicht. Wie jeder weiß, der vor dem Zahnarztbesuch die Schmerzen im Vorhinein durchlebt, und zwar als katastrophal, geht das Konzept nicht auf. Es wird nur schlimmer, weil schon beim Hinsetzen auf den Zahnarztstuhl alle Nerven förmlich nach Schmerzen schreien. Ebensowenig funktioniert die Annahme, dass durch das Androhen des Schlimmeren das Bessere entsteht (Regel 11).
Gesamt gesehen steht der Pessimismus also ziemlich unerfolgreich da. Seine angebliche Erwachsenheit, eine souveräne Stärke entpuppt sich ziemlich schnell als Trick. Als Unfähigkeit, sich auf die Zumutungen des Lebens im hier und jetzt wirklich einzulassen.
Fazit: Optimismus und Pessimismus sind beide keine adäquaten Reaktionen auf die komplexe Welt. Es sind Engführungen, Reduktionen unserer mentalen Möglichkeiten, die wie Rillen in einer Schallplatte wirken, in der sich die Nadel des Lebens verfängt. In einer Zeit, als es noch Schallplatten gab.
Obwohl: Vinyl-Platten kommen wieder.
Die Kommandozentrale
In Disneys bemerkenswertem Zeichentrickfilm „Inside Out – Alles steht Kopf” wird das emotionale Konzert im Kopf eines jungen Mädchens, Riley, beschrieben. Riley zieht in einer Patchworkfamilie von einer Stadt in die andere und macht dabei widersprüchliche emotionale Erfahrungen. Die Emotionen, die in der Seele der kleinen Riley toben, sind Freude, Kummer, Angst, Wut und Ekel, repräsentiert durch gnomische Figuren in den entsprechenden Komplementärfarben. In dieser ständig durcheinanderschreienden Wohngemeinschaft kann man ziemlich plastisch ein menschliches Wesen beschreiben.
Unter Führung der Freude driftet Riley durch den Alltag. Aber ständig muss die Freude gegen die anderen kämpfen. Beim Schlafengehen füllen die fünf Emotionen mit bunten Kugeln über eine Rohrpost das Erinnerungszentrum (den Hippocampus) auf. Freude sorgt dafür, dass Riley glücklich ist, Angst bewahrt sie vor Schäden und Verletzungen. Wut sorgt für Gerechtigkeit und Ekel dafür, dass Riley nicht krank wird. Der Kummer wird gleich am Anfang in die Ecke gestellt, von einer ziemlich arroganten Freude, die unbedingt Kontrolle bewahren will.
Aber natürlich muss das schiefgehen. Der Kummer bricht in einer Krise aus seiner Schmollecke aus. Es kommt zu einer existentiellen Krise und einer turbulenten Jagd aller Gefühle, die sich gegenseitig ausstechen wollen. Aber es endet optimistisch: Am Ende entstehen Mischfarben. Und ein erweitertes Kontrollpult für die verschiedenen Emotionen und Wahrnehmungsformen, die sich in Riley befinden…
Natürlich ist das ein Kinderfilm, aber ein psychologisch sehr kluger. Er zeigt uns, wie unser Selbst in der Berührung mit Welt entsteht, und wie Eindimensionalitäten unserer Weltwahrnehmungen sich auflösen, wenn wir Störungen nicht unterdrücken, sondern leben. Wenn wir Emotionen präferieren oder umgehen, werden wir innerlich schief. Das erklärt eigentlich ganz gut das menschliche Leben. Und auch ganz gut die Zukunft. Denn die Geschichte – unser aller Geschichte – handelt vom Reifen, vom Erwachsenwerden, vom integrieren.
Man sieht an Rileys Story, dass rein optimistische oder pessimistische Strategien nicht funktionieren. Sie haben die Tendenz zur Instabilität – und zum Umkippen. Heraklit, der Philosoph des Wandels, hat dies das Gesetz der Enantiotropie genannt. So wird zum Beispiel aus dem apokalyptischen Warnungs-Pessimismus, der heute überall vorherrscht, schnell nackter Fatalismus und Zynismus. Oder das ganze Gutmeinen und Gutwollen kippt um in eine paranoide Angst – political correctness beschwört Verklemmungen im Namen des Moralischen. Das ganze Karussell der Verschwörungstheorien, der irren Weltbilder, der Übertreibungen und Paranoia-Phänomene wird angetrieben, wenn man sich zu sehr auf eine Erwartungshaltung festlegt. Optimismus und Pessimismus sind aber in ihrem Kern Erwartungs-Programmierungen.
Optimisten können genauso ignorant sein wie Pessimisten – den einen interessiert das Leiden nicht, den anderen nicht das Glück. Was beiden gleichermaßen zu eigen ist, ist die Entschlossenheit, sich nicht auf die wirkliche Welt einzulassen. Optimismus und Pessimismus sind im Grunde nur Strategien, sich der Welt und ihrem Wandel zu entziehen. Und die Zukunft zu leugnen.
Optipessimistische Rekursion
Winston Churchill war ein übelgelaunter, von Depression umwehter Mensch; heute würde ihm wahrscheinlich eine bipolare Störung bescheinigt, plus sozial destruktiver Unleidlichkeit. Er rettete Europa vor den Nazis und motivierte seine Engländer wie niemand es für möglich gehalten hätte: mit Reden, die nichts als die finstere, pessimistische Wahrheit sagten. Und trotzdem wirkten diese Reden wie Balsam, sie trösteten und motiviert, ja sie machten die Engländer zukunftsoptimistisch. Warum?
Warum kann uns traurige Musik glücklich machen? Liila Taruffi und Stefan Koelsch von der Freien Universität Berlin befragten 772 Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen zu ihren Musikvorlieben. Die Studie zeigt, dass einige Menschen davon profitieren, traurige Musik zu hören. Traurige Klänge bei Trauerprozessen erzeugen einen Selbstheilungs-Prozess, indem sie eine Mischung aus Freude und Trauer hervorrufen – positive Nostalgie. https://journals.plos.org/plosone/
Churchill ließ sich in seiner düsteren Aussicht auf »seine Engländer« ein, er trat in eine Beziehung zu ihnen, die ehrlich und authentisch war. Seine Sorge berührte die Menschen, und das setzte positive Energien frei – den Willen zum Durchhalten, zur Solidarität, zum Widerstand. In der Musik machen wir bestimmte Gefühle spürbar, die ansonsten in uns »herumgeistern« – und genau das erlöst diese Gefühle.
Todd Kashdan and Robert Biswas-Diener, zwei amerikanische Psychologen, haben über die positive Verschränkung von Optimismus und Pessimismus ein Buch geschrieben. Pessimismus kann sich tatsächlich in negativen Affekten wie Aggression, Feindseligkeit und Verachtung ausdrücken. Aber eben auch in Eigenschaften wie kritischem Denken, Vorsicht, Sensibilität und – Achtsamkeit (Todd Kashdan, Robert Biswas-Diener: The Upside of Your Dark Side: Why Being Your Whole Self–Not Just Your „Good“ Self–Drives Success and Fulfillment. New York: Penguin Random House LLC 2014).
Negative Gefühle machen besseres Teamwork. Der größte Feind des Gruppenlebens sind klebrige Harmonie-Erwartungen, Idealisierungen, die in »euphorischen Gruppen« zwangsläufig entstehen und die Mitglieder davon abhalten, klare Erwartungen und Grenzen zu formulieren. Das führt immer in den Frust. Eine Skepsis, die sich mit Achtsamkeit verbindet, klärt hingegen den Blick auf die soziale Dynamik. Man nimmt die anderen tatsächlich wahr, und reagiert weder übertrieben beleidigt noch irreal euphorisch. Erst das macht eine Gruppe zukunftsfähig. Sie entwickelt Regelkreise, die ihr erlauben, sich in komplexen Situationen zu stabilisieren.
“The most successful and innovative teams are the ones that have a leadership that creates a healthy balance between negative and positive emotions. If you have a team that focuses only on the positive then they just agree with each other and look for points that they share and not points of difference.”
Rebecca Mitchell, Behavior Expert und Professor an der Newcastle Business School Mitchell, im Artikel „Inspirational leadership, positive mood, and team innovation“ im Journal of Human Resource Management 2019.
Sanfte Negativität macht bessere Beziehungen. Überschwänglicher Optimismus in Liebesbeziehungen führt irgendwann in eine Abwertungs- und Enttäuschungs-Spirale: Du bist ja doch nicht der, den ich mir so optimistisch vorgestellt habe! Eine bestimmte Form der liebevollen Skepsis wirkt eher stabilisierend (das »Journal of Personality and Social Psychology« 2013). Das passt auch zu der Beobachtung, dass Paare, die eine besonders romantische Hochzeit inszenierten, mit extremen »Glücks-Beschwörungen«, häufiger in eine Frustration oder gar Scheidung hineinschlittern.
Kritisches Denken hilft bei Prüfungen. Studenten, die sich vor einer Prüfung besonders optimistisch fühlten, übten weniger und versanken bei einem unerwartet schlechten Ergebnis in einem emotionalen Loch, während sich moderat pessimistische Kommilitonen besser vorbereiteten und danach schneller die Prüfung wiederholten (Gabriele Oettingen: „Die Psychologie des Gelingens“. München: Droemer 2015).
Pessimismus verlängert das Leben: Wer Optimist ist, lebt länger und gesünder. Sagt man. Ist aber falsch. In einer Studie von Frieder Lang von der Universität Erlangen-Nürnberg hatten gestandene Optimisten im Schnitt mehr gesundheitliche Probleme, wenn sie älter wurden. Sie litten mehr unter Depressionen, Angst und Verzweiflung, wenn sie mit Einschränkungen der Gesundheit konfrontiert wurden, entwickelten mehr Krankheiten und Behinderungen als die Realisten und Pessimisten, die sich mit ihren Einschränkungen abfanden und sich auf sie vorbereiteten.
Thinking about death could be considered the most negative of thoughts, but in a study published in the Journal of Positive Psychology, researchers from Eastern Washington University and Hofstra University found that when participants visualized their own death using real-life scenarios, such as dying in an apartment fire, they better recognized their own mortality and increased their feelings of gratitude.
„Death reflection—focusing in a specific and vivid way on one’s death—significantly enhanced state gratitude compared to subjects that did not think about their own mortality,“ the report says. „When one is fully confronted with the reality that life ‘might not be’, life itself is seen as a limited resource that one is not entitled to, and thus appreciation for life increases.”
Was verbindet diese Beispiele? Konstruktive Lebenshaltungen – im Sinne von Zukunfts-Kompetenz – können nur entstehen, wenn wir uns emotional in Bewegung halten. Gefühle sind dazu da, unterschiedliche Lebens-Situationen zu bewältigen – deshalb sind sie so widersprüchlich, ja bisweilen regelrecht paradox. Wut soll in Kampfsituationen helfen, Neid spornt an. Ärger motiviert – richtig eingesetzt – zu Veränderungen. Der Pessimist und der Optimist fixieren sich jedoch immer auf einen Ausgang. Sie verengen ihr Reaktionsspektrum und geraten dadurch in Starrheit. Gerüstete Achtsamkeit hält das Schlechte für jederzeit möglich, aber geht nicht, wie der ordinäre Pessimismus, vom Schlechten aus. Chris Hadfield, der kanadische Astronaut, der 2012 das schöne Lied vom »Major Tom« auf der ISS, der Internationalen Raumstation intonierte, schrieb in seinem Buch „Anleitung zur Schwerelosigkeit“:
„Mein Optimismus… beruht nicht auf dem Glauben, mehr Glück zu haben als andere, auch nicht darauf, dass ich Erfolge imaginiere. Er ist die Folge davon, dass ich mir immer wieder vorgestellt habe, zu scheitern – und dann überlegt habe, wie ich das vermeiden kann.”
Im April 1970 flogen drei Astronauten zum Mond. Es war die dritte Mondlande-Expedition, die öffentliche Aufmerksamkeit war schon etwas ermüdet. Nachdem sich die Ausflüge in Staub und Kratern schon als eine Art Spaziergang und der Flug mit der Apollo-Kapsel als Abarbeiten von Manualen erwiesen hatten, schien alles schon Routine. Umso grösser war der Schock, als auf halbem Wege zum Erdtrabanten ganze Teile des Raumschiffs Apollo 13 explodierten, darunter mehrere Sauerstofftanks. Die Astronauten überlebten nur knapp in einem schrottreifen manövrierunfähigen Modul, das stündlich und minütlich Luft und Energie verlor. Drei Stunden nach dem Unglück, als Jack Swigert, Jim Lovell und Fred Haise immer noch unstabil in ihrer Schrottkapsel durchs All taumelten, hielt der Chef von Mission Control, Gene Kranz, eine Rede an seine übernächtigte Boden-Mannschaft:
When you leave this room, you must leave believing that this crew is coming home. I don’t give a damn about the odds and I dont give a damn that we’ve never done anything like this before…. You got to believe, your people have got to believe, that this crew is coming home!
Siehe auch den wunderbaren Film Mission Control – The Unsung Heroes of Apollo von David Fairhead und die Verfilmung des Apollo-13-Dramas mit Tom Hanks.
Diese kurze Rede wirft ein Licht auf eine weitere Differenzierung, die wir zum besseren Verständnis unserer inneren Zukunft gut brauchen können:
Hoffnung / Zuversicht
Was ist der Unterschied? Hätte Gene Kranz auf Hoffnung pur gesetzt, hätte er in einem theatralischen Akt das Leben der Crew in Gottes Hand gelegt: Amen! Wir werden tun, was wir können, aber…
„Hoffnung”, sagte Francis Bacon, „ist ein gutes Frühstück, aber ein schlechtes Abendessen&rquo;. „Hoffnung ist der große Bruder der Verblödung” – spitzt das die traurig-erleuchtete Kolumnistin Sibylle Berg zu. Im Zustand der Hoffnung sind wir »in Erwartung«. Wir neigen eher zu Passivität, weil wir erwarten, dass „etwas über uns kommt”.
Zuversicht bezieht dagegen uns selbst, unsere Handlungen, ein in die Erwartungen. Während Hoffnung uns eher zur Passivität verdammt, nimmt uns Zuversicht in die direkte Verantwortung. Sie bildet eine Verbindung zur Zukunft, in der wir eine wahrhaftige Rolle spielen. In der Zuversicht können wir auch das Dunkle, Schreckliche ansehen, ohne dass es von uns Besitz ergreift.
Es geht um unser Sehen. Um die Verbindung zur Zukunft.
Hoffnung ist Glauben an einen Ausgang, der eigentlich schon feststeht, weil unsere Fähigkeiten begrenzt sind. Zuversicht hingegen lässt uns in eine Selbstveränderung hineinwachsen. Sie lässt das Zukünftige, also unsere erweiterten Fähigkeiten, in uns selbst wachsen.
Hoffnung ist ein Gefühl. Es geht von einer eher traurigen Ausgangslage aus. Wir navigieren hilflos auf einem Ozean, in der Sehnsucht nach Rettung. Wir suchen „Licht im Dunkeln”.
Zu-Versicht ist hingegen ein Wissen. Eine Gewissheit darüber, dass unsere Gefühle sich im Verlauf der Erfahrungen ändern können, dass sie adaptiv sind, dass wir im Leben auf das Leben reagieren.
Wenn ich an den Tod denke und Hoffnung habe, dann glaube ich entweder, dass ich ins ewige Leben übergehe. Oder dass es „ganz schnell geht und nicht wehtut”. Beides ist letztlich beklemmend.
Wenn ich zuversichtlich bin, weiß ich, dass sich etwas in mir wandeln wird – an den Tod anpassen wird. Dass ich ihn er-lebe im Sinne einer Transformation.
Zuversicht vertraut der Allostase – jenem fließenden Prozess, der aus Wandel etwas Ganzes macht. Das Konzept der Allostase wird von Sterling und Eyer im Jahre 1988 im Unterschied zur Homöostase definiert. – der Art und Weise, wie Menschen sich im Gleichgewicht halten. Stasis meint »Verankerung«, Das griechische »Allo« hingegen bezeichnet das Variable, die Veränderung; also „Stabilität durch Wandel”. In der Systemsprache nennt man das auch Emergenz.
Die Welt »erwacht«, wenn wir in ihr handeln, wenn sich »Mind« und Welt begegnen – und etwas Neues schaffen.
Zum Beispiel, lebende Astronauten zurück auf die Erde zu bringen.
Siehe z.B:
Robert A Wilson; Lucia Foglia (July 25, 2011). Edward N. Zalta (ed.). „Embodied Cognition: §2.2 Enactive cognition“. The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2011 Edition).
Gallagher, Shaun (2017). Enactivist Interventions: Rethinking the Mind. Oxford University Press. ISBN 978-0198794325
Niklas Luhmann (1995). Social systems. Stanford University Press. ISBN 9780804726252.
Possibilismus: Die Entkatastrophierung der inneren Welt
Geben wir also das Entweder-Oder-Spiel, das Hin- und Hertaumeln zwischen Optimismus und Pessimismus auf. Beides sind im Grunde verengte Welthaltungen, die uns auf Dauer unglücklich machen. Pessimismus führt irgendwann zu Bösartigkeit und Verbitterung. Optimismus führt zu fürchterlichen Enttäuschungen mit Depressionsgarantie – und einer manchmal sehr komplizierten Form von Beleidigt sein.
Wenden wir uns lieber einer Zukunftshaltung zu, die Hans Rosling als »Possibilismus« bezeichnete: Die Welthaltung des Möglichen.
Ein erster entschiedener Vorteil des Possibilismus ist, dass er Unsicherheiten nicht nur ertragen, sondern umarmen kann. Er sucht geradezu nach ihnen. Er macht – siehe Regel 9 – das Problem zur Lösung. Ein Possibilist muss aber nicht immer alles sofort »lösen«. Er setzt auf die Potentialität von Prozessen. Auf die Latenz der Dinge. Er befreit sich vom ständigen Bewertungszwang (Regel 8). Er sieht, dass (bessere) Zukunft oft aus langsamer, manchmal auch harter Klärung entsteht. Unschärfen und Ambivalenzen sind ein notwendiger Zwischenschritt. Wir handeln uns sozusagen in die Entwicklung hinein, wie bahnen den Weg beim Gehen.
Mit anderen Worten: Possibilismus ist der Umgang mit Unwägbarkeiten und Unsicherheiten auf einer vertrauensvollen Basis mit sich selbst.
Der zweite Grund-Faktor des Possibilismus ist die Dankbarkeit. Viele verwechseln das mit Demut. Aber es geht nicht um Unterwerfung, sondern darum, das, was schon gelungen ist, anzuerkennen. Das meinte Hans Rosling auch mit seinem Zorn gegen den Pessimismus: Ihn regte die Undankbarkeit auf, mit der viele Menschen das, was gelingt, vom Tisch wischen. Darin sah er eine spezifische Form der Undankbarkeit, der seelischen Kälte. In Dankbarkeit manifestiert sich unsere grundlegende Verbundenheit zur Welt, und zur Zukunft:
„Unsere öffentliche Kultur leidet unter einer Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten. Anspruchsberechtigte sind prinzipiell undankbar; und die gesamte mediale Welt, in gleichschrittiger Eintracht mit fast allen NGO, ist darauf programmiert, Ansprüche ins Absurde weiterzutreiben oder immer neue zu erfinden. Freilich ist die Haltung «Ich schulde nichts, daher muss ich nichts rückerstatten» für jede Kultur selbstmörderisch, für eine politische Gemeinschaft sowieso.”
Der Historiker Ego Flaig in der NZZ vom 7.8.2017
Diese vorwärts gerichtete Dankbarkeit knüpft an dem an, was ich in der Regel 3 als Verbundenheit von Vergangenheit und Zukunft bezeichnet habe. In ihrem Kern liegt das Staunen. Possibilismus setzt auf das, was Spinoza Conatus, nannte – die essentielle Kraft, mit der alle Dinge durch Wandel andauern wollen. Entropie ist vielleicht das end-gültige Prinzip der Welt. Aber die Gegenkraft, das Schöpferische, das Komplexe, ist ebenso ewig.
Possibilismus bedeutet, das Leiden, dem Abgrund, über den das Leben gebaut ist, anzunehmen. Das heißt, dass Possibilismus auch in der Not funktioniert, die man nicht ignorieren kann. Dass wir das Ganze wahrnehmen können, nicht nur eine Seite. Rem Kohlhaas, der Architekt nannte das in einem Interview „ein freudvolles Verhältnis zur Realität“.
Possibilismus bedeutet: Der Glaube, dass eine bessere Zukunft nicht nur möglich, sondern evident ist. Die Logik des Möglichen erlaubt uns jene innere Frische, die lebendige Spannung, die uns nicht wirklich altern lässt. Wer mehr davon wissen möchte, dem empfehle ich das Buch meines Freundes Dr. Michael Lehofer: Alter ist eine Illusion: Wie wir uns von den Grenzen im Kopf befreien.
Possibilismus bedeutet: Ehrlich vom Leben überrascht werden können.
Zukunftsübung Nummer 14: Üben Sie konstruktive Gelassenheit
Einer wirklichen possibilistischen Grundhaltung nähern wir uns am ehesten mit weltlichen Formen der Meditation. Es geht ja darum, zunächst einmal unseren Geist, der ständig irgendetwas festlegen will, zu beruhigen. Ihn sozusagen aus der Schusslinie zu nehmen, damit er wieder funktionieren kann.
Possibilismus ist einerseits Erwachsenwerden, andererseits aber auch- paradoxerweise – die Wiederentdeckung des Kindlichen, den Anfänger-Geist trainieren (Zenmeister Shunryu Suzuli: Zen-Geist – Anfänger-Geist: Unterweisungen in Zen-Meditation).
Possibilismus handelt von der Welt als ein Möglichkeitsraum, in dem die Dinge einen überraschenden Verlauf nehmen können – entgegen aller Klischees und Vor-Einstellungen. Es geht also eigentlich um die Wahrnehmung des Neuen. Es ist auch eine WEIBLICHE Haltung, weil es vor allem die Kontinuität sieht und würdigt, die das Leben durchziehen. Nützlich ist eine bestimmte Form des nicht-zynischen Humors, der Lakonie, die uns erlaubt, im Paradoxen zu funktionieren. Denn nur das Paradoxe ist komplex genug, um interessant zu sein.
Hier eine sehr schöne Wort-Meditation aus der Feder der amerikanischen Autorin Anne Lamott:
1. All truths are paradox. Life is both a precious and an impossible gift. Its filled simultaneously with heartbreaking sweetness and beauty, desperate poverty, floods and babies and Mozart, all swirled together. I don‘t think it’s an ideal system.
2. Almost everything will work again, if you unplug it for a few minutes. Including You.
Nie war der Reduktions- und Simplifizierungs-Trend so groß wie heute. Genau darum geht es in den 20-er Jahren: Die Welt aufräumen. Gründlich, achtsam und hartnäckig. Die äußere und die innere Welt.
“Chaos is where we are when we don’t know where we are, and what we are doing when we don’t know what we are doing. It is, in short, all those things and situations we neither know nor understand.&rdquoK
„Chaos existiert, wenn wir nicht wissen, wo wir sind, und was wir machen, wenn wir nicht wissen was wir machen. Es handelt sich, kurz gesagt, um all die Dinge und Situationen die wir weder kennen noch verstehen.”
Jordan B. Peterson, 12 Rules for Life: An Antidote to Chaos
Was, um alles in der Welt, haben der Provokations-Psychologe Jordan B. Peterson, der durch seine Anweisungen für junge verunsicherte Männer (“12 Rules for Life”) bekannt wurde, und die Aufräum-Ikone Marie Kondo gemeinsam? Beide sind Autoren von Weltbestsellern. Und beide verbinden gemeinsame Interessen (oder Obsessionen) mit dem Konzept der ORDNUNG und des AUFRÄUMENS. Während sie aus unterschiedlichen kulturellen Zusammenhängen stammen (Japan und Kanada) und äußerst unterschiedliche Zielgruppen ansprechen, kommen sie doch zu ähnlichen Schlüssen.
Petersons Buch trägt den Untertitel „Ein Gegenmittel für Chaos”. Er predigt, dass „den Raum aufräumen viel mehr bedeutet als den Raum aufzuräumen”. Kondos Buch mit dem Titel „Die Magie des Aufräumens” handelt davon, dass wir nur das behalten sollten, was unserem Leben wahrhaftig FREUDE bringt. Und dass Aufräumen unser ganzes Leben transformiert.
Warum hören wir heute so viel über das Ordentliche, das Aufgeräumte und das Entrümpelte – nicht unseres Kellers, sondern unseres ganzen Lebens? Dieser Trend ist viel mehr als nur das Socken-Sortieren oder das Ausmisten der Küchenschränke. Oder das Schreiben von To-Do-Listen. Es geht um die größeren Trends und Wandlungen der Gesellschaft.
Es geht um die Kunst der Klärung.
Zunächst ist da das Empfinden vieler Menschen, dass ihr Leben am Limit des realen UND virtuellen Verstehens verläuft. Wir wissen immer weniger, in welchem Film wir gerade sind. Wir müssen nicht nur den unendlichen Strom der DINGE bewältigen, sondern auch noch unsere Software-Angelegenheiten – Websites, Apps, Codes, Mitgliedschaften, Facebook-Verbindungen und Twitter-Verwicklungen, die sich im Laufe eines digitalen Lebens ansammeln. Unfähig, zwischen KOMPLEXEN und KOMPLIZIERTEN Systemen zu unterscheiden oder zu wählen, fühlen sich die meisten Menschen von technologischen Verlockungen überwältigt. Viele leiden unter AKZELERITIS – dem Gefühl, dass alles schneller und schneller wird, und man selbst wie ein Verrückter strampeln muss, um hinterherzukommen. Wie der Computerwissenschaftler Danny Willis argumentiert: Wir sind von der Aufklärung zur Verwicklung gelangt – “enlightenment to entanglement”. Wenn das Leben in unserer Wahrnehmung immer komplizierter und mehr und mehr außer Kontrolle gerät (einschließlich unseres Planeten), schauen wir eben, was wir kontrollieren können – durch unsere metapolitischen Sichtweisen, oder den strengen Blick in unsere Schränke und Sockenschubladen.
Soziodemographische Trends wie die Verlängerung steigende Lebenserwartung führen zu mehr Lebensphasen, höherer Mobilität und Flexibilität, und das heißt dass mehr Menschen für kürzere Zeit an einem Ort wohnen. Das urbane Wohnen tendiert zu kleineren Räumen mit mehr »shared spaces«. Dafür brauchen wir Lösungen – psychologische und physische, nicht nur für Lagerung, sondern auch für das Management, den Transport und die Repräsentation unserer Dinge. Kein Wunder, dass Henry David Thoreaus Werke ein Comeback erleben, der an Einfachheit glaubte und in seinem Buch „Walden” schrieb:
„Ich habe drei Stühle in meinem Haus. Einen für Alleinsein, zwei für Freundschaft, drei für Gesellschaft…“
Heute besitzt ein durchschnittlicher Bewohner eines Wohlstandslandes zwischen 10.000 und 30.00 Gegenstände, und wir brauchen für diese Dinge nicht nur physischen, sondern auch mentalen Raum. Nicht nur helfen uns die Dinge zur Identitätskonstruktion, sondern auch, wie Susanne Walker in ihrem Buch „Das Leben der Dinge” formuliert:
„Wir glauben, dass Dinge die Essenz der menschlichen Personalität beinhalten und die Zeit einfrieren können… unsere Dinge können uns helfen, uns sicher zu fühlen oder dienen als Behältnisse für Gefühle, mit denen wir nicht in anderer Weise klarkommen.”
(Life of Stuff, Seite 7).
Reorganisierungs-Hilfen kommen seit Jahren in vielfältigen Verkleidungen und Formen auf den Markt der Lebenshilfen. Jordan Peterson wird nicht müde, in Interviews zu wiederholen: „Organisiere Deine lokale Landschaft – und fange klein an. Heute vielleicht diesen Raum, denn dieser Raum bist Du!”. Auf einer weniger elaborierten Ebene druckte das Cosmopolitan-Magazin kürzlich den „großen Cosmo-Guide für 27 Tricks, mit denen Wohnung, Kopf und Leben ganz easy aufgeräumt werden können!”. Unter dem Titel TOTAL IN ORDNUNG wurden die Leserinnen zuerst gebeten, sich vorzustellen, dass ihr Küchenboden so blitzblank ist, dass Sie darauf sofort Sex haben wollten. Der Artikel behauptete weiter, dass sich das nicht „wegen dem Sex so gut anfühlt, sondern deshalb, weil die äußere und innere Ordnung eng miteinander verbunden sind”. Nun ja. Es folgte das Zitat eines typisch deutschen Aufräum-Gurus, Lothar Seiwert: „Wenn wir Dinge reduzieren und notieren, befreit das ungemein, sowohl im Kopf als auch im Alltag. Ausmisten ist wie Seelenhygiene.”
Wir leben auf PEAK STUFF, dem Gipfel des Lebens-Ramsches und der Bedeutungsflut.
Ähnlich argumentiert die »Clutter-Therapeutin« Julieanne Steel: „Das Wichtigste ist unser INTERNER Kram, die INNERE Vermüllung – die engen Prozesse, die das Chaos erst erzeugt und ermöglicht haben”. So hängen wir uns an eine endlose Kette von Dingen, um an einer angeblich glücklicheren Zeit FESTZUKLAMMERN – statt uns auf eine bessere Zukunft zu fokussieren. Eine ähnliche Denkweise vertritt Gretchen Rubin in „Äußere Ordnung, innere Ruhe” (Outer Order, inner Calm – Declutter and Organize to make Room for Happiness). Professionelle Aufräumer sind inzwischen so verbreitet, dass sie sogar Thema eines Thrillers wurden. BE CAREFUL WHAT YOU WISH von Hallie Ephron erforscht die meuchlerische Welt dieser neuen Sorte von Life-Coaches.
Jamie Lee Curtis, selbst eine bekennende »Neatnik«, eine hippe Ordnungsfanatikerin, besprach diesen Krimi im TIME MAGAZINE (Aug.5/19) und beschrieb den Aufräum-Wahn als „unfruchtbare Marotte” (fruitless fad). Eine hilflose, ja hysterische Reaktion auf die Konversion aller unserer Technologien zu einer einzigen Konnektivität, dinglich und digital, verbunden mit dem nagenden Gefühl, dass wir außer Kontrolle sind – überwältigt von Drogen und Übergewicht und einem nur einen Tweet entfernten Atomkrieg. Wenn wir uns auf die Ordnung innerhalb unserer Häuser fixieren, verpassen wir den Punkt: Leben ist unordentlich. Und Menschen auch. Über beides die Kontrolle ausüben zu wollen ist nur ein Symptom unserer Verzweiflung.
Ein anderes Motiv für die Obsession mit dem Aufräumen ist, dass »Dingräume«, wie die Anthropologin Petra Beck die Ablagerungsflächen in Wohnungen nennt, langsam verschwinden. Aus vielen Dachgiebeln wurden Studio-Apartments, und Keller sind meistens kein Guter Platz für das Kostbare, das uns umgibt. Neuere Appartements haben keinen Stauraum mehr, schon aus Kostengründen. Zu diesen Schrumpfungen aufgrund von »Micro-Living« und »Smart Living« verhält sich der »Abstellraum« wie ein unnützer Luxus.
Ausdruck dieser architekturellen Änderungen sind die unzähligen »Self-Storage«-Häuser, die überall in den Städten entstanden sind – Warenhäuser für das intim Abgelegte. Diese »Häuser für Dinge« wurden zuerst im 19. Jahrhundert errichtet, für Upper-Class-Familien, die lange Zeit auf Reisen gingen. Heute sind zwei Drittel der Mieter Kunden mit biographischen Lebens-Wechseln – freiwillige oder unfreiwillige.
Nach Petra Becks „Wo Dinge Wohnen – Das Phänomen Self-Storage” sind die Gründe für das Ausparken der Dinge die VIER D:
Divorce (Scheidung),
Displacement (Umzug),
Death und
Downsizing, die Verkleinerung der Wohnfläche.
Während die Storage-Anbieter argumentieren, die Ablagerung verhelfe zu einem einfacheren und organisierteren Leben, vermuten andere, dass das Problem des Chaos einfach in ein anderes Raum-Zeit-Kontinuum ausgelagert wird.
Wir denken über den »Tidyismus« primär als ein Problem mit der physikalischen Welt. Aber unser virtuelles Leben ist mindesten gleichermaßen betroffen. Der »Digitale Hoarder« ist das Äquivalent des Messies im Realraum. Es gibt viele Menschen, die keine einzige E-Mail oder ein Foto löschen können. Nach Susanne Walker, der Autorin von “Life of Stuff”, lässt sich das auf ähnliche Blockaden und Pathologien wie in der Welt der Dinge zurückführen – schon wächst die Anzahl der Digitalen Ordnungs-Helfer, aus der Serie: „Wir ordnen ihr digitales Leben!”
TIDYISMUS betrifft alle Aspekte des modernen Lebens, und mehr und mehr betrifft es auch das Aufräumen von IDENTITÄTEN und AVATAREN. Wir brauchen Räume, in denen wir unsere wahren offline-Charaktere ausdrücken und genießen können. Das wahre Smart-Home der Zukunft wird jener Ort sein, an dem wir unser Glück durch das Würdigen, Inszenieren und Aufbewahren der wirklich wichtigen biographischen Dinge unseres Lebens finden. Wie Henry David Thoreau in WALDEN sagte: „Ein Mensch ist reich in Bezug auf die Anzahl der Dinge, bei denen er sich leisten kann, sie nicht zu besitzen.”
“A man is rich in proportion to the number of things which he can afford to let alone.”
Park Books: Wo Dinge Wohnen – Das Phänomen Selfstorage, 2019
Erhältlich bei Amazon: Wo Dinge wohnen
Susannah Walker: The Life of Stuff – Possessions, obsessions and the mess we leave, 2019
Erhältlich bei Amazon: The Life of Stuff
Gretchen Rubin: Outer Order, Inner Calm – Declutter and Organize to make room for Happiness, 2019
Erhältlich bei: Outer Order, Inner Calm
Im Home Report 2020 wirft Wohn-Expertin Oona Horx-Strathern einen kritischen Blick auf die Veränderungen unserer Lebensräume und ihre Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft.
Dabei benennt sie die wichtigsten Wohn- und Designtrends, zeigt die größten Herausforderungen und zukunftsfähige Strategien im Wohnbausektor auf, legt den wahren Kern von Smart-Home-Systemen frei und stellt inspirierende Architekten, Planer und Designer vor, deren innovative Ideen und zukunftsorientiertes Denken zu einem besseren Zuhause der Zukunft führen werden.
Mehr Info: Home Report 2020
Vertraue auf Natürliche Intelligenz (NI), anstatt Dich vor Künstlicher Intelligenz (KI) zu fürchten
Dies ein Kapitel aus dem Buch »15½ Regeln für die Zukunft«.
Sie können das Buch bei Amazon bestellen: [amazon_link asins=’3430210135′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’926815c2-3c97-454a-949e-cf273bf8492e‘] oder auch signierte Exemplare unter der Mail michaela.nemeth@horx.com ordern.
Der Romanautor Frank Schätzing in einem Interview zu seinem neuen Buch über KI:
Künstliche Intelligenz ist halt ein Acker, auf dem unwiderstehliche Desaster-Szenarien sprießen.
Der liebe Honigbär – Dauerblogger im deutschen Internet:
In wenigen Jahren wird ja sowieso diesen ganzen Rassisten und Antirassisten der Hahn abgedreht, und es wird nur noch um das Überleben der menschlichen Rasse im Konkurrenzkampf gegen KI gehen. Die Jobs werden weg sein, um die heute noch gestritten wird, und eine hohe Intelligenz wird die Menschen einfach verdrängen.
Begeben wir uns noch einmal auf jene Zukunftskonferenz, auf der wir am Anfang dieses Buches zu Gast waren. Die Veranstaltung hat jetzt die Mittagspause mit viel Networking und großen Stimmengewirr und thailändischem Fingerfood hinter sich gebracht. Die Moderatorin hat unter großem Hallo den Absatz einer ihrer metallischen High Heels abgebrochen und kommt jetzt unter Beifall in Turnschuhen auf die Bühne. Sie wirkt topfit und superschlank, während man selbst sich schon etwas derangiert und verschwitzt fühlt. Doch unweigerlich treibt die Veranstaltung auf ihren Höhepunkt zu:
Begrüßen Sie mit mir den berühmten Experten für KÜNSTLICHE INTELLIGENZ !!!!
Tosender Beifall. Dann beginnt der Experte, der ein seltsam gütiges, fast diabolisches Lächeln im Gesicht trägt, mit sanfter Stimme zu sprechen. Er erzählt er die Geschichte, wie die Künstliche Intelligenz Deep Blue den japanischen Go-Meister geschlagen hat. Der Meister hat geweint. Es geht weiter über die fantastischen Fähigkeiten der Künstlichen Intelligenz in der Entwicklung medizinischer Präparate. Bei der Regulierung des Verkehrs und der Vermeidung aller Staus. Fantastische neue Welten tun sich auf, besonders im Verkehr, bei den „Smart Cities” der Zukunft, Umweltschutz, und in der Pflege einer &bquo;immer weiter überalternden Bevölkerung”…
Die Botschaft: Künstliche Intelligenz rettet uns vor unserer eigenen, nicht-so-gut-funktionierenden Intelligenz. Sie repräsentiert eine höhere Vernunft, eine Gnade, die uns aus dem Inneren des Siliziums zuteil wird. Aber irgendwie ist auch alles unglaublich unscharf. Trotz all der wunderbaren Beispiele wird nicht klar, was »Künstliche Intelligenz« eigentlich IST. Ist sie ein Wesen? Eine »Entität«, die ihre eigenen Wege geht? Will sie etwas von uns? Immer wieder macht der Experte seltsame Andeutungen über „dieses unheimlich Kluge”, das „tausendmal intelligenter ist als wir”. Unwillkürlich erinnern wir uns an den zerglühten und ziemlich reizbaren Arnold Schwarzenegger, wie er als TERMINATOR aus der Zukunft zurückkehrt, um alle Menschen im Namen der Maschinen umzubringen. Aber dann doch die Seiten wechselt.
Gleichzeitig erinnern wir uns plötzlich an ein Märchen. An den König, der nackt die Prachtallee herunterfährt, weil zwei clevere Enkeltrick-Betrüger ihm eingeredet haben, dass seine kostbaren und sündhaft teuren Kleider nur von sehr klugen Menschen gesehen werden können. Von Leuten, die des Königs würdig sind. Also seinen Untertanen. An diesen leicht verblödeten König, der plötzlich einen Shitstorm erntet, weil die Leute auf der Straße zu sagen beginnen: Er hat ja gar nichts an!
Da ist ja gar nichts dran! möchten Sie jetzt gerne in den Saal rufen.
Tun sie es lieber nicht. Sie würden nicht durchkommen. Allzu fasziniert und bis über beide Ohren gläubig starrt das Publikum auf den Experten und liest ihm jedes Wort von den Lippen ab. Den Shitstorm würde nicht er ernten, sondern sie. Als Störer eines Super-Mythos. Eines Glaubensdogmas. Als Ketzer am Großmythos unserer Zeit würde man sie in die digitale Verbannung schicken.
Adventismus
Einer der Grund-Zukunfts-Hoffnungen der Menschheit besteht in einer rettenden ANKUNFT. Darin, dass eines Tages »Jemand« oder »Etwas« kommt und uns abholt. Uns aus unserer misslichen Lage als sterbliche Tiere erlöst.
Hunderttausende von Jahren haben unsere Vorfahren diesen Traum in mystische Bilder gekleidet. So gut wie alle menschlichen Kulturen entwickelten eine Zweite Welt, mit der sie kommunizieren konnten und aus der Botschafter ankamen und wieder gingen. Dämonen, Agenten, Geister, durch die man mit den Göttern in Verbindung trat. Viele tribale Gesellschaften leben bis heute mit einem direkten Draht zu den höheren Kräften – sie existieren in einer Traumzeit, in der das Reale und das Transzendente sich überschneiden. Noch im antiken Griechenland konnte man auf den ständigen Kontakt mit den Göttern hoffen, die so etwas Repräsentanten der Menschen waren und in vielfältiger Weise auf sie einwirkten. Game of Thrones life: Wenn Zeus zürnte, gab es Unwetter. Dann aber begann die monotheistische Phase, und Gott verabschiedete sich aus dem täglichen Leben. Er wanderte in die Bücher, die Exegese, die Liturgien. Und bisweilen in Kriege.
Technologie hat diese Phantasie des Adventismus immer wiederbelebt. Im Übergang zur technischen Welt, um 1900, war es eine Zeitlang der Elektromagnetismus, der Verbindung mit der anderen Welt brachte. Elektrizität schien eine höhere Dimension anzuzapfen und jene magische Potenz zu besitzen, die sich später, in der Hippie-Zeit, in den psychedelischen Drogen wiederfanden. Eine Zeitlang waren es UFOS und Außerirdischen, von denen man sich Erlösung versprach. Man denke an die Ankunft des magischen Monolithen in Kubricks »2001 – Odyssee im Weltraum«, der die halbverhungerten Menschenaffen, die unsere Ur-Vorfahren waren, von ihrer Blödheit befreite.
Heute ist es die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ, die uns erlösen soll.
Ein solcher Erlösungs-Mythos muss, damit er in unserem MIND funktioniert, mehrere Dimensionen gleichzeitig ansprechen. Er muss tiefe menschliche Sehnsüchte berühren. Er braucht eine hohe Erwartung der Überwindung von Leid. Er muss gleichzeitig tiefe ÄNGSTE aktualisieren, denn eine Erlösung ohne eine gleichzeitige Furcht ist unmöglich. Das, was uns erlöst, muss zwangsläufig übermächtig sein, selbst wenn es in Güte einherkommt. Was uns die »Erhöhung« bringt, muss gleichzeitig weitgehend im Dunkeln bleiben. Über-mächtig. Wir dürfen nicht allzu viel darüber wissen. Denn dann verliert der Mythos seine Strahlkraft.
Was würde sich für all das besser eignen als der Computer, dieses seltsame Gerät, dass sich längst mitten in der Realität befindet, aber immer noch eine Black Box ist, eine geheimnisvolle Pandora-Büchse ist, in die wir nicht wirklich hineinschauen können?
Inzwischen wird das Religiöse der Künstlichen Intelligenz ganz offen ausgesprochen. Ray Kurzweil, der Vertreter der Singularität, vertritt seit Jahren eine Entwicklung der KI, die zu Unsterblichkeit und »Entrückung« führt – er ist inzwischen Chief Innovation Officer bei Google und spricht auf seinen Events wie in einem Gottesdienst. Yuval Noah Harari, der derzeit auflagenstärkste Zukunfts-Publizist, wurde mit seinem Zitat berühmt:
„Die Geschichte begann, als die Menschen Götter erfanden und wird enden, wenn die Menschen zu Göttern werden.”
Irgendwie geht es also bei der KI immer um Gott. Um unsere Gott-Fantasien und unsere unstillbare Sehnsucht nach dem Überlegenen, das das Chaos in unserer Existenz, dieses unendlich Hin- und Her, das Fühlen und Leiden und Sterben endlich beendet.
Was ist Intelligenz?
Können Sie sich noch an die Intelligenztests früherer Tage erinnern? In meiner Kindheit in den 60-ern war das ein echter Trend. In Zeitschriften und sogar Schulbüchern konnte man seinen »IQ« bestimmen. Darin lag aber auch etwas Schamvolles, denn man wollte auf keinen Fall blöder sein als Thomas, das Mathe-Ass aus der 12 a. Deshalb schummelte man gerne ein bisschen, um wenigstens auf IQ 125 zu kommen. 130 war natürlich besser. Ab da begann Einstein. Schummeln war nicht so schwer, denn meistens ging es um Übungen, bei denen man Formen zu Quadraten zusammensetzen musste, oder rotierte Symbole richtig vergleichen musste.
Die Intelligenztests meiner Jugend fragten eine Intelligenz ab, die ein heutiger Computer mit Bravour erledigen könnte.
Ist mein Hund intelligent? Oh ja. Im Sinne seiner Bedürfnisse absolut. Er kann mich mit seinen wunderschönen braunen Augen und seinen lustigen, niedlichen Bewegungen manipulieren. Wenn er den Kopf schiefhält und eine Pfote hebt, damit ich ihm noch ein Leckerli gebe, bin ich völlig in seinem Bann. Es ist eine evolutionär entstandene Intelligenz, die meinen Hund sozusagen AUSMACHT.
Intelligenz ist die Fähigkeit, in bestimmten Kontexten Probleme zu lösen. Das können sogar Bakterien, Schmetterlinge, Protozoen und eben Hunde. Und natürlich Computer, wenn der Algorithmus, mit dem sie arbeiten, das Problem MATCHT.
Unser Verständnis von Intelligenz sagt eine Menge aus über unser Selbstbild als Menschen. Und über den Kontext, in dem Kultur das Intelligente definiert. Das Intelligente ist kulturell immer das vorteilhafte, das, was einen VORSPRUNG erzeugt. In der industriellen Kultur, in der die meisten von uns aufgewachsen sind, waren die Ideen der Mechanik und der Effizienz die dominanten Mindsets. Was dafür gebraucht und gewollt wurde, war der analytische Verstand. Und deshalb war der INTELLIGENZQUOTIENT an ingenieurische Fähigkeiten angepasst.
Dann aber veränderte sich das Bild der Intelligenz entlang einer ERWEITERUNG unserer Menschenbilder. Der Psychologe Howard Gardener brachte in den 90er Jahren die »Emotionale Intelligenz« ins Spiel. Und von da an ging es sehr rasch. Hier eine grobe Liste heutiger »Intelligenzen«:
Spatiale Intelligenz: Die Fähigkeit, sich im Raum, in der Welt, physisch-körperlich zu orientieren (geht durch die Anwendung »intelligenter« Navigationssysteme eher verloren).
Musikalische Intelligenz: Die Intelligenz der Töne, Rhythmen, tonalen Stimmungen, eng verbunden mit Körperintelligenz.
Existentielle Intelligenz: Verständnis und Durchdringung von Fragen der menschlichen Existenz – warum leben wir, wie sterben wir? etc.
Körper- Intelligenz: Bewegungsfähigkeit und Fitness-Wissen, ein gutes Verhältnis zu seinem eigenen Körper und seiner physischen Funktionen.
Linguistische Intelligenz: Selbstausdruck durch Sprache
Emotionale Intelligenz: Die Fähigkeit, Gefühle von Anderen zu verstehen, zu empfinden und zu moderieren.
Naturalistische Intelligenz: Das Verständnis der Natur und des Lebendigen.
Salutogenetische Intelligenz: Erweiterte Körperintelligenz in Richtung auf das eigene Gesundheits- und Ernährungsverhalten sowie den Umgang mit Krankheit, Stress und Heilung.
Kreative Intelligenz: Die Fähigkeit abweichend von Normen zu denken und schöpferisch zu handeln.
Intrapersonelle Intelligenz: Die Fähigkeit, sich selbst und die eigenen Gefühle zu verstehen und zu moderieren.
Kommunikative Intelligenz: Die Fähigkeit, sich selbst im Kontext mit anderen auszudrücken und mental zu vermitteln.
Moralisch/Ethische Intelligenz: Die Intelligenz des komplexen, sinnhaftem Miteinander.
Was aber ist dann »Künstliche Intelligenz«? Fasst sie all diese humanen Intelligenzen zusammen? Übertrifft sie sie? Wir kommen wir darauf, dass die »Künstliche« allen anderen, den natürlichen oder eben menschlichen Intelligenzen »überlegen« wäre ?
Die Große Verwechslung
Es beginnt beim Begriff der KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ selbst, der in sich selbst ein unaufgelöstes – und unauflösbares – Paradox beinhaltet. Denn woran messen wir »Intelligenz«, können wir Intelligenz nur messen? Natürlich: am Menschlichen. Homo sapiens, das heißt der kluge Mensch.
Wenn wir das Attribut KÜNSTLICHE vor die Intelligenz setzen und beide Begriffe koppeln, dann entsteht ein im Hirn unlösbarer Knoten. Wir setzen etwas gleich, was im Grunde nicht gleichzusetzen ist. Das Künstliche ist niemals intelligent im menschlichen Sinne, wird aber dazu gemacht. Ein so genannter Kategorienirrtum entsteht. Wir produzieren einen dauerhaften mentalen Kurzschluss, der zwei Begriffe um ihre notwendige Trennung bringt:
Intelligenz und Bewusstsein
Intelligenz ist die Fähigkeit, Probleme operativ zu bewältigen. Beispiel Schachspiel: Ein Computer kann besser spielen wie ein Mensch. »Er« ist deshalb durchaus intelligent – im Sinne der Intelligenz des Schachspielens. Also einer logischen Wenn-Dann-Operation.
BEWUSSTSEIN, dieser seltsame Zustand, über den bislang nur bipedale komplexe Karbonstrukturen wie Menschen verfügen, beinhaltet jedoch ganz andere Elemente. Zum Beispiel die Fähigkeit, Intentionalitäten in immer wechselnden Kontexten zu entwickeln. Etwas zu WOLLEN. Oder auch zu VERGESSEN. Dahinter steckt nichts anderes als eine SELBSTKONSTRUKTION, die der wechselseitigen Spiegelung diverser Wahrnehmungs-(oder Intelligenz-)formen entstammt. Wir beobachten uns ständig IN UNS SELBST. Wir betrachten wir die Welt mit ständig wechselnden Motiven: Hunger, Sexualtrieb, Neugier, Ehrgeiz, Neid, Gefahrenvermeidung, (Wieder-)Herstellung von Komfortzonen in Hirn und Körper, Expansion, Aggression. All dies ist zutiefst ORGANISCH, es baut auf der Fähigkeit von Zellen und Neuronen auf, ihre Bindungs-Zustände ständig zu verändern und dabei mit der Welt virtuos zu kommunizieren.
Aus der Verschränkung all dieser Zustände entsteht Bewusstsein (es gibt noch eine andere Intelligenz-Definition, die IIT, Integrated Information Theory, aber das würde hier zu weit führen). Bewusstsein ist nichts anderes als die Beobachtung der Beobachtungen – der Neuropsychologe Douglas R. Hofstadter hat das »die seltsame Schleife« genannt. (Douglas R. Hofstadter, „Ich bin eine seltsame Schleife“. Stuttgart, Klett-Cotta 2008).
Das beinhaltet das Körperliche wie das Abstrakte, das Konkrete wie das Sublime, das Fixierte wie das Unscharfe. Intelligenz – die Summe und Verschränkung der oben aufgezählten Intelligenzen – ist etwas ganz anderes als »Probleme lösen«. Oder Operativität zu maximieren oder »die richtige Lösung finden«. Es ist Beobachtung der Beobachtungen.
Der amerikanische Philosoph und Informatiker David Gelernter, der sich sein Leben lang mit dem Mythos der Künstlichen Intelligenz beschäftigt hat, formulierte in einem Interview der Süddeutschen (28. März 2018):
„Die zerstörerischste Analogie der vergangenen Jahre ist es, das Gehirn als eine Art organischen Computer und den Geist als seine Software aufzufassen.”
Was wir im Intelligenzvergleich zwischen Mensch und Maschine unterschätzen – und kleinmachen – ist unsere genuin menschliche Fähigkeit zur Emotion. Emotion sind Abkürzungen, die uns in die Lage versetzen, sehr schnell und unmittelbar auf komplexe Umweltlagen zu reagieren.
Nehmen wir die Fähigkeit zur Angst. Eine siliziumbasierte Struktur kann womöglich furchtbar komplex werden. Aber kann sie ANGST »empfinden«? Dafür braucht sie einen Körper. Die KI-Experten behaupten, sie könnten »demnächst« so etwas zumindest simulieren. Aber Angst kann man nicht auf Silizium simulieren, denn sie ist ein Gefühl der Erlebens von hormonellen Ausschüttungen. Es müsste also die innere Struktur des Systems, das Angst empfindet, mit Nerven verschaltet sein, die Schmerz transportieren. Dieser Schmerz müsste wiederum an Erinnerungen und das innere Erleben der Sterblichkeit gekoppelt sein. Angst und Schmerz sind Phänomene, die nur im Kontext von Überleben wollen einen Sinn ergeben. Um ein Bewusstsein zu entwickeln, in dem sich evolutionäre Erfahrungen abgelagert haben, braucht man einen Neocortex in Verbindung zum Körper – oder eine ähnliche Konstruktion. Nur mit Bewusstsein könnte die Angst entstehen, abgeschaltet zu werden, wie sie HAL in der berühmten Hänschen-Klein-Szene in „2001” zeigt. Oder scheinbar zeigt.
Der Mensch unterscheidet sich von der Maschine, indem er ein geliebtes oder vernachlässigtes Wesen ist.
Wolfgang Hildesheim
Der anthropomorphische Effekt
Was haben Eisenbahnen, Monster, Häschen, Flugzeuge oder Spielsachen gemeinsam? Sie alle können die Hauptpersonen in Filmen sein, Wir lachen mit ihnen, fürchten uns mit ihnen, identifizieren uns, weinen sogar – obwohl es sich nur um virtuelle SYMBOLE handelt. Ist das nicht bemerkenswert? Um nicht zu sagen IRRE?
In seinem Buch „The Brain” weist der Hirnforscher David Eagleman darauf hin, wie plastisch das Hirn reagiert, wenn es um die ZUWEISUNG von Lebendigkeit an reine Symbole geht (David Eagleman, The Brain: The Story of You, Edinburgh, Canongate 2015).
„Half of us are other people” – in uns selbst sind die »anderen« immer schon inkorporiert. Comicfiguren sind tatsächlich lebendig; wer einmal mit Donald Duck oder Mickymaus Bekanntschaft gemacht hat, weiß, wie sogar sehr schräge Charaktere in uns Empfindungen auslösen.
In der langen Überlebens-Geschichte der Menschheit war es von existentieller Bedeutung, Intentionen LESEN zu können. Dafür hat uns die Evolution ein komplexes Sensorik-System mitgegeben: Die Spiegelneuronen in unserem großen Neocortex, Gefühle, Instinkte, feine Wahrnehmungen der »Aura«, der Körpersprache, der Mimik und Gestik eines Gegenübers. Das Geniale an unserem Hirn ist eben, dass es auch mit Abstraktionen, mit Mustern arbeiten kann, und dann diese Emotionen stimuliert. Deshalb kann uns sogar ein Trickfilm mit einem depressiven Strichmännchen echt traurig machen.
Die enorme Faszination für Roboter und Künstlichen Intelligenz, die derzeit die gesamte Zukunftsdebatte prägt, entsteht aus einer ÜBERTRAGUNG menschlicher Aspekte auf eine Maschine. Dafür eignet sich der Computer ganz besonders gut: Algorithmische Rechner machen es uns verdammt schwer, ihre »Intentionen« zu lesen. Sie sind eine BLACK BOX. Ein Kasten, in den man nicht hineinschauen kann. Was geht im Inneren eines Geräts vor, in dem unfassbar schnelle Operationen ablaufen? Keine Körperbewegungen, kein Achselschweiss, kein Augenaufschlag, den wir emotional interpretieren können. Also denken, erfinden, er-fühlen wir, wie beim Strichmännchen, den »Charakter«, die persona, dazu.
Diese Projektion ins Maschinelle ist seit dem Beginn des industriellen Zeitalters eingeübt. Die maschinelle Maria in METROPOLIS (1924) betört die Menschen mit ihrem Gesang. Sie vertritt das Böse-Weibliche, stellvertretend für den finsteren Kapitalismus, der in dieser dunklen Stadt herrscht, für den sie eine Art Lockvogel spielt. Der Roboter Elektro auf der Weltausstellung von 1939 in New York verhält sich wie ein leicht betrunkener Fabrikarbeiter, der aber auch ein gemütlicher Kumpel ist. Arnold Schwarzenegger kehrt als Killer-Kampfmaschine aus der Zukunft zurück, in der die Maschinen die Macht übernommen haben, wie der Späher eines feindlichen Stammes mit miesen Absichten. Aber Arnolds Auftrag ermöglicht gleichzeitig eine Umdrehung. Als besonders hoch entwickelter Androide wird er nun anfällig für menschliche Empathie. So hoffen wir, das Böse, was den Maschinen zuschieben, durch unsere eigene Menschlichkeit BANNEN zu können.
In Stephen Spielbergs Epos „AI – Künstliche Intelligenz” (ursprünglich sollte das Werk von Kubrick verfilmt werden, der aber früher starb) wird die Mensch-Maschine-Rekursion noch ein Stück weitergeführt. Ein künstlicher Junge aus dem Roboter-Labor wird als Ersatz für ein lebendiges Kind einer reichen Familie produziert, das durch einen Unfall ums Leben kam. Schon zu Beginn wird ausgeführt, wie manisch sich die Mutter ein gesundes Kind wünscht. Die Neurose, das Trauma durch den Tod des leiblichen Kindes, wird als ein entsetzlicher Zwang gezeigt. Die Mutter ist sozusagen ein Roboter, eine »Muttermaschine«, ein Sklave ihrer Gefühle, in ihr wird das Unbedingte der Biologie sichtbar gemacht. Dagegen werden die Roboter als milde, gütige EMPHATEN gezeigt. Sie entwickeln Güte, weil sie eine Autonomie von Gefühlen besitzen, die uns als Menschen zerstören können. Sie sind die wahrhaftigen »Wesen« in einer Welt, in der die Menschen wie Maschinen wirken, Roboter ihrer selbst.
Teile des Filmes spielen in einem dystopischen Vergnügungspark, in dem rasende Dekadenz herrscht, und in einem von den Fluten überschwemmten New York – Metapher für den mechanischen Todestrieb der Menschheit. Während die Erde im Chaos versinkt, die Menschen sich als egoistische, kalt kalkulierende oder irrational emotionsgesteuerte Idioten erweisen, übernehmen die Roboter sanft die Evolutionslinie des Humanismus. Am Ende wird der kleine Androiden-Junge in der Ewigkeit der Mutterliebe erlöst – durch eine übermenschliche AI, ein aus den Robotern hervorgegangenes hyper-empathisches Überwesen. Gott.
(Anmerkung: Man kann diese Geschichte nur durch die Biographie des berühmtesten aller Science-Fiction-Autoren wirklich entschlüsseln, Philipp K. Dick, der die Romane der wichtigsten Sci-Fi-Filme aller Zeiten schrieb. Siehe seine Biographie: Jonathan Lethem; Pamela Jackson (Hrsg.), The Exegesis of Philip K Dick, London: Gollancz 2012.
Die humane Selbstabwertung
Solche Umkehrungs- Narrative, in denen die Maschinen das Menschliche übernehmen, finden sich in fast allen KI-Filmen. In BLADE RUNNER stellt sich die Frage, wie weit der Held, der »Terminator« der Replikanten, durch seine Einsamkeit nicht längst selbst zum Androiden geworden ist. In HER erweist sich der moderne Angestellten angesichts einer Siri-Liebes-Simulation als eine Art Romantik-Maschine, die nur ihren blödsinnigen Liebes-Reflexen folgt – das künstliche Wesen, die künstliche Frau, agiert dagegen verantwortungsvoll und wahrhaft emotional. In EX MACHINA produziert ein beziehungsgestörter Hyper-Nerd, ein Freak-Tycoon, der einen großen Digital-Konzern leitet (Bezos und Zuckerberg lassen grüßen), Roboter-Gespielinnen für jede sexuelle Leidenschaft. Kaputt sind immer die Menschen. Heil(ung), oder Würde, verheißen die Maschinen.
So erzählt der Mythos der KI vor allem von unserem humanen Selbstzweifel. Eine der quälenden Selbstwahrnehmungen des Menschen besteht darin, sich selbst als schrecklich UNGEORDNET zu empfinden. Menschliche Existenz ist »messy«, ein einziges Chaos widerstreitender Gefühle, Instinkte, einfacher physiologische Empfindungen wie Hunger, Geilheit, Gier, Erschöpfung, die vielen Töne der Angst, Sehnsucht, Liebe und Wahn.
Dieses chaotische Durcheinander quält uns, es vermittelt die Selbstwahrnehmung, irgendwie »kaputt« zu sein. Der KI-Hype beinhaltet also zwei Projektionen bzw. Gegen-Projektionen: Erstens die Vision des PERFEKTEN MENSCHEN, der aus der vom Menschen angezettelten technischen Evolution entspringt. Ein Schöpfermythos, in dem wir uns selbst vergöttlichen. Zweitens aber die unbewusste Sehnsucht, SELBST eine Maschine zu sein, die innere Paradoxität zu überwinden zugunsten einer klaren, eindeutigen »Programmierung«.
Anthropomorphismus
—————————
Mechanomorphismus
Der Projektion des Menschlichen in Computer entspricht eine Übertragung des Maschinellen in uns selbst. Wäre es nicht wunderbar, sich von diesem ganzen Durcheinander, dieser furchtbaren Verwirrung namens »Leben« zu verabschieden? Könnte uns niemand mal verlässlich sagen, welchen Partner wir heiraten, wie viele Kinder wir bekommen sollten und welchen Beruf wir ergreifen müssen? Das ist es ja, was die »Künstliche Intelligenz« lösen soll – all das, was wir nicht entscheiden können. Rational und unbestechlich soll sie regeln und sorgen – was Krankheit ist, wie man den Verkehr besser steuert, was die Regierung tun soll. Eine solche Instanz fasziniert uns, sie knüpft an unsere Sehnsucht nach einem höheren Wesen an. Und ängstigt uns gleichzeitig. Zieht uns magisch an. Und stößt uns horrend ab. Aus diesem inneren Wechselspiel entsteht der Dämon der Künstlichen Intelligenz: Als Wunschangst.
Lob der Natürlichen Intelligenz
Was aber kann Künstliche Intelligenz wirklich? Und wie verhält sich dieses Können im Vergleich zu den humanen Fähigkeiten?
Lassen wir einmal die Überwältigungs-Phantasie à la Terminator und Matrix beiseite. Es ist nicht unmöglich, aber sehr, sehr unwahrscheinlich, dass sich die Roboter, oder die Künstlichen Intelligenzen gegen »den Menschen« erheben und ihn versklaven. Natürlich könnten sich auch Bäume gegen den Menschen erheben. Oder unsere Autos uns auffressen (was sie in gewisser Weise sogar tun). Aber viel wahrscheinlicher ist ja, dass wir uns selbst unterdrücken – mit Hilfe von KI. Der Rest sind die Drehbuchnotwendigkeiten von Science-Fiction-Horror-Plots. Und frei flottierende Angstradikale, die sich an IRGENDETWAS binden müssen.
Nehmen wir ein realistisches Beispiel. Was kann Künstliche Intelligenz am PFLEGENOTSTAND ändern? An jedem unerfüllten Bedarf, den eine alternde Gesellschaft in Bezug auf ihre alten Siechen und Kranken hat? Ich habe viele Experten gefragt. Alle gaben mir seltsam verdruckste Antworten, die irgendwie unbefriedigend waren.
Hier einige Beispiele:
KI kann einstufen, wie pflegebedürftig ein Mensch ist, und dabei Krankenkassenkosten sparen.
KI kann die Tagesablaufpläne und Personalpläne von Pflegeheimen optimieren.
KI kann automatisch die Pillenausgabe in Altenheimen organisieren.
KI kann über Fallmatten wahrnehmen, ob ein alter Mensch einen Zusammenbruch hat.
KI kann nachts in den vielen Notsituationen in Pflegeheimen entscheiden, ob eine Überweisung ins Krankenhaus notwendig ist.
Ja, klar. All das klingt gut und schön. Aber irgendwie auch unbefriedigend. Es »löst« nicht wirklich das Problem des Pflegenotstands.
Und was IST überhaupt dieses Problem?
Relativ selten kam bei den Experten die Idee auf, die in den Medien derzeit ziemlich fröhlich und frivol herumspukt: Pflegeroboter. Denn die Idee des pflegenden Voll-Roboters führt zu einem schnellen Entlarvungs-Effekt: Technik soll eigentlich genutzt werden, um ein humanes Problem an Roboter ABZUSCHIEBEN. Zu Rationalisieren. Die Vorstellung eines von Robotern betriebenen Pflegeheims ist eine komplette Horrorvorstellung. Jeder, der einen Funken Herz hat, würde verstehen, dass die Alten darin sofort sterben würden. Eine völlig empathielose und eiskalte Vision. Allenfalls wurde noch die berühmte Kuschelrobbe erwähnt, die heute bei Demenzkranken eingesetzt wird. Aber das ist, beim besten Willen, kein »Pflegeroboter«.
Wie aber könnte man den »Notstand« tatsächlich lösen?
An dieser Stelle sollten wir Jos de Blok kennenlernen. Der Holländer ist weit über die Szene der Altenpflege hinaus weltberühmt geworden. Um den Pflegenotstand zu lösen hat Jos de Blog zunächst einmal einfache Fragen gestellt. Unter anderem: WAS IST EIGENTLICH DAS WIRKLICHE PROBLEM BEI DER PFLEGE ALTER MENSCHEN?
* Wollen Menschen eigentlich in Pflegeheime?
* Warum ist Pflege immer so ein »Elend« – obwohl es doch menschliche Zuneigung ist?
Die meisten Menschen wollen zuhause, in den eigenen vier Wänden gepflegt werden, wenn sie Hilfe bedürfen. Das ist aber oft schwer, weil das Sich-Kümmern um Menschen eine komplexe Aufgabe ist. Die Systeme, die dazu entwickelt wurden, sind im hohen Masse unintelligent. Überkomplex und unterkomplex gleichzeitig. Unter anderem, weil man versucht hat, sie zu DIGITALISIEREN.
In den letzten Jahren hat sich gerade durch die Digitalisierung eine wahre Flut von Registrierpflichten über Pflegekräfte ergossen, besonders über jene, die im häuslichen Bereich arbeiten. Pfleger/innen müssen jeden Handgriff in Listen eintragen – inzwischen meistens in elektronische Listen. Das führt nicht nur zu einem wahnsinnigen Zeitaufwand. Es verdirbt Kommunikationen durch brutalen Taylorismus. So werden die Pflegekräfte »robotisiert«.
Pflegende und Patienten reden gar nicht mehr miteinander, weil alle unentwegt damit beschäftigt sind, Zeitpläne zu erfüllen. Dadurch entsteht bei den Patienten ein Gefühl der Einsamkeit, der Verlassenheit, obwohl man dauernd von »Service« umgeben ist. Und bei den Pflegenden ein Erleben tiefer Entfremdung, Stress und Sinnlosigkeit.
Ein solches System zu OPTIMIEREN – etwa durch KI – würde genau das Falsche optimieren. Es würde immer mehr hocheffektive Zeiteinheiten definieren, immer effizientere Pläne machen…
Jos de Blok erfand ein völlig neues PflegeSYSTEM. Und dabei stellte er die gesamte Organisation vom Kopf auf die Füße. Er schuf eine Pflege-Kultur, die auf Beziehungen und Bedeutungen basiert. Und die BEGEGNUNG optimiert. Das funktioniert mit autonomen Teams, die sich ihre Arbeit SELBST organisieren – ohne große Bürokratie. Er schaffte die extreme Arbeitsteilung ab, die Aufteilung in kleine Handgriffe, so dass ein/e Pfleger/in auch mehrere Tätigkeiten machen kann – Pillen geben, Bett wechseln, Vorlesen. Er opferte EFFIZIENZ für mehr EFFEKTIVITÄT: Weil seine Teams die Kunden in ihnen sozialen Beziehungen wahrnehmen, geht es um die Gestaltung von Netzwerken, von Kooperationen, von ganzheitlichen LEBENSSITUATIONEN. Die Pfleger reden nicht nur mit den Patienten, sondern auch mit dem Arzt, den Nachbarn, der Familie.
Ins Zentrum dieses anderen Systems führte eine neue Perspektive ein, die etwas mit ZUKUNFT zu tun hat. Während es in der »normalen« Pflege es immer nur um VERSORGUNG geht, um die Aufrechterhaltung des Status Quo, arbeitet das Buurtsorg-Systeme mit PERSPEKTIVEN. Die Teams machen mit ihren Patienten VERBESSERUNGS-ZIELE aus.
Wie können wir es schaffen, dass Sie nächste Woche mit einer Freundin ins Kino gehen können?
Wie können wir die Beinmuskeln stärken, so dass wieder Spaziergänge möglich sind?
Wäre es nicht toll, einen Hund anzuschaffen?
Wie können wir den Tablettenkonsum reduzieren?
Wie können wir mehr Besucher herbeilocken, auch mal die weit entfernt wohnende Familie?
Buurtsorg – Nachbarschaftspflege – heißt das Pflege-System, das inzwischen weltweit 70.000 Mitarbeiter hat und sogar in China eingeführt werden soll. Buurtsorg zeigt, dass man bisweilen unendlich viel mehr Verbesserung erreicht, wenn man in humanen Fragestellungen über ein System und seine Verbesserung nachdenkt. Jos de Blog und sein Team haben NATÜRLICHE Intelligenz eingesetzt, um das Problem zu lösen, oder zumindest zu entschärfen, das vorher unlösbar erschien.
Nehmen wir ein anderes Beispiel: Die »Intelligente Stadt«. Kaum ein Urbanitäts-Kongress, auf der das Buzzwort »Smart City« nicht mit einer Unmenge von Flussdiagrammen und in alle Richtungen explodierenden Animationen und gefeiert wird. Der Verkehr fließt flüssig, weil er von einer übergreifenden KI geregelt wird. Alle Verbrecher werden von KI auf der Straße automatisch erkannt, schon bevor sie Verbrechen begehen (man sieht diese wunderbaren Klammern und Datenkästchen um die Augen). Die U-Bahnen fahren vollautomatisch. Die Straßenbeleuchtung adaptiert sich stufenlos ans Tageslicht. Alles wird eben OPTIMIERT.
Im Grunde handelt es sich hier um eine alte Vorstellung aus der industriellen Ära: Die Stadt als Maschine, bis zur Perfektion perfektioniert.
Was ist eine Stadt WIRKLICH? Ein lebendiges Chaos. Ein großes Gewusel, ein Kommen und Gehen. Ein Werden in Abweichungen und ständigen Adaptionen. Improvisation rund um die Uhr. Vielleicht ist sie eher das Gegenteil einer Effizienzmaschine: Die Vernichtung von Effizienz durch den Abrieb der menschlichen Kommunikation. Eine Stadt wächst aus Vereinbarungen, Kommunikationen, Spontaneität und Kreativität. Eine lebendige Stadt ist voller Konflikte, Kompromisse und Ungleichgewichte, die sich auf neuer Stufe wieder in Gleichgewichte verwandeln. Eine Stadt ist eine permanente Oszillation von Ich und Wir, gesteuert von den Kräften der humanen Selbstorganisation. Alle Städte, die PERFEKT am Reißbrett konstruiert wurden, scheitern IMMER. Man denke an die Reißbrett Städte der kommunistischen Ära oder Retortenstädte wie Brasilia.
Städte sind organische Improvisationen. Eine Stadt zu optimieren, heißt ihre Lebendigkeit zu zerstören.
In der Fahrradstadt Kopenhagen nutzt man KI, um die optimalen Fahrradwege an den »Desire lines« entlang zu errichten, also den von den Stadtbewohnern selbst gewählten Fahrverbindungen. Ein Beispiel für gelungene UNTERSTÜTZUNG durch KI. So macht es Sinn. Aber alles spricht gegen eine Technologie, die die Beziehungen der Menschen überformt. Eine KI, die den Verkehr optimieren soll, wird immer mehr und mehr Autoströme erzeugen. Die Entscheidung aber, mehr Begegnungsräume für die Bürger zu schaffen, mehr Fahrräder in die Stadt zu bringen, das Auto zurückzudrängen, ist immer eine ANALOGE (politische) Entscheidung.
In der Riesenstadt Sao Paolo wurde zu den Olympischen Spielen und der Weltmeisterschaft eine gigantische KI-Verkehrszentrale errichtet, die den unentwegt stockenden Verkehr endlich »regeln« sollte, Kaum fünf Jahre später steht diese Zentrale so gut wie leer. Weil man vergessen hatte, die Bevölkerung bei der Verkehrs- und Straßenplanung zu beteiligen und mitzunehmen, erzeugten die Steuerungsalgorithmen erst immer mehr Chaos, und irgendwann kreisten die Algorithmen immer nur um sich selbst.
In Unschärfe bewegen
Und was ist mit der Medizin? KI kann helfen, Moleküle zu finden, die bei der Krebsbekämpfung dienen. Aber als diagnostischer Arzt ist sie eher ein Versager. Und das liegt womöglich nicht daran, dass sie „noch nicht soweit ist”. Vielleicht eher daran, dass sie schon ZU WEIT ist. Die ersten klinischen Diagnoseprogramme des berühmten Watson-Systems von IBM wurden wieder eingestellt. Weil das Symptom in einem KI-System algorithmisch verengt wird, entstehen jede Menge false-positive Diagnosen. Die KI funktioniert wie der sprichwörtliche Mensch, der einen Hammer in der Hand hat und überall nur Nägel sieht.
Nichts spricht gegen Diagnosesysteme, die helfen, Röntgenbilder VORzusortieren. Aber Symptome sind immer nur TEILPHÄNOMENE in einem komplexen Organismus. Menschen können eine Unmenge von unscharfen Symptomen entwickeln, die eine eigene Geschichte erzählen – Dr. House lässt grüßen. Aber könnte man Doktor House in einen Roboter verwandeln, in ein Expertensystem? Schwierig, denn House kommt den Diagnosen immer durch INTERAKTION auf die Spur, indem er nach Hause zum Patienten geht und mit ihm spricht, sich streitet, tobt und vor dem Krankenbett Gitarre spielt (und manchmal mit ihr schläft). Das ist politisch inkorrekt, aber höchst effektiv.
Der englische Moralphilosoph Jeremy Bentham formulierte zu künstlichen Intelligenzen: „Die Frage ist nicht: Können sie logisch sein, können sie sprechen? Sondern Können sie LEIDEN?”
Im humanen Kern der Medizin geht es ja nicht wirklich um Krankheit. Sondern um Heilung. Wenn wir uns der Heilung verpflichten, entsteht aber immer ein Zukunftsprozess, der von BEZIEHUNG abhängig ist. Was zwischen Patienten und Art als Übertragung entsteht, ist oft entscheidend. Wer heilt, öffnet Lebenswege. Der Tod hingegen kündigt sich schon lange vorher durch VERENGUNG an (im Medizinischen zum Beispiel durch sehr regelmäßigen Puls, flache Atmung, graue Hautfarbe etc.). Uralte Medizinische Disziplinen wie die Traditionelle Chinesische Naturheilkunde bauen genau auf dieser Idee auf: Es geht im biologischen Sein vor allem um Energie. Vitalität ist das Zusammentreffen von Energien die sich im Menschen vereinen. Zur Heilung gilt es, diese Energien zu spiegeln, zu aktivieren.
Das Kluge-Hans-Syndrom
Der Kluge Hans war ein Pferd, ein Orlow-Traber, das um die Jahrhundertwende 1900 für große Sensation auf Marktplätzen und Kirmes-Ereignissen sorgte. Der Musiklehrer Wilhelm von Osten hatte den eleganten Hengst dressiert und stellte ihm vor und im 19. Jahrhundert Rechen-Aufgaben vor zahlendem Publikum. Hans zählte, in dem er mehrmals mit dem Huf auf das Pflaster klopfte oder durch Nicken und Schnauben. Er konnte einfache Additionen bewerkstelligen und Gegenstände oder Personen abzählen. Von Osten war ein leicht wirrer Mensch, der sich für einen Genius hielt, einen Pferdeflüsterer, und das war er auf seine Weise auch.
Ein Student lüftete schließlich das Rätsel:. Hans war ein sehr sensibles Pferd, das Körpersprache und Mimik seines Trainers, aber auch des Publikums genau lesen konnte. Wenn Leute aus dem Publikum eine Frage stellten, spannte sich ihre Körperhaltung kurz vor der richtigen Anzahl von Klopfzeichen. Wilhelm von Osten passte diese Enthüllung überhaupt nicht, er behauptete bis zu seinem Lebensende, es handelte sich um »animalische Magie«.
Vielleicht ist Hans und sein Schicksal eine gute Metapher für unser Verhältnis zur Künstlichen Intelligenz, deren Klopfen und mit-den-Hufen-Scharren wir heute so bewundern. Und natürlich reagieren wir alle wie das nur allzu gerne gläubige Publikum, das schließlich Eintritt für eine Wunder-Show bezahlt hat, oder der Pferdelehrer, der sich seinen Ruhm nicht verderben will. Es kann nicht sein, was nicht sein darf. »KI!« muss gefährlich, wundersam, magisch, unfassbar bleiben! Sonst wären wir sehr enttäuscht. Menschliche Hirne – das gehört zu unserer NATÜRLICHEn Intelligenz, bauen sich ihre Umwelt so zurecht, dass sie motiviert und »gespannt« bleiben. Wir müssen uns vor der Zukunft fürchten und von ihr unendlich fasziniert sein. Was wären wir ohne diesen Zukunfts-Dämon, der unsere Welt »radikal verändern« und uns, wie gesagt »zu Göttern machen wird«?
Aber nichts von alledem wird wirklich passieren.
Die Multiplizität
Könnte unsere Beziehungsgeschichte mit der KI nicht auch ganz anderes ausgehen als ENTWEDER in Richtung Dystopie – digitale Unterjochung und Welt am digitalen Draht – ODER Erlösung und Lösung aller Probleme durch die intelligent gewordenen Maschinen? Ich bin mir sicher, dass genau das passieren wird.
Zum Beispiel im Bereich der Arbeit. Seit vielen Jahren werden uns deprimierende Prognosen vorgesetzt, dass Künstliche Intelligenz uns in der Arbeitswelt endgültig über-flüssig machen wird. Der Mensch verschwindet, wie es so schön heißt aus der Arbeitswelt, wie das Pferd aus der Landwirtschaft. Nur ist das kompletter Blödsinn. Je mehr ein Land, eine Volkswirtschaft, automatisiert wird, desto mehr Erwerbsarbeit gibt es. Allerdings in immer mehr schillernden und differenten Formen.
Es stimmt schon: Die ALTEN Arbeitsplätze – Betonung auf Platz, lebenslang, gleichförmig, eben digitalisierbar – werden durch Automaten, Roboter und KI abgeschafft. Aber das ist ein schon lange andauernder Prozess. Mindestens so alt wie die industrielle Revolution.
Das jüngste Gerücht lautet, dass Computer auch die symbolanalytischen Tätigkeiten übernehmen werden. Die berühmte Oxford-Studie von 2013, erstellt von zwei Oxford-Ökonomen, Carl Benedikt Frey und Michael A Osborn, behauptet, dass nicht nur Taxifahrer, Lastwagenfahrer und VerkäuferInnen, sondern auch Fotomodels, Rechtsanwälte und Barkeeper und Journalisten von der Künstlichen Intelligenz in Frührente geschickt werden.
Ich bin sicher, dass das nicht stimmt. Die Anzahl der Rechtsanwälte werden schon deshalb nicht abnehmen, weil der Vormarsch der KI unendlich viele neue Rechtsstreit erzeugt – zwischen Firmen, Ländern, Anbietern von KI und deren Kunden und so weiter. Vielleicht werden dann auch »KI-Rechtsanwälte« mitmischen, aber die GESAMTzahl der Rechtspfleger wird steigen. So war das immer. Immer dann, wenn sich technologisch ankündigt, dass ein Berufsstand maschinell substituiert wird, vermehrt er sich auf magische Weise – in eine andere Varianz. Das war schon bei Bankern, Politikern und Prostituierten so und bei noch tausend anderen Berufen.
Besonders bei den Barkeepern bin ich mir sicher, dass die Aussterbe-Phantasie falsch ist. Diese Vermutung basiert darauf, dass es inzwischen Cocktail-KIs gibt, zum Beispiel auf Kreuzschiffen, die in Sekundenschnelle perfekte Moskau Mules oder Daiquiris zusammenschütteln. Sind das Barkeeper? Nein, es sind Schüttelautomaten. Echte Barkeeper sind Seelsorger, Lebensbegleiter, Klaschgefäße, diskrete Schweiger und begnadete Kommunikateure, Punching Balls oder Mediatoren für ungünstige Liebesbeziehungen. Davon wird es, so oder so, in Zukunft IMMER MEHR geben.
Im romantischen Science-Fiction-Film PASSENGERS von 2016 versieht ein Androide seinen Dienst als perfekter Barmann in einem luxuriösen Raumschiff, das reiche Migranten auf einen anderen Planeten bringen soll. Durch einen Defekt werden zwei Passagiere auf der 99-jährigen Reise aus dem kryonischen Tiefschlaf geweckt. Der Barmann (kongenial gespielt von Michael Sheen) ist nun ihr einziger Begleiter. Er spielt von nun an die Hauptrolle. Er ist Echo, Spiegel, Therapeut, Entertainer, Tröster, »Anstandsdame« – alles, was die beiden Einsamen brauchen, um im kalten Universum am Leben zu bleiben. Aber alle seine Funktionen basieren Letztendes auf der PROJEKTION des Paares, das einsam im Weltraum lebt. Und sich menschliche Anteilnahme nur selbst suggeriert.
Die Gefahr durch KI in der Jobwelt besteht nicht so sehr darin, dass KI menschliche Job ÜBERNIMMT. Sondern dass in den Schnittstellen zwischen Mensch und Maschinensystemen neue degradierte Billigjobs entstehen: Pizzakuriere am Rande des Nervenzusammenbruches, ausgebeutete Paketboten, UBER-Fahrer. Menschen mit großen Kühlboxen auf dem Rücken, die Sklaven der unerlösten Beziehungsgeschichte zwischen Menschen UND Maschinen sind.
Die vier Mutationen der Arbeit
Jobs, die Menschen können, aber Roboter in Zusammenarbeit mit Menschen BESSER.
Ein Autopilot kann ein Flugzeug zu 97 Prozent fliegen – nur in drei Prozent der Flugzeit müssen die Piloten das Steuer übernehmen. Ein autonomes Auto kann heute die Spur halten und die Geschwindigkeit regeln und (begrenzt) auch überholen. Beide Fähigkeiten sind, wie wir wissen, auch von Menschen bewältigbar. Aber was passiert, wenn man die Fähigkeiten von Menschen und Maschinen im Verkehr KOMBINIERT?
Menschliche Piloten wird es auf absehbare Zeit im Flugverkehr geben, weil Fliegen einen hohen psychologischen SCHWELLENFAKTOR aufweist. Ohne Pilot werden sich Passagiere auf absehbare Zeit weigern, ins Flugzeug einzusteigen, man braucht sie auch als symbolische Kommunikatoren. Lastwagen hingegen können demnächst womöglich vollautomatisch fahren. Aber fahren sie damit auch FAHRERLOS? Es wird eine Art von Monitoring geben, entweder IM Fahrzeug oder weit entfernt davon – was wiederum neue, qualifizierte Arbeit erfordert.
Jobs die Menschen nicht können, Roboter aber schon.
Menschen können keine Computerchips bauen. Selbst mit den besten Lupen oder feingliedrigsten Fingern wäre das ziemlich blödsinnig. Hier haben die Maschinen bereits einen ganzen Produktionszweig übernommen. Aber haben sie dabei Menschen arbeitslos gemacht? Nein, sondern eine riesige Kaskade NEUER Jobs erzeugt.
Menschen können die verstrahlte Atomkraft Zentrale in Fukushima nicht betreten – oder wenn, dann nur unter erheblichen Einschränkungen. Natürlich könnten Menschen das Web Zeile für Zeile nach Informationen absuchen – das würde gewaltig viele Arbeitsplätze bieten. Aber »Roboter« in Form von Suchmaschinen sind millionenfach besser. Menschliche »Suchmaschinen« gab es früher in Zeitschriftenredaktionen. Recherche-Redakteure arbeiteten mit Scheren und Klebstoff und markierten bestimmte Textstellen. Früher war Journalismus ganz wesentlich das »Präsentieren von Fakten«. Das schuf eine überschaubare Aufgabe. Heute ist der Journalismus in einer »Krise«, weil er seine innere Funktion neu definieren muss.
Textautomaten erzeugen eine Turbulenz im journalistischen Sektor und werden EINIGE Journalisten den Job kosten – und zwar derjenigen, deren Texte SOWIESO mit computererzeugten Texten verwechselbar sind. Das ist eine schmerzhafte Krise, in der Tat. Aber auf Dauer wird sie die Komplexität und Qualität dessen, was »Journalismus« ist, eher erhöhen. Die Abschreiber und Copy-Paster, die Schreiber von automatischen Kommentaren und immergleichen »Informationen«, dürfen sich eine sinnvollere Tätigkeit suchen.
Jobs, von denen wir nicht wussten, dass sie getan werden sollten oder könnten.
Eine nichtinvasive Operation durch den Nabel ist nur mit Hilfe von bildgebenden Computern möglich. Der selbstproduzierte Film einer Hochzeit braucht einen hohen Einsatz smarter Technik – bislang benötigte man dazu noch ein teures Filmteam. Aber die Hochzeit selbst wird niemals digitalisierbar sein. Mit Computern können wir einen Roboter-Rover auf dem Mars steuern, ein Bild drucken, dass uns ein Freund schickt – all das sind Tätigkeiten, auf die wir erst dadurch gekommen sind, dass sie plötzlich MÖGLICH wurden. Sie nehmen nichts weg, sondern fügen etwas hinzu.
Jobs, die durch die Gleichmachung und Beschleunigung von Produkten eine Renaissance erleben.
Menschen können mit der Hand Stoffe weben, aber seit Maschinen die hundert- oder tausendfache Web-Geschwindigkeit zur Verfügung stellen, ist Kleidungsstoff auf erstaunliche Weise verfügbar geworden. In westlichen – und demnächst auch östlichen – Haushalten werden heute jährlich so viele Kleider gekauft wir vor hundert Jahren in einem ganzen Leben. Das macht aber neue Probleme. Und schafft andere Dimensionen von Nachfrage.
Wenn Stoff nur noch mit Maschinen gewebt wird, werden Stoffe mit kleinen Fehlern, die auf menschliches Einwirken hinweisen, plötzlich begehrt. Wenn in allen Haushalten nur noch die gleichen Ikea-Möbel stehen, ist die Stunde des Schreiners geschlagen, der ein Unikat anfertigt, aus Holz, das mit den Händen gestreichelt wird. Je mehr wir auf Pixel starren, desto cooler wirkt Bütten-Papier. Füllfederhalter sind der Verkaufsrenner. Warum? Weil Unregelmäßigkeit SIGNIFIKANZ bedeutet. In einem handwerklichen Produkt scheint wieder jene Grundkonstante des Menschlichen auf, die wir in der digital-industriellen Welt schmerzlich vermissen: Einmaligkeit und persönliche Beziehung.
Persönliche Service-Dienstleistungen, die früher nur für die obersten Tausend möglich waren, werden plötzlich erschwinglich. Humane Agenten, die mit Hilfe der Digitalität ihre Kosten herunterskalieren können, erobern die Bühne: Man kann »demnächst«, oder auch heute schon, einen Reise-Agenten, einen Concierge, einen Gesundheitstrainer mieten, ohne sich zu ruinieren. Ein Grund, warum inmitten der Digitalität die humane Dienstleistung blüht, ist die Komplexität: Einen Flug im Internet kann man zwar selbst buchen, aber wer das tut, erlebt sich selbst in einer verwirrenden Klickhölle. Denn alle Plattformen kämpfen um den »Channel«. Die Tätigkeit der neuen Intermediäre ist vor allem das KURATIEREN, die Entwicklung von CONAISSEURSHIP – dazu braucht es Instinkte, Gefühle, Freiheitsgrade, ein Gefühl für das lebendige Sein – Natürliche Intelligenz eben. Der persönliche Butler ist gar nicht so weit entfernt, und er wird nicht aus Silikon und Stahl sein, sondern aus gutem altem Fleisch und Blut.
Unser Verhältnis mit den intelligenten Maschinen wird das werden, was Ken Goldberg, ein Roboterforscher an der Universität von Berkeley, MULTIPLIZITÄT nennt. Wir werden von Robotern und Expertensystemen umgeben sein, und in dieser Herausforderung wird sich unsere Zivilisation, aber auch unser Bewusstsein, WEITERentwickeln:
„Multiplicity is not science fiction. It’s something that’s happening right now, and it’s the idea of humans and machines working together. So welcome to the future, where robots do things like gently hand us screwdrivers instead of stabbing us with them.
We want to enhance people, and we want them to be able to focus on the more subtle, rewarding, and human aspects of their Life . Robots are great at brute strength, precision, and speed. Humans have better brains and marvelous hands with which to grip an array of objects. And these contrasts are going to stay contrasts for a long while to come.”
Im Grunde genommen ist es ganz einfach: Die Künstliche Intelligenz treibt uns die Treppe des Menschlichen hinauf. Sie nimmt uns beim Wort unserer genuin menschlichen Fähigkeiten, indem sie uns neben den mechanischen nun auch Teile der analytischen Routinen abnimmt. Aber sie nimmt uns nicht das KOGNITIVE ab. Im Gegenteil. Sie fordert das Kognitive zu einem Sprung auf die nächste Stufe heraus.
So helfen uns die Künstlichen Intelligenzen beim evolutionären Sprung in eine nächste Stufe der NI, der Natürlichen Intelligenz. Sie zwingen uns, unsere emotionalen, kognitiven und sensuellen Fähigkeiten auf einer neuen Ebene zu INTEGRIEREN. Wie sagte Jack Ma so schön, der Gründer der größten Internetfirma der Welt ALIBABA:
„Lehre und lerne, was die Maschinen niemals können. Lerne Werte, unabhängiges Denken, Kunst, Einzigartigkeit, Glauben, Teamwork, und die Zuneigung zu Anderen.“
„Teach and learn what the machines cannot do. Learn values, independent thinking, arts, uniqueness, believing, teamwork, care for others.“
Die Natürliche Intelligenz feiern
Lauschen Sie in sich hinein. Wer sind Sie? Wie sind Sie? Gar nicht so einfach zu sagen. Wahrscheinlich fallen ihnen erstmal kleine körperliche Unpässlichkeiten auf. Pochen im Zahnfleisch, das Rumpeln der Gedärme, oder Druck im Sitzfleisch. Feine Naturen können das Blut in den Adern spüren oder das Schlagen des Herzes.
Wir sind ORGANISCH. Vor allem aber sind wir Vieles gleichzeitig. Gedanken, die immer in Worten kommen. Bildgewirbel. Und im Sekundentakt wechselnde Gefühle, die ein riesiges Resonanzsystem bilden, Wohl und Unwohl, Hunger und Angst, Lust und Langeweile wechseln sich ab, manchmal minütlich.
Die viel gepriesene Künstliche Intelligenz hat all das nicht. Jedenfalls so lange nicht, wie wir sie nicht mit Schmerz und Fleisch und Blut und dem inneren Erleben von Sterblichkeit ausstatten. Erst dann würde sie INTENTIONEN entwickeln, etwa die Weltherrschaft an sich zu reißen oder grausame evolutionäre Experimente mit Menschenfleisch zu veranstalten. Dann wäre sie aber nicht mehr digital, sondern analog, organisch, fleischlich. Wie wir.
Unsere Natürliche Intelligenz ist ungeheuer leistungsfähig, auch wenn wir das nicht so empfinden. Sie hat uns durch Millionen Jahre von evolutionären Bedrängungen geführt, uns vor dem Schicksal praktisch aller anderen Arten bewahrt – dem Aussterben, Eben weil sie auf vielen Ebenen »funktioniert«, weil sie mehrschichtig, bisweilen paradox, zwischen Sinnen, Prozessen und Interaktionen verläuft und all dies SINNLICH in uns abbildet, ist sie in enormer Weise adaptiv. Klar, wir können nicht so schnell rechnen wie das Silizium. Aber wir können Dinge empfinden, Situationen »wittern«, Zukunft imaginieren.
Und wir können IRREN.
Hinter der Formel „Die Zukunft braucht den Menschen nicht”, wie wir ausgesprochen oder implizit unentwegt von den Kanzeln der Digitalen Revolution hören, stehen schwere Selbstwertprobleme,
Selbstauflösungs-Wünsche die wir besser mit unserem Therapeuten besprechen sollten, der mit Sicherheit kein Automat sein wird. Es wird Zeit für eine digitale Emanzipation, in der wir uns vom digitalen Kinderglauben UND vom humanen Minderwertigkeitskomplex befreien. Geben wir dem Digitalen, was des Digitalen ist, und dem Menschen, was das wunderbare Analoge ist. Alles andere führt nicht in die Zukunft, sondern nur in eine Art Hufestampfen mit innerer Verblödung.
Sie können das Buch »15½ Regeln für die Zukunft: Anleitung zum visionären Leben« bei Amazon bestellen: [amazon_link asins=’3430210135′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’926815c2-3c97-454a-949e-cf273bf8492e‘] oder auch signierte Exemplare unter der Mail michaela.nemeth@horx.com ordern.
Am 30. August 2019 erschien im ECON-Verlag mein neues Buch. Zwei Jahre habe ich daran gearbeitet. Es handelt von den wichtigsten ZUKUNFTS-REGELN. Das klingt ein bisschen geheimnisvoll. Es geht um die Ängste, die wir mit der Zukunft verbinden. Um die kognitiven Muster, in denen wird Zukunft gesellschaftlich und individuell „codieren”. Um Bewältigungs-Strategien und ein neues Verständnis von Wandel. Um Visionen und ihre Funktion. Um die Art und Weise, wie Zukunft in unserem Kopf entsteht – und sich dies in der Realität selbst manifestiert. Das Buch ist in gewisser Weise die Fortsetzung von „Anleitung zum Zukunfts-Optimismus” aus dem Jahr 2010, aber ohne die vielen Daten, Zahlen und Fakten. Es geht um unser Zukunfts-Bewusstsein – und was es bewirken kann.
Lesen Sie hier das Inhaltsverzeichnis und die Einleitung.
Inhaltsverzeichnis
Die 15 ½ Zukunfts-Regeln:
1. Vermeide Future Bullshit!
2. Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend.
3. Das Alte kommt immer wieder – und erneuert sich dabei selbst.
4. Vertraue auf natürliche Intelligenz, anstatt Dich vor künstlicher Dummheit zu fürchten.
5. Verstehe die Co-Evolution zwischen Technik und Mensch.
6. Erkenne die Akzeptiere, dass die Welt UNGERECHT ist – aber nicht unbedingt „unfair“.
7. Verwechsele Dich nicht mit Deiner Angst.
8. Versöhne Dich mit der Ungleich(zeitigkeit) der Welt.
9. Denke von der Zukunft her, statt Probleme lösen zu wollen.
10. Genieße die besseren Fragen!
11. Befreie Dich von Zukunfts-Schuld.
12. Entspanne Dich in der neuen Welt-Ordnung.
13. Ertrage, dass die Welt besser wird – und trotzdem nicht besser werden KANN.
14. Vergiss Pessimismus UND Optimismus. Werde POSSIBILIST.
15. Zukunft entsteht durch gelungene Beziehungen!
15 ½. Zukunft ist eine Entscheidung.
Einleitung: Die Zukunft in uns
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert beschäftige ich mich nun mit der Zukunft. Es wird Zeit für eine Zwischenbilanz: Was habe ich in den langen Jahren prognostischer Arbeit gelernt? Wo lagen die Irrtümer? Und was, zum Teufel, IST eigentlich ein „Zukunftsforscher“?
Ein Prophet, der die Richtung vorgibt, im Sinne von „Folgt mir nach – ich kenne den Weg!“?
Ein kühler Analytiker, der ausschließlich in Wahrscheinlichkeiten rechnet und verschiedene Szenarien durchspielt?/
Ein Motivationstrainer, der wie ein Schlangendompteur „Visionen“ beschwört und die Leute zum „immer schnelleren Wandel“ anpeitscht?
Ein Geschichtenerzähler, der möglichst spektakuläre Storys zum Besten gibt?
Oder ein diskreter Berater, der große Firmen bei der Beantwortung der Frage „Wie erzielt man in den Märkten der Zukunft höhere Profite“ unterstützt?
Alle diese Rollen habe ich im Laufe der Jahre in der einen oder anderen Weise besetzt. Ich habe sie alle wieder verlassen, weil etwas nicht stimmte. Eine innere Not entstand, eine Unzufriedenheit. Mit Zukunftsbildern kann man unglaublich leicht manipulieren; nicht nur die anderen, sondern vor allem sich selbst.
Es ist jetzt rund 25 Jahre her, dass im Econ Verlag zwei meiner Bücher erschienen, die erheblichen Wirbel verursachten: Trendbuch 1 und Trendbuch 2. Sie kamen 1993 und 1996 in den Buchhandel, wurden Bestseller und markierten den Startschuss für eine damals noch junge und skandalumwitterte Disziplin: die Trendforschung.
Es ist lustig, heute durch diese Fibeln der frühen Trendanalyse zu blättern, aber auch ein wenig schockierend. In Trendbuch 1+2 ging es um den Aufstand der Alten. Um die Neue Netzwerk-Kultur. Ein Kapitel lautete „Postemanzipation“ und vertrat die These, dass der Feminismus seine Blütezeit schon hinter sich habe und eine Renaissance der Familie bevorstehe. „Ökolozismus“ antizipierte eine eher frömmelnde Ökologiebewegung, die von Schuldritualen und Ablasshandlungen lebte. Ein Kapitel hieß „Die Rückkehr der Spießer“. Und in „Das Große Heimweh“ beschrieb ich die Sehnsucht nach dem unverdorbenen Gestern, den Trend zur Nostalgie.
Kommt einem das nicht furchtbar bekannt vor? Alles war schon mal da. Alles kommt offenbar immer wieder. Dreht sich also alles nur im Kreis?
Erst viel später erkannten wir (damit meine ich das Zukunftsinstitut, den von mir 2000 gegründeten Thinktank), dass unsere Zukunftsannahmen an Linearität litten – an einem verengten Denken, das die wahrgenommenen Trends einfach starr in die Zukunft projizierte. In Wirklichkeit erzeugt jeder Trend einen Gegentrend, jede Veränderung einen Widerstand. Daraus entsteht eine Turbulenz, der die eigentliche Zukunft entspringt. Von nun an beschäftigten wir uns mit Komplexitätsforschung, Systemtheorie, Spieltheorie und Formtheorie. Wir lernten, zwischen Voraussagbarem und Nicht-Voraussagbarem zu unterscheiden, Modell und Wirklichkeit, Trends und Gegentrends in Beziehung zu setzen. Daraus entstanden komplexere Modelle. Aber auch das brachte uns hinsichtlich der Frage, welchen tieferen Sinn Prognosen eigentlich haben, nicht wirklich weiter.
Wenn wir eines Tages in der Lage wären, die Zukunft exakt zu prognostizieren – Molekül für Molekül sozusagen –, würden wir dann nicht in einem kalten, toten, mechanischen Universum aufwachen? Ist das nicht eigentlich das, was künstliche Intelligenz beabsichtigt? Ein deterministisches Universum zu schaffen, in dem alles voraussagbar ist?
Wir erkannten, dass etwas Fundamentales fehlte. Der Mensch.
Menschen sind Zukunftswesen. Wir können gar nicht anders, als uns unentwegt das Kommende vorzustellen. Mit unserem übergroßen Hirn sind wir homo prospectus, der vorausschauende Mensch. Wir sind auch der schöpferische Mensch, weil aus Bildern und Imaginationen unentwegt Wandel und Veränderung entsteht. Durch das Imaginieren der Zukunft stellen wir sie sozusagen selbst her – in einer endlosen Rückkoppelungsschleife.
In den meisten der herkömmlichen Zukunftsvisionen kommt der Mensch aber nur am Rande vor. Als kleine Silhouette in mächtigen Städten, in denen die Autos alle fliegen. Ökonomie und Technologie sind die Leitplanken, an denen entlang der Zukunftszug dahinrast. In dieser kalten Zukunft sind wir allenfalls Konsumenten immer raffinierterer Produkte. Bewohner hypersmarter Umwelten, in denen auf Knopfdruck alles zu haben ist. Endloser Komfort – wollen wir wirklich dorthin?
Um die Zukunft zu begreifen, müssen wir verstehen, wie wir als Zukunftswesen ticken. Die Zukunft findet nicht getrennt von uns statt. Sie kommt nicht „über uns“ wie eine Lokomotive, die aus dem Tunnel rast. Sie ist kein unveränderlicher Zustand, sondern ein Prozess. Work in Progress. Sie entsteht in unserem Wirken. In unserem Werden. In unserem „Mind“. Nicht morgen, sondern jetzt.
Das Fünfte Element
Kennen Sie den verrückten Science-Fiction-Kultfilm Das Fünfte Element von Luc Besson aus dem Jahr 1998, mit Bruce Willis und der wunderbaren Milla Jovovich in den Hauptrollen? In diesem irren Streifen geht es darum, den Triumph des endgültig Bösen zu verhindern (was auch sonst?). Wenn man die vier Elemente Wasser, Feuer, Erde und Licht zusammenfügt, kann man die Welt vor der finalen Finsternis retten, die als der böse Zorg daherkommt. Nun ja, ganz so ernst ist der Plot nicht zu nehmen. Es wimmelt von schrägen Gestalten aus allen Ecken der Galaxis. Bruce Willis spielt einen abgehalfterten Taxifahrer (Flugtaxis, na klar). Ganze Raumschiffe werden mit durchgeknallten Alien-Transvestiten gefüllt. Man fragt sich unwillkürlich, was Besson wohl geraucht hat, es muss speziell gewesen sein.
Doch um die Welt zu retten, braucht es das Fünfte Element. Das Element, dass alle anderen Elemente integriert. In Bessons Film wird dieses Element durch Leeloo repräsentiert, eine zähe und gleichzeitig engelsgleiche Frau, die die Welt retten kann, wenn sie zu ihrer eigenen inneren Stärke findet. Um dieses geheimnisvolle Phänomen geht es in diesem Buch.
In den folgenden fünfzehneinhalb Regeln finden Sie alles, was ich über die seltsame Schleife, die unsere innere und die äußere Zukunft verbindet, gelernt habe – über die Potentialität des Zukünftigen, das in uns allen ist. Zukunft ist in Wahrheit Selbst-Verwandlung. Der Psychologe Stephen Grosz bringt diesen Gedanken auf den Punkt:
Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir gehen,
sondern eine Idee in unserem heutigen Bewusstsein.
Etwas, das wir erschaffen
und das uns dabei verwandelt.
Hat ein Zukunftsforscher eigentlich Kollegen, Freunde in der eigenen Profession? Andere Futuristen, mit denen ihn etwas verbindet – geistige Nähe, ähnliche Gedanken, gleiche Theorien? Nun gibt es ja nicht allzu viele Menschen, die sich selbst als Zukunftsforscher (oder »Futuristen«) bezeichnen. Deshalb gibt es auch keinen Zukunftsforscher-Club, oder gar eine Organisation (übrigens kann man Zukunftsforschung, »future studies«, an einigen Universitäten studieren, zum Beispiel in Kapstadt und Honolulu, auch an der Humboldt-Universität zu Berlin gibt es einen Kurs).
Aber habe in meinem Leben schon einige Kollegen aus dem Prognose Business getroffen, mit denen mich eine Geistesverwandtschaft verbindet. John Naisbitt, der »Erfinder« der Megatrends gehört dazu, ein Amerikaner mit europäischen Wurzeln, mit seiner Analyse der großen Strömungen, der Megatrends, eine wichtige UNTERSCHEIDUNG in die Prognostik einführte. Die Unterscheidung von zufälligen, marginalen Phänomenen (»Trendtrends«) und wahrhaftigen Tiefenströmungen. John hatte den Mut, noch im Alter von über 70 nach China auszuwandern und seine Megatrends auf das Reich der Mitte zu beziehen.
Auch die ziemlich schräge New Yorker Trendforscherin Faith Popcorn, die in den Neunzigern einen weltweiten Ruhm durch ihre »namings« von Sozio-Phänomenen wie »Cocooning« oder »Clanning« erlangte, hat mich schwer beeindruckt. Ganz gut finde ich Kevin Kelly, einen unermüdlichen Hippie im Futur, der die Zukunft irgendwie so behandelt wie eine psychedelische Droge, an der man sich berauschen kann. Großartig auch der immer sehr amerikanisch aufgeregte Jeremy Rifkin, der mit seinen humanistischen Thesen und Weltmodellen immer ein bisschen idealistisch danebenliegt. Aber uns gerade deshalb unseren FUTURE MIND herauskitzelt.
Mein Lieblings-Futurist ist Stewart Brand. Obwohl ich ihn nie persönlich getroffen habe, erscheint er mir sehr vertraut. Stewart ist kein Zukunftsforscher, sondern ein Zukunftsmacher. Ein Bewusstseinsarbeiter. Er unterscheidet sich von anderen Vertretern unseres seltenen Gewerbes durch eine bestimmte Art der Leichtfüßigkeit und Ironie. Auch in Bezug auf sich selbst. Das vermeidet die größte Gefahr: den futuristischen Fanatismus.
Stewart startete, wie ich, als politischer Aktivist in der Hippie-Zeit. Mit dem Blick nach oben, ins unermesslich Weite. Seine erste öffentliche Kampagne galt 1970 einem Bild, dem »Earthrise«-Foto der NASA, dem ersten vom Mond aus geschossenen Bild der GANZEN Erde. Stewart Brand wusste um die bewusstseinsveränderte Bedeutung dieses Fotos und zettelte eine Kampagne gegen die NASA zur Freigabe des Copyrights an. Auf der ersten Ausgabe des »Whole Earth« Kataloges, des Versandhandel-Kataloges der Hippie-Kultur (ein Vorläufer von Google), prangte dieses Bild. Ein wunderbares Spiel mit Symbolen, die Wirklichkeiten schaffen.
Später gründete Stewart die Zeitschrift CO-EVOLUTION und dann die erste Online-Community, THE WELL, verließ das Netz aber wieder als es sich zu sehr kommerzialisierte. Um die Jahrtausendwende startete er ein neues magisches Projekt: The Clock of the Long Now. Es ging um den Bau einer hochkomplexen mechanischen Uhr, die zehntausend Jahre lang die Zeit ansagen, beziehungsweise mit einem wandelnden Ton »ansingen« soll. Ein analoges Statement gegen die Idee, dass alles unbedingt immer schneller und digitaler werden muss. Die Uhr existiert inzwischen in mehreren Prototypen, sie TICKT einmal im Jahr.
Wir sind als Menschheit SO weit gekommen, allen Widrigkeiten zum Trotz. Das ist ein ziemlich gutes Zeichen, dass wir auch weiterhin weiterkommen können. Stay hungry, stay foolish.
Stewart Brand
Stewart Brand war immer ein bisschen ein Ketzer im eigenen Lager. Wie ich ist er ein Vertreter von Gegentrends, ein Bewunderer von Komplexität, Evolutionstheorie und Systemdenken. Er ist humanistischer Futurist. In einem zeitlosen Alter um die 80 lebt er heute auf einem Boot. In den letzten Jahren hat er ein bisschen provoziert, indem er für neue Formen der Atomkraft und der Gentechnik plädierte. Nun gut, da kann man verschiedener Meinung sein. Aber genau darum geht es ja: Dass man sich nicht mit sich selbst verwechselt. Oder mit dem, was man irgendwann mal zu glauben glaubte.
Einer seiner bekanntesten Slogans: „We are as gods and might as well get good at it.“
Das klingt ein bisschen großspurig, ist aber ganz bescheiden gemeint. Stewart ist Meister einer ganz zarten, fast zen-artigen »Zukunfts-Poesie«.
Hier zwei Beispiele.:
In einem System Kleinigkeiten zu ändern
Ist nicht nur die effizienteste Art
Es in eine interessante Richtung zu bewegen
Sondern auch die sicherste
Denn wenn du versuchst
Es komplett zu drehen
Dreht es gerne mal durch
Aber wenn du nur
Eine kleine Schraube bewegst
Wird es sich verwandeln.
oder:
Es ist sinnvoll und realistisch
sich eine Zivilisation als etwas vorzustellen
das gleichzeitig in verschiedenen
Geschwindigkeiten funktioniert.
Mode und Handel verändern sich schnell
Wie es sein soll.
Natur und Kultur ändern sich langsam.
Wie es sein soll.
Infrastruktur und Politik begleiten beides
in einem mittleren Tempo.
Aber weil wir uns vor allem auf die
sich schnell verändernden
Elemente konzentrieren
vergessen wir die wahre Kraft
in den Sphären der langsamen, tiefen
Veränderung.
Und dann ist da noch Evgeny Morozov. Er ist kein Futurist im eigentlichen Sinne, eher ein Zukunfts-Kritiker. Aber er hat mit uns TRENDforschern (der Nebenberuf des Zukunftsforschers) gemein, dass er BEGRIFFE erfinden kann, die in die Zukunft weisen.
Einer seiner »Wordings« ist das schöne SOLUTIONISMUS.
Das steht für den Wahn, ständig neue Lösungen für eigentlich nicht existente Probleme zu erfinden. Morozov beschreibt damit zum Beispiel eine wildgewordene digitale Technologie, die alles unentwegt digitalisieren und »verappen« muss, obwohl der reale menschliche Bedarf für manche dieser »Problemlösungen« eher gering ist.
Das zweite schöne Trendwort, dass er erfunden hat, ist TECHNO-POPULISMUS.
Hier einige Zeilen aus seinem Text dazu:
Von sämtlichen Ideologien, die das Silicon Valley hervorgebracht hat, ist der Technopopulismus die absonderlichste. Es sind leere Versprechungen, die auf digitaler Disruption seismischen Ausmaßes beruhen und es schaffen, dass sich politische Kräfte davon angesprochen fühlen, die ansonsten kaum einen gemeinsamen Nenner finden. Globalisten und Anti-Globalisten etwa, Nationalisten und Progressive. Mit dem Versprechen einer Welt der unmittelbaren und schmerzfreien persönlichen Selbstermächtigung ist der Begriff schwammig genug, um große Technologieunternehmen, Start-ups, Kryptowährungs-Aficionados und selbst die eine oder andere politische Partei zu vereinigen.
Das genaue Datum, an dem der Techno-Populismus Mainstream wurde, geht zurück in das Jahr 2006, als das Time Magazine »You« zur »Person des Jahres« kürte, also all jene Millionen, die hinter dem nutzergenerierten Web der Nullerjahre standen. Damit wurden techno-populistische Themen tief in unser kollektives Unbewusstsein eingemeißelt.
Heute – im Jahr 2018 – ist der omnipotente, kreative User von 2006 zu einem zombieähnlichen Content-Junkie verkommen, süchtig danach, ständig und überall zu scrollen und zu liken, für immer und ewig gefangen in den unsichtbaren Käfigen der Datenbroker. Der ehrenwerte Versuch, jeden von uns zu einem Ehrenmitglied des innersten Zirkels der kulturellen Elite zu machen, hat uns stattdessen alle in die unauslöschlichen Listen der Cambridge Analytica verdammt…
Das ist natürlich reine Polemik. Aber trotzdem gut. Lassen wir uns ruhig provozieren, um den richtigen Weg in die Zukunft zu finden. Evgeny Morozov spricht auf dem diesjährigen FUTURE DAY am 25. Juni in Frankfurt/Main. Es geht dieses Jahr um den futuristischen REALITY CHECK:
Was haben wir als Prognostiker kommen sehen, wo lagen wir daneben?
Welche Modelle und Denkweisen sind nützlich, um die Zukunft REALISTISCH zu sehen?
Was haben Evolution und Technik miteinander zu tun? Eine ganze Menge. Mit Hilfe der Evolutionsgesetze lassen sich die tieferen Gesetze der Innovation verstehen. Und zwar ziemlich verlässlich. Ein neues, humanzentriertes Prognosemodell für die Zukunft der Technik wird möglich.
Schließen Sie die Augen. Denken Sie an die Zukunft. Was sehen sie vor Ihren inneren Augen?
Ein großer Teil, überwiegend Männer, sieht vor allem zwei »Signaturen« der Zukunft. Hochhäuser und Flugobjekte. Das reicht von silbernen, hoch aufragenden »Wolkenkratzern« bis zu Flugautos und Raketen, die in der Atmosphäre fliegen.
Viele Frauen hingegen sehen hingegen schöne Landschaften. Oder gemeinschaftliche Situationen, die nicht unbedingt in der ferneren Zukunft spielen müssten. Und dann gibt es einen nicht unerheblichen Anteil von Männern und Frauen, die VERWÜSTUNGEN sehen: Zerstörte Städte, marodierenden Banden, Zombies und kaputte Natur. Angst plus Netflix macht Apokalypse.
Unsere Vorstellungen der Zukunft haben eine interessante Doppeldeutigkeit. Sie sagen einerseits etwas aus über das NARRATIV – über gesellschaftliche Mythen, die den Zukunftsbegriff konstruieren. Und sie sagen etwas aus über UNS SELBST – und über unsere Ängste.
Am weitesten verbreitet, sozusagen das Zukunfts-STANDARDMODELL, ist die Vorstellung der Zukunft als Ergebnis radikaler technischen Substitution. Innovationen, Durchbruchtechnologien ersetzen bedingungslos und vollständig das Alte. In dieser Matrix kommt die Technik »über uns«, sie ist die maximale Logik. »Demnächst« wird uns demnächst Künstliche Intelligenz unser Frühstück servieren, wir fahren und leben automatisch-sprachgesteuert, wir werden unser Bewusstsein durch DNA-upgrades »enhancen« und früher oder später Sex mit Robotern haben. Der Publizist Holm Friebe nennt diese Sichtweise das »Kindchenschema der Zukunft«. Vertreten und propagiert wird es vor allem von Männern.
Wenn es um Technologie geht, tendieren wir allerdings alle, ob Mann oder Frau, alt oder jung, zum linearen und einseitig technik-deterministischem Denken. Wir konstruieren das Morgen von der technologischen Machbarkeit her. Aber gerade die Geschichte der Technik ist eine Geschichte der Fehlprognosen: Weder leben wir heute in Raumstationen noch schlucken wir ausschließlich Ernährungspillen oder bewegen uns in fliegenden Autos durch die Stadt. All das waren »ganz sichere« Technikprognosen vor einem halben Jahrhundert.
Im futuristischen Kindchenschema sehen wir Zukunft nur als Gadgets,
die uns höchste Komfortabilität versprechen.
Aber wie entwickelt sich Technik wirklich? Bei Licht betrachtet sind wir umgeben von technischen Hybriden. Viele aktuelle Technologien setzen sich aus bewährten alten zusammen, sie sind REKOMBINATIONEN. Manche Artefakte haben sich seit Jahrtausenden nur graduell verändert. Ein Hammer ist ein Hammer, ein Messer ein Messer auch heute noch, und auch, wenn es Messer aus Kohlenstoff gibt. Fahrräder sind zwar bisweilen HighTech, funktionieren aber nur graduell anders. Schuhe werden nicht viel anders hergestellt als vor dreihundert oder tausend Jahren, und Türklinken quietschen auch heute noch. Schiffe sehen meistens immer noch so aus wie Schiffe, auch wenn sie inzwischen viele Formen annehmen. Darin zeigt sich das Phänomen der EVOLUTIONÄREN ROBUSTHEIT – bewährte Formen setzen sich auch in der Evolution langfristig und robust fort. Aber auch die RADIKALITÄT der Evolution – das Streuen von immer mehr Unterarten in immer mehr Umwelt-Nischen – lässt sich im Technischen abbilden. Von vielen Artefakten lassen sich enorm differenzierte Stammbäume zeichnen, wie etwa von Zahnbürsten, Rasierapparaten oder Blasinstrumenten (siehe dazu mein Buch TECHNOLUTION.). Die Regel dahinter: Technologie hat eine Tendenz zur AUFSPALTUNG in immer mehr Unterarten, wie die evolutionären Baumstrukturen in einem vielfältigen Dschungel.
Die drei wichtigsten Wirkweisen der Evolution sind Mutation, Selektion und Adaption. Alle drei Phänomene können wir sowohl im »Technium«, also der Entwicklung der Technik, als auch in der biologischen Entwicklung beobachten. Ebenso ähnlich verlaufen die Wechsel von Stasis zu schneller Mutation: In der Natur verändert sich manchmal über Millionen Jahre nichts, und dann »explodiert« die Artenvielfalt. Man denke an den langsamen Fortschritt des Mittelalters, wo sich außer in der Militärtechnik nur wenig veränderte, und dann die große Mechanisierungs-Revolution vor 200 Jahren (oder die heutige Digitalisierung, in der ganze Schwärme von neuen »Tech-Spezies« entstehen).
Wenn ähnliche Muster Technik wie biologische Evolution vorantreiben, müsste es auch ein Aussterben von Technologie geben, analog zu Dinosauriern oder Dodos. In der Tat geraten immer wieder vielversprechende Technologien in die Sackgasse, wie die Zeppelin-Technologie oder die Drucklufttechnik, die man vor 100 Jahren ernsthaft als Treiber für U-Bahnen auf langen Strecken einsetzen wollte (nicht zu verwechseln mit Elon Musks heutigen Plänen von Vakuumzügen). Technologien scheitern, wenn sie nicht dem Nutzen und Zweck, den sie erfüllen sollen ANGEPASST sind, und dies nicht durch Variablen überwinden können (Adaptionsschwäche). Etwa dann, wenn sie allzu große Risiken und Folgeschäden erzeugt. An den Schnittstellen zwischen Menschen und Technik »funktioniert« etwas nicht richtig. Technologien können auch leicht verschwinden, wenn ihre Funktionen durch andere, elegantere Techniken ersetzt oder »inkorporiert« werden, wie der MP3-Player oder das Fax-Gerät. Dies ähnelt der Co-Evolution von Mitochondrien in menschlichen Zellkörpern.
Hier einige Beispiele für „prekäre“ oder gescheiterte Technologien bzw. Techniken. Was könnten die Gründe dafür sein?
Google Glass
Die Augmented-Reality-Brille von Google wurde noch vor Markterscheinen zurückgezogen, weil sich eine regelrechte Hass-Welle gegen das Gerät entwickelt hatte. Die Brille verhieß ihren Trägern Informationen exklusive über ihre Umwelt, die zu einer starken Hierarchisierung des Erlebens führen mussten. Nicht-Träger fühlten sich den Trägern gegenüber hilflos und unterlegen. Das Gerät scheiterte an einer psychologischen Barriere, die man »elitaristische Differenzierung« nennen könnte (in anderen Kontexten, etwa in der Medizin, bei Lagerhaltungen oder bei Piloten werden sich AI-BRILLEN durchaus durchsetzen).
3D-Technologie
Vor zehn Jahren waren dreidimensionale Filme der große Hype, 3D Fernseher sollten bald alle Haushalte überschwemmen. Heute spricht niemand mehr davon. 3D Fernsehen macht eher Kopfweh, und 3D Filme führen zu einer Reduktion dramaturgischer Komplexität. Szenen und Handlungen werden nur entlang von Kampf- und Zerstörungsmustern gedreht – das ist auf Dauer langweilig. Unser Hirn kann zweidimensionale Filme sehr gut auf 3D »umrechnen«. Ein typischer Fall von »technologischer Anmaßung«: Eine Technologie behauptet, etwas zu können, was wir ganz gut als Menschen SELBST können.
Segway
Die angebliche Transportrevolution zu Beginn des neuen Jahrtausends wurde keine. Der Segway, nach wie vor ein brillantes gyroskopisches Gerät, blieb in Nischen stecken, auf Flughäfen oder im Tourismus-Einsatz. Er fiel evolutionär »durch den Rost«, weil er weder ein solides Transportgerät noch ein leichter, eleganter »People Mover« ist. Leichtere und schmalere elektrische Roller übernehmen heute das Versprechen des eleganten »Stadtflitzens«. Der Segway ist ein Beispiel für evolutionäre Indifferenz.
Virtuelle Realität
Virtuelle Anwendungen faszinieren viele Menschen, besonders Jugendliche und männliche Menschen. Sie verheißen Kontrolle von Welten, aber gleichzeitig erzeugen sie einen Effekt von radikalem Kontrollverlust. Der Markt für ernsthafte VR bleibt klein, er findet eher in Nischen wie Porno oder Technik-Design statt, wo es auf eine vollständige »Immersion« ankommt. Hier spielt ein hoher Schwellenwert-Faktor eine Rolle: VR-Technik ist bedrohlich, weil sie unser Bedürfnis nach einer »realen Realität« unterläuft. Sie verunsichert unser bewährtes menschliches Wahrnehmungssystem.
Flugautos
Derzeit existieren mehrere Unternehmen, die uns versprechen, »demnächst« ein flugfähiges Gefährt für den privaten Verkehr auf den Markt zu bringen. Das mag sein, aber es wird kein Massenmarkt sein. Sein KÖNNEN: Einen Gegenstand in die Luft zu heben, kostet rund 100 mal mehr Energie, als ihn rollen zu lassen. Ein Tesla mit 450 Kilometer Reichweite könnte mit der Energie seiner Batterie genau 2,5 Minuten schweben. Private Flugautos scheitern an SKALIERUNGS-Schwellen (für ihre Massen-Durchsetzung bräuchten wir eine leichte Hochenergiequelle ohne Radioaktivität).
Man kann diese Beispiele natürlich immer auf ein »Noch nicht – aber…« zurückführen: »Demnächst« wird sich das aber alles durchsetzen, es braucht nur noch ein bisschen Verfeinerung…
Doch dahinter steckt ein Denkfehler. Wie in der Evolution verläuft auch die technische Entwicklung oft pfadabhängig: Was sich in einem bestimmten Umfeld nicht durchsetzt, ist erstmal aus dem Spiel. Und kann in Vergessenheit geraten, weil sie Infrastrukturen (Umwelten) einer bestimmten Technologie dauerhaft verlorengehen.
In der historischen Realität ist die technologische Machbarkeit nur einer von mehreren Faktoren, der entscheidet, ob eine Technologie sich in breiteren oder schmäleren Märkten oder gar als Massenprodukt durchsetzt. Denn Technologien sind immer verknüpft mit KONTEXTEN: sozialen, gesellschaftlichen, psychologischen, ökonomischen. Technik ist auch verbunden mit Kulturtechniken, mit gesellschaftlichen Werten und weiteren Treibern und Widerständen, die wir VERSTEHEN müssen, um eine solide Technik-Prognose zu machen.
Technologie kann aussterben wie Säbelzahntiger, Trottellummen und trottelige Dinosaurier.
Das Technolution-Modell (von Technik plus Evolution) versucht, die Entwicklung von Technologie im Sinne evolutionärer Systeme und unter der Perspektive ganzheitlicher Systemdynamik darzustellen. In diesem ganzheitlichen Prognose-Modell stellt die menschliche Kultur stellt sozusagen die Umwelt der technologischen Evolution dar – und auf diese Weise lassen sich kommende »Passungen« von Technik und Kultur antizipieren.
Das Technolution-Modell lässt uns unaufgeregt und ganzheitlich auf technologische Entwicklungen blicken. Techniken sind letzten Endes »Umweltbewältigungsstrategien«, in denen menschliche Motive zum Vorschein kommen und realisieren. Techniken lösen ein Problem, aber sie tun das selten ohne Bedingungen und Folgewirkungen. Viele Technologien bringen DEMÜTIGUNGEN mit sich – sie enteignen uns unserer menschlichen Fähigkeiten. Bleiben diese Folgewirkungen deutlich ÜBER dem Nutzen, entsteht eine evolutionäre Diskrepanz – die Technik scheitert im Markt.
Das Prognose-Modell beruht auf einer Abschätzung der Treiber einer Technologie mit den Widerständen in Kultur, Gesellschaft, Individuen und existierenden Systemen. Damit lässt sich recht verlässlich voraussagen, wie groß die evolutionären Chancen einer bestimmten Technik oder Anwendung sind.
1. Treiber der Technologie
Jede Technologie wird von fünf menschlichen Grundbedürfnissen bzw. Motiven angetrieben:
Mobilität:
Alles, was uns mobiler macht, bietet unmittelbar komparative Vorteile – ein Auto, ein Flugzeug, aber auch Laptops, WLAN-Netze oder Smartphones.
Macht:
Es ist kein Zufall, dass viele der dominanten Technologien aus der Militärwelt stammen – die ersten mechanischen »Großanwendungen« in der Antike waren komplexe Schleudern und Wurfmechanismen.
Effektivität:
Viele technische Entwicklungen haben ihren treibenden Faktor im Rationalisierungsbedürfnis der Wirtschaft.
Kontrolle:
Die Kräfte der Natur, die Umwelt zu kontrollieren und für die eigenen Zwecke nützlich zu machen, ist ein weiteres elementares Motiv der Technik-Evolution.
Status:
Viele Techniken oder Artefakte weisen einen nicht zu unterschätzenden Statusfaktor auf, der wiederum in seine eigenen Funktions-, Design- und Symbol-Aspekte zu zerlegen ist.
2. Widerstände gegen Technologie
Macht der Gewohnheit:
Menschen sind Gewohnheitstiere. Wir haben bestimmte Handgriffe eingelernt, wie das Drücken einer Tür oder das Zählen von Münzen. Wir drucken E-Mails aus, weil wir nicht ernst nehmen, was nicht einen haptischen Aspekt beinhaltet. Diese Gewohnheiten sind zäher als man denkt, weil sie evolutionäre Konstanten abbilden.
Systembeharrung:
Bislang wurden gewaltige Summen in technische Infrastrukturen investiert, die sich erst amortisieren müssen, bevor neue Infrastrukturen aufgebaut werden können. Magnetschwebebahnen setzen sich kaum gegen Hochgeschwindigkeitszüge durch, weil die Infrastruktur extrem teurer wäre, und der Geschwindigkeitsvorteil von Magnet-Systemen heute kaum noch ins Gewicht fällt. Schienen Systeme können heute wie in China Geschwindigkeiten bis 400 km/h bewältigen. Magnetschwebesystem vielleicht 100 km/h mehr.
Kontrollverlust und Überkomplexität:
Oft übersteigt der technologische Nutzen nicht die Mühe. Wir sind verwirrt durch Technik, genervt, sie »zahlt sich nicht aus«. Welchen Nutzen hat ein »smarter« Kühlschrank? Der komparative Vorteil einer neuen Technik misst sich immer im Verhältnis Aufwand zu Nutzen. Viele neue Gadgets sind einfach nur komplizierter als ihre »einfachen« Vorgänger.
Der Prothese-Effekt:
Technologien können zu einem Entlernen genuin menschlicher Fähigkeiten führen. Wir verlieren durch die Nutzung die Autonomie eigener Fähigkeiten. Das Navigationssystem lässt uns das Kartenlesen verlernen. Das Puls-Armband führt dazu, dass wir nicht mehr auf unseren »inneren Pulsschlag« hören können. Der Koch-Roboter nimmt uns das Kochen ab – mit der Folge, dass wir keine Ahnung mehr von Lebensmitteln haben. Wird dieser Effekt so hoch, dass er uns von existentiellen Fähigkeiten abschneidet, wird sich eine Widerstandsreaktion entwickeln.
Ethische und Emotionale Krisen:
Technologie widerspricht immer wieder unseren humanen Grundkonstruktionen. Sie gerät in Konflikt mit unseren »tiefen Werten«. Beispiele sind Gentechnik und Atomtechnik.
Unter »smarter« Technologie verstehen wir heute Technologien mit einer starken Vernetzung und sogenannten »intelligenten« Funktionen. Als Endziel gilt das vollvernetzte »Internet oft Things«. Die gesamte Bandbreite dieses Ansatzes lässt sich heute auf Technikmessen a la Las Vegas bewundern, vom intelligenten Eierkocher bis zum sprachgesteuerten Klo.
Es zeichnet sich ab, dass »smart« alles andere als smart ist: Viele Systeme und Geräte, die dieses Label tragen, sind überkomplex, unsicher und unnütz. Sie bewähren sich nicht im Alltag und führen zu frühzeitiger Verschrottung. Sie sind auch nicht variabel genug, um sich den humanen Bedürfnissen anzupassen. Es mangelt ihnen sozusagen an TECHNOLUTIONÄRER FITNESS. Künftig müssen wir »Smartness« als »SmartAptivity« definieren. Folgende Kriterien erhöhen die Fitness der technischen Dinge:
Adaptive Resilienz:
Digitale Technik ist anfällig für Sicherheits- und Funktionsausfälle. Nicht nur in den Entwicklungsländern wächst die Nachfrage nach »robuster Technologie«, die gegen Ausfall von Teilsystemen gewappnet ist. Technologie benötigt Backup- und Redundanzsysteme, um das Vertrauen in sie zu stärken.
Retro-Faktor:
Zukunftstechnologie wird (wieder) in alten und bewährten Formen gestaltet, wodurch ein technologisches »Heimatgefühl« entsteht. Beispiel. Der digital ansteuerbare (Vinyl-)Plattenspieler.
„Rightsizing“:
Die individuelle Modularisierung der Funktionen für den jeweiligen Bedarf und den einzelnen User.
Service Embeddedness:
Technologie ist schließlich immer mehr Teil von Service-Umgebungen. Dazu kommen Fragen der Schnittstellen, der Bedien- und Service-Komfortabilität. »Smartness« misst sich letzten Endes an der Frage, wie hoch der Komplexitäts- und Kontrollverlust im Vergleich zum realen Netto-Nutzen ist.
Intrinsisches Design:
Design ist mehr als äußere Form. Design schafft sinnliches Vertrauen zwischen User und Gerät, macht Komplexes einfach und „erzählt“ das Wesen und Wirken eines Geräts.
Basalla, George (1989): The Evolution of Technology. Cambridge
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’0521296811′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’e8016aae-babd-48e2-b9e8-26dc11d252ec‘]
Edgerton, David (2007): Shock of the Old: Technology and Global History Since 1900. Oxford
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’1861973063′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’5b8dfabd-be44-45e8-8a11-d88150ec6fca‘]
Franklin, Carl (2003): Why Innovation Fails. Hard-Won Lessons for Business. London
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’1904298087′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’58090720-53dc-43bb-9785-a0a2e7adc58e‘]
French, Michael (1988): Invention and Evolution. Design in Nature and Engineering. Cambridge
Erhältlich bei:[amazon_link asins=’B01CEKKP44′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’9912318b-cd90-4d30-9720-a5b4f0d5c73d‘]
Gould, Stephen Jay (1991): “Exaptation. A Crucial Tool for an Evolutionary Psychology”. In: Journals of Social Issues, Vol. 47 (3), S. 43-65
Horx, Matthias (2008): Technolution. Wie unsere Zukunft sich entwickelt. Frankfurt am Main
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’3593385554′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’251d7982-1bbd-4dc9-a1f2-b0b9c176ecac‘]
Horx, Matthias (2016): Handbuch für Zukunftsagenten. Frankfurt am Main
Erhältich bei: www.zukunftsinstitut.de
MacKenzie, Donald (1999): The Social Shaping of Technology. Milton Keynes.
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’0335199135′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’1119caef-f40f-40c5-b40f-f38898009d5a‘]
Naisbitt, John (1999): High Tech, High Touch. Auf der Suche nach Balance zwischen Technologie und Mensch. Hamburg
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’385436265X‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’4dd2717c-2871-48ab-ad9e-0b89fcda90da‘]
Seidensticker, Bob (2006): Future Hype. The Myths of Technology Change. Oakland
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’B005LY2EMM‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’d9ba7aa1-84a4-4b2f-ab63-d1d3c3de4235′]
Diesmal kommt die Kolumne akustisch: In Form eines eineinhalb-Stunden Gepräches zwischen mir und meinem Sohn Tristan Horx, der seit einem Jahr im Zukunftsinstitut die Themen Globalisierung und Generationen vertritt. Es geht um die Geschichte und Zukunft der Zukunftsforschung, um Digital Natives und die Frage, was ein Zukunftsforscher-Sohn und ein Zukunftsforscher-Vater gemeinsam haben.
„Heißzeit“. Das Wort des vergangenen Jahres erinnert uns daran, dass es jenseits von Populismus und Fremdenangst, von Shitstorm gegen alles und jedes und Datenklau noch etwas gibt, das uns alle verbindet: Wir leben zusammen auf einem blauen Planeten. Der ist, wie uns der neue deutsche Orbit-Star Alexander Gerst im vergangenen Jahr wieder einmal klarmachte, eine wahre Schönheit. Eine Schönheit, um die wir uns kümmern können. Aber warum bleibt die Klimabewegung immer wieder in einem Sumpf von Besserwisserei, Pessimismus und Zynismus stecken, nach dem Motto: Bringt ja sowieso nichts, ich kauf mir lieber schnell noch einen SUV? Das Klimaabkommen von Katowice, wie alle Abkommen vorab schon als »unmöglich« deklariert, kam am Ende doch zustande. Auch weil 2018 das wärmste Jahr seit Aufzeichnung des Wetters war. Prompt stiegen in Deutschland die Werte der Grünen ebenso an wie der Anteil der erneuerbaren Energie, der inzwischen bei 40 Prozent liegt. Alles Zufall? Alles wertlos? Alles zu spät?
Die Klimakatastrophe übersteigt unser Vorstellungsvermögen – deshalb übertreiben wir sie ins Bizarre.
In Büchern und in Filmen wird die Klimakatastrophe ausschließlich als finaler Untergang der Menschheit erzählt. Je drastischer, umso besser. Es war kein Zufall, dass ein deutscher Filmemacher das Thema als reines Apokalypse-Spektakel auf die Hollywood-Leinwand brachte. Roland Emmerich drehte in den Zeiten der ersten Klima-Alarme zwei Spielfilme, „The Day After Tomorrow“ und „2012“, in denen die Erde erst einfror und am Ende selbst der Himalaya unter Wasser stand . Als man die Besucher von Emmerichs Untergangsfilmen nach der Vorstellung befragte, wie glaubhaft sie nun den menschengemachten Klimawandel fanden, hatten die meisten WENIGER Vertrauen in die Modelle der Klimaforschung. Was vorher realistisch schien, wurde als reine Fiktion empfunden.
Der indische Schriftsteller Amitav Gosh kommt in seinem Buch „Die große Verblendung“ (2017) zu dem Ergebnis, dass es sich bei den literarischen Texten, die sich mit der Klimakatastrophe beschäftigen, um reine Science Fiction handelt. Das Thema übersteigt unser Vorstellungsvermögen und dockt gleichzeitig an archaische Wahrnehmungsmuster von Schuld, Sühne und Strafe an. Es führt zu zahlreichen »Kategorienfehlern« – wir verwechseln das Wetter ständig mit dem Klima und die Zufallseffekte mit Kausalitäten. Das führt zu einer Spirale von Angst und Hysterie, die sich allzu leicht in Zynismus entlädt – oder in einer Retterpose, die aufgesetzt wirkt.
Lust auf Lebensqualität statt auf Untergang.
Darum haben es Populisten und Demagogen wie Trump und die deutsche AfD leicht, den Klimawandel als menschengemacht zu leugnen. Und darum fällt der großen Mehrheit ein handelnder Optimismus schwer, Entweder es ist alles zu spät. Oder alles ist rettungslos übertrieben. Dabei haben wir, statt in kollektive Angst- und Katastrophenstarre zu verfallen, allen Grund zum Öko-Optimismus. Der notwendige Wandel ist längst im Gange – auch in den Köpfen. Die große Mehrheit der Bürger will Umfragen zufolge deutlich mehr Klimaschutz. Es fehlt allerdings ein verbindendes Element: Handlungsoptimismus. Wäre nicht eine Denkweise, eine Mentalität denkbar, in deren Fokus nicht der Verzicht, sondern die Lust auf mehr Lebensqualität steht? Voraussetzung wäre, dass die Energiefrage nicht als Kampf um knappere Ressourcen dastünde, als große Verzichtsübung bei Strafe des Untergangs. Sondern als Projekt eines spektakulären technischen Fortschrittes, der die Kräfte der Natur frei setzt. Die Energiewende hätte tatsächlich das Zeug, eine sinnstiftende Transformation einzuleiten, die auch andere Bereiche als nur den Energiesektor betrifft. Wenn wir sie als technische, ästhetische, politische Verbesserung empfinden könnten, dann wäre viel gewonnen.
Konkret geht es um die Alltagsthemen Energie und Wohnen, Verkehr und Ernährung. In diesen drei Bereichen gibt es längst klimaschonende Alternativen mit erheblichen positiven Nebenwirkungen.
Energie: Der lange Abschied vom fossilen Zeitalter
Das letzte Jahr markiert einen wichtigen Meilenstein in der Klimawende. Der Anteil der Erneuerbaren hat mit 40 Prozent am Strommix in Deutschland einen neuen Rekord erreicht. Es ist noch nicht lange her, als uns die Stromriesen in ihren Pressemitteilungen vorrechneten, dass mehr als 10 Prozent nie möglich wären – Solar und Wind seien viel zu »schwache« Energien für ein nördliches Land wie Deutschland. Aber ein Mix aus ökonomischen Entwicklungen und politischen Zufällen haben die Rechnungen radikal verändert. Heute ist Atomenergie viel zu teuer und die Preise für Solar- und Windenergie sinken ständig.
Millionen Häuser in Deutschland sind heute kleine Kraftwerke. Ein solches Haus zu bewohnen erzeugt eine ganz andere Beziehung mit der Umwelt. Dabei geht es weniger ums Sparen. Energie ist nicht knapp. Im Gegenteil. Die Natur – Wind, Sonne, Biomasse und vieles mehr – geben uns Energie in Hülle und Fülle. Es geht vielmehr darum, diese Energien richtig zu verteilen, zu speichern, zu vernetzen. Ist »Vernetzung« nicht dass große Magiewort des Digitalen Zeitalters?
Das Wort Energie entfaltet seine positive Kraft eben nicht in Verbindung mit dem Beiwort Verzicht. Auch die Weltrettung führt uns nicht viel weiter. Wer zum ersten Mal in ein Elektroauto steigt, ist verwundert, wie viel Spaß das macht. Wer ein paar Tage eines der ausgereiften Elektro-Modelle gefahren ist, wird aus vielen Gründen nie mehr auf einen fossilen Verbrenner umsteigen. Der ist zu langsam, zu laut, zu ungelenk. Es ist auch aus ästhetischen Gründen günstig, eine primitive Technologie zu überwinden.
Die Energiefrage kann auch positive politische Energien erneuern. Die Umweltbewegung meldet sich zurück. Die Massenproteste gegen die Rodung des Hambacher Forstes im Herbst 2018 waren die größten medienwirksamsten Umweltdemonstrationen seit Jahren. Energie mobilisiert die angeblich apathische Jugend: Die 15-Jährige schwedische Schülerin Greta Thunberg trat medienwirksam in Schulstreik, bei den deutschen Schülern regt sich, zaghaft noch, eine neue Protestbewegung rund um das Thema Klima.
Und Europa? Plötzlich will die Europäische Union zum globalen Vorreiter und Vorbild einer neuen CO2-Politik werden. Die europäische Idee wird neu positioniert. Die Zukunft erobert man nicht, indem man gegen Grenzwerte schimpft. Sogar die deutsche Autoindustrie, die den Wandel lange ignoriert hat, denkt jetzt radikal um. Der »Dieselsünder« VW steigt ins regenerative Energiegeschäft ein, experimentiert mit Carsharing und beeilt sich, eigene Lade-Netze zu errichten. Plötzlich geht alles sehr schnell.
Verkehr: Vom magischen Wandel der Städte
Die Klimawende entscheidet sich weniger national-zentral als dezentral in den Großstädten und Ballungsgebieten, die zu 70 Prozent für die CO2-Emissionen verantwortlich sind. Es sind vor allem die Bürgermeister, die sich für die Potentiale der Klimawende interessieren. Das stärkt die regionale und kommunale Demokratie gegen die Ideologisierungen und Polarisierungen der Nationalpolitik. Der Klimawandel wird zu einem Wandel der Demokratie in Richtung Bürgergesellschaft.
Kaum war Trump an der Macht, verpflichtete sich das Gros der amerikanischen Städte auf noch weitergehende Klimaziele.
Beim jüngsten Klimagipfel der Städte und Regionen in Kalifornien kündigte Winfried Kretschmann für Baden-Württemberg an, bis 2050 klimaneutral zu werden. Kalifornien will es fünf Jahre früher schaffen. Am 2020 schon wird jeder kalifornische Neubau per Gesetz mit Solaranlage gebaut.
In Deutschland fordern mehr als 90 Prozent der Bürger eine gezielte Umgestaltung von Städten und Gemeinden in Richtung Klimaschonung. Manchmal hat das nicht direkt etwas mit CO2 zu tun. Mit drastischen Worten beschreibt der Bürgermeister der englischen Hauptstadt die Lage „Die Luft in London ist ein Killer“. Die schlechte Luftqualität sei das größte Umwelt- und Gesundheitsrisiko für die Bevölkerung. Am schnellsten geht die Wende, wenn sie, wie in China, mit einem gewissen existentiellen Druck geschieht. Chinas Politik hat verstanden, dass die Energiewende die eigene Bevölkerung schützt. Und bei der Stange hält.
Vor allem die Städte des europäischen Nordens haben vorgemacht, wie man Energiewende mit einer steigenden urbanen Lebensqualität koppelt. Die Bürger sind stolz auf den Wandel, wenn sie sich von Anfang an beteiligen können. Kopenhagen und Amsterdam haben den Autoverkehr in den letzten Jahren weitgehend reduziert – im Einvernehmen und zur weitgehenden Freude der Bewohner. Die erste Fahrrad-Bürgermeisterin weltweit gibt es seit 2017 in Amsterdam. Anna Luten berät heute auch Städte in den USA. Der Umstieg auf Radschnellwege und ein besseres ÖPNV-Netz zeigen Wirkung. Erstmals wurden in der Rushhour zwischen 8 und 9 Uhr mehr Räder als Autos in der City of London gezählt. In Wien kostet die ÖPNV-Jahreskarte 365 Euro, einen Euro am Tag. Die österreichische Initiative „Zero Emission Cities“ ist weltweit Vorbild für nachhaltige Mobilität und einen intelligenten Nahverkehr. Und Deutschland? Hier stagniert der Anteil der Radfahrer, weil die Wege zu gefährlich sind. Beim Rad- und Nahverkehr gehört Deutschland zu den Entwicklungsländern in Europa. Dabei sind Radfahrer Umfragen zufolge die glücklichsten Verkehrsteilnehmer. Eine neue Verkehrspolitik bindet den ländlichen Raum ein und hängt ihn nicht ab. Der Ausbau von Bahnen und ein besserer Nah- und Radverkehr erlaubt es auch Ärmeren überall bequem, schnell und günstig von A nach B zu kommen.
Ernährung: Warum wir keine Heuschrecken essen müssen…
Weltweit leiden inzwischen mehr Menschen an Über- als an Mangelernährung. Die größten Klimasünder beim Essen sind Zucker, Fleisch und billiges Fett. Diese Lage ist historisch neu, und sie stimmt nicht mit den alten Wahrnehmungen einer Welt in Hungergefahr und Nahrungsmangel überein. Obwohl die Bevölkerungszahl der Erde 7,5 Milliarden überschritten hat, können wir heute die gesamte Erdbevölkerung ernähren. Nur in Krisen- und Kriegsregionen kommt es noch zu Knappheiten. In den Wohlstandsnationen stellen wir inzwischen viel zu viele Kalorien her, von denen eine viel zu große Menge einfach verdirbt. Es gibt also keinen Sachzwang zur immer weiteren Intensivierung der Landwirtschaft und den damit verbundenen Klimaschäden. Im Gegenteil. Intelligente Lösungen, die den Menschen, dem Boden UND dem Klima dienen, sind längst auch das, was die Verbraucher fordern und der Markt verlangt.
Selbst in den USA ist seit einigen Jahren »Peak Meat« erreicht, der Gipfel des Pro-Kopf-Fleischkonsums. Zynisch könnte man sagen; Mehr geht nicht hinein. Öko-optimistisch: Langsam spricht sich herum, dass gesunde Ernährung nicht nur ein Thema für die Reichen und Eliten ist. In den meisten europäischen Ländern schwankt der Fleischkonsum heute noch immer auf hohem Niveau, aber er steigt jedenfalls nicht mehr an. Und er wird fallen. Immer mehr essen weniger und gezielter Fleisch. Sie sind »Flexitarier« – der größte Ernährungstrend der Zukunft.
Teller, Gabel und Messer sind die schärfsten Waffen
Damit werden Teller, Gabel und Messer zu den schärfsten Waffen gegen den Klimawandel. Nach einem UNO-Bericht würde die Reduktion des Fleischkonsums in den Industrienationen um etwa 40 Prozent schon ausreichend, um den Agrarsektor klimatechnisch weitgehend zu sanieren. Fleischproduktion kann ein integraler Teil einer gesunden Kreislauf-Landwirtschaft sein. Schließlich machen Tiere auch Dünger. Wäre das nicht ein gesellschaftlicher Deal, eine sinnvolle Zielvereinbarung: 40 Prozent weniger Fleisch, dafür besseres?
Überhaupt ist im Agrarsektor vieles in positive Bewegung geraten. Bei den Bauern und Landwirtschaftsverbänden hat sich inzwischen die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Trend zum brutalen Billigfleisch so nicht weitergehen kann. Gleichzeitig bilden sich ungewöhnliche Alternativen der Nahrungsproduktion: Die Landwirtschaft wird zur Stadtwirtschaft und kommt auf unkonventionelle Art zu den Konsumenten. Handelsketten wie Edeka und Metro betreiben »Vertical Farming« und gehen unter die Gärtner. Die deutschen Fleischkonzerne Rügenwalder Mühle und Wiesenhof investieren massiv in Fleischalternativen. Soja, Insekten und Erbsen sind das neue Fleisch – und in den USA bereiten Innovateure wie »Beyond Meat« die nächste Welle der Fleisch-Substitution vor. Der größte Nahrungsmittelhersteller der Welt, Nestlé, hat sich dazu verpflichtet, in den nächsten sechs Jahren alle Verpackungen rezyklierbar oder sogar biologisch abbaubar zu machen.
Eine global vernetzte Landwirtschaft und ein fairer Agrarhandel können einen Beitrag leisten, künftige Klimaschäden um mehr als die Hälfte zu reduzieren, zeigt eine Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK). Das nächste grüne Wunder findet in Afrika statt: Mit Hilfe von Satellitendaten können Bauern ihre Felder besser bewässern und Düngemittel effizienter einsetzen. Technologien wie Crispr/Cas können helfen, Pflanzen gegen Dürre und extreme Temperaturen robuster zu machen – wenn wir sie geschickt einsetzen, befördern sie eine resilientere Landwirtschaft.
Eine globale Bewegung der Neo-Nachhaltigkeit
Am Ende werden es jene Länder sein, die wir heute als Klimasünder verurteilen, um unser eigenes Verhalten zu legitimieren, welche die große Wende entscheidend voranbringen. China und Indien sind auf dem Weg zu grünen Supermächten. Erik Solheim, der Chef des Umweltprogramms der UN, spricht von einer »neuen Weltordnung«. Noch verbrennt die Volksrepublik fast die Hälfte der weltweiten Kohle; bis 2050 will das Land der Mitte führend auch beim grünen Strom sein.
„Solange China Milliarden Tonnen Kohle verbrennt, nützen uns keine Erneuerbaren….” – wie oft haben wir das in den letzten Jahren gehört? Aber gerade China treibt den Umstieg auf Elektro-, Hybrid- und Wasserstoffautos massiv voran. Auch weil das Riesenland nach technologischen Alleinstellungen sucht, in denen es sich als Innovateur beweisen kann. So entsteht ein neuer grüner Welt-Wettbewerb, in den auch die arabischen Länder einschwenken. Selbst die Öl-Königshäuser des arabischen Raumes setzen heute auf Neue Energien. Sie haben nicht nur reichlich Öl im Boden (das dort bleiben wird), sondern auch unendlich viel Sonnenenergie, mit der sich Trinkwasser herstellen, ganze Großstädte kühlen und Nahrungsmittel VOR ORT produzieren lassen. So, wie am kalten Ende der Welt die Isländer ihre Tomaten und demnächst Bananen selbst in Gewächshäusern produzieren. Mit geothermaler Energie.
Noch mehr positive Fakten? Es gibt viele. Aber wie fügt sich das alles zu einem Klimabewusstsein zusammen?
Wandel beginnt im Kopf – und verwirklicht sich im Weltgefühl
Vielleicht können Erkenntnisse der Spieltheorie helfen. Um ein komplexes Spiel im Sinn eines »Win-Win«-Ergebnisses zu gewinnen, müssen alle Player an einem Strang ziehen, ihre Interessen koordinieren und synchronisieren. Um die große Transformation zu schaffen, braucht es neben der Politik die Bürger UND die Unternehmen. Bislang hat die Industrie gezögert, die Bürger gezweifelt und die Politik reflexhaft agiert, je nach Stimmungslage. Dieses fragile System kippt aber gerade in Richtung auf einen endgültigen »Tipping Point«.
Noch nie war es so leicht, selbst die großen Internet-Riesen in den Kampf gegen Treibhausgase zu integrieren, die heute um ihr Renommee ringen. Die deutsche Industrie hat nach vielen Jahren Ambivalenz und Dieseltricks eine Entscheidung getroffen. Die meisten deutschen Großunternehmen befürworten heute klare, auch strenge Richtlinien. Aus Europa kommen die Instrumente ambitionierte Grenzwerte und funktionierender Emissionshandel. Und global agierende Konzerne werden die nächsten Aktivisten sein. 100 Unternehmen stehen weltweit für mehr als 70 Prozent des CO2-Ausstoßes (Carbon Majors Report der US-NGO „Carbon Disclosure Project“). Ganz oben, wenig überraschend: Ölmultis und Staatsunternehmen.
Das fossile Zeitalter, in der ganze Volkswirtschaften am Tropf der fossilen Rohstoffe hingen, geht zu Ende. Venezuela ist das traurige Relikt dieser Petrol-Ökonomien, die sich an ihrer inneren Struktur selbst zugrunde richten. In Afrika wachsen vor allem jene Volkswirtschaften, die NICHT auf staatlich kontrollierte Rohstoffe setzen, sondern neue diversifizierte Handelsbeziehungen und Produktionsweisen entwickeln. Wir sind Zeugen eines Prozesses, im dem sich die Systeme persönliches Verhalten, Technologie, Politik Stück für Stück in Richtung auf einen positiven Ausgang synchronisieren. Natürlich geht das nicht ohne Lärm und Widerstand der alten Spieler. Nicht ohne Jammern und Wehgeschrei und Leugnung und Schuldzuweisung. Aber kennen wir das nicht? Kurz bevor etwas gelingt, ist der Lärm immer am größten. Und auch die eigene Unsicherheit, dass wir scheitern könnten.
»Carbon Peak« in 10 Jahren
Wagen wir also eine Prognose: Der »Carbon Peak«, der Gipfel des globalen CO2-Ausstosses, wird schon in den nächsten zehn Jahren erreicht. Damit ist noch nicht alles gewonnen, aber solche Entwicklungen sind erfahrungsgemäß selbstverstärkend. 2050 wird das Wort »Klimakatastrophe« aus dem öffentlichen Wortschatz verschwunden sein. Wir werden uns wieder über schlechtes Wetter aufregen – „zu heiß, zu kalt, zu windig“. Es wird wärmer sein auf dem Planeten, aber deshalb nicht unbedingt dauerhaft katastrophisch. Ökologie handelt dann nicht mehr von Schuld, Sünde, Strafe und Enthaltsamkeit. Eine Ökologie der Schuld funktioniert nur für eine moralische Minderheit. Die postfossile Sanierung unseres Planeten braucht aber eine gesellschaftliche Mehrheit, die Lust auf Zukunft macht. Und die Dinge zusammenfügt, die tatsächlich zusammen gehören. Ökologie und Ökonomie. Technik und Natur. Fortschritt und Schönheit. Das geht. Wetten?
Matthias Horx gilt als einflussreichster Trend- und Zukunftsforscher im deutschsprachigen Raum und ist Gründer des Zukunftsinstituts. Dr. Daniel Dettling leitet dessen Berliner Büro.
WÜRDEN SIE ein Auto kaufen, das immer mal wieder sinnlos im Kreis herumfährt, mit der Sitzheizung den Beifahrer grillt oder mit der Kofferraumklappe Fahrradfahrer malträtiert? Oder einen Kühlschrank, der eher wärmt statt kühlt, dabei Musik spielt und ständig Bier nachbestellt obwohl man Bier nicht mag?
Robert Habeck, unser nachdenklicher Grünen-Vorsitzende, hat sich getraut, aus einem Medium auszusteigen, das genauso funktioniert wie dieser »intelligente Kühlschrank« oder das marodierende Auto. Er hat sich von Twitter und Facebook verabschiedet. Seitdem geht der üblichen maulige Shitstorm durchs Netz: Habeck drücke sich vor den echten Diskussionen, er sei arrogant oder digitalfeindlich oder einfach feige.
DER Begriff »Soziale Medien« ist ebenso ungünstig und irreführend wie »Künstliche Intelligenz«. Diese Plattformen sind weder Medien (im Sinne des Medialen als Vermittlung), noch sind sie sozial. Sie bringen ihre Nutzer dazu, Affekte mit Gefühlen, miese Laune mit Kritik und Bösartigkeit mit Meinung zu verwechseln. Sascha Lobo sprach einmal von der »Vermeinung der Welt«. Im Getöse der Meinungen gewinnt am Ende immer das Trivialste und Lauteste, das Derbste und das Gröbste. Erregung und Aufmerksamkeit strukturieren die Welt.
Menschen sind Kommunikationswesen. Wir sind für unsere Zukunft darauf angewiesen, uns zu vereinbaren. Echte menschliche Kommunikation setzt jedoch voraus, dass ich mit Anderen IN BEZIEHUNG trete. Das heißt zuhören, wahrnehmen, sich öffnen. Es bedeutet, sich selbst Fragen zu stellen, die man mit anderen beantworten möchte. Es bedeutet, Innezuhalten, etwas wirken zu lassen. Die Distanz zwischen Affekt und Gedanke ist die Grundlage jeder Kultur. Nur so können wir uns menschlich verständigen.
Robert Habeck hat in mehreren Interviews geschildert, wie das Beschleunigungs-Prinzip Twitter inzwischen auch die politischen Talkshows übernimmt. Als Talk-Gast, so schildert er, wird man regelrecht gezwungen, sich twitterfähige Formulierungen zurechtzulegen, mit denen man dann taktisch das Gegenüber unterbricht. Welche fatalen Auswirkungen das auf unsere gesellschaftlichen Debatten hat, kann man in jeder Anne-Will-Plasberg-Slomka-Show erleben. Die Vertwitterung schafft Polarisierungen, Skandalisierungen, Vereinfachungen, die ständig auf Politikerhass und Politikverdrossenheit einzahlen. Das Ende dieser Evolution ist im amerikanischen Fernsehen zu besichtigen. Und in der amerikanischen Gesellschaft. Dass Trump der globale Twitterkönig ist, ist wahrhaftig kein Zufall.
Es ist schon seltsam, wie gerne selbst die schärfsten Kritiker des amerikanischen Monopolkapitalismus eben diese monopolitischen Medien nutzen. Twitter eignet sich eben auch bestens für jene billige, schnelle Moralisierungs-Empörung, mit der sich rechte wie linke Ideologien gerne tarnen. In seinem Wesen ähnelt Twitter viel mehr dem Volksempfänger, mit dem man einst Massen fanatisierte, als einem emanzipativen Medium. Es drückt jedem ein Megafon in die Hand – und gibt dann den Dirigenten der Megaphone ein Über-Megafon. Rund um die Uhr rauschen so virtuelle Mobs durchs Netz, die alles kleinhauen, was nach Konsens aussieht.
Zehn Jahre, nachdem der Mythos der »Sozialen Medien« entstand, sollten wir endlich verstehen, wie diese Instrumente die Infantilisierung der Gesellschaft vorantreiben. Es ist Zeit für eine Revolte, oder sagen wir besser: Eine Emanzipation. Die hat Habeck jetzt endgültig angestoßen. Lassen wir den süßen Terror von »Followern« und »Likes« hinter uns, auch wenn es schwerfällt. Fangen wir wieder an, wahrhaft zu sprechen. Das kann durchaus digital sein, aber nach anderen Regeln. Jeder, der diesen Schritt endlich tut, erlebt, wie heilsam das ist.
Lektüreempfehlung:
Jaron Lanier, Zehn Gründe, warum Du deine Social Media Accounts sofort löschen musst, Hoffmann und Campe 2018
Erhätlich bei: [amazon_link asins=’3455004911′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’9498907e-fd7a-448a-8beb-db66b6887fb6′]
Neun Thesen zur Digitalen Krise – und wie wir in Richtung auf eine Humane Digitalisierung vorankommen
Vor nunmehr 20 Jahren schaltete eine unbekannte Firma namens GOOGLE ein Programm für vernetzte Computer frei, das sich „Suchmaschine” nannte. Schon ein Jahr später erreicht Google eine Milliarde Anfragen. Seitdem hat sich die Welt – oder eher unsere WAHRNEHMUNG der Welt – in unfassbarer Weise verändert.
Digitalisierung ist der revolutionäre, quasi-religiöse Mythos unserer Tage. Im Namen des DIGITALISMUS – der Ideologie gewordenen Computerisierung – wird uns die ständige Umwälzung aller Verhältnisse versprochen – und angedroht. Kein Stein bleibt auf dem anderen. Das menschliche Bewusstsein wird radikal verändert. Am Ende übernimmt die Künstliche Intelligenz… Das ist das dominante Narrativ aller Zukunfts-Konferenzen, das Super-Mem unserer heutigen Zukunftsbilder.
Aber könnte es nicht auch ganz anders werden? Könnte es sein, dass wir uns bereits hinter dem DIGITAL PEAK, dem Höhepunkt der digitalen Dynamik befinden? Mitten in einer DIGITALEN REVISION, in der der Tanz zwischen Menschen und Maschine eine neue Drehung nimmt? In den USA spricht man bereits vom TECHLASH. Um die neue Richtung zu bestimmen, brauchen wir einen neuen Kompass, eine neue nicht-technikfeindliche DIGITALE AUFKLÄRUNG. Und den Abschied von der fixen Idee, dass sich die ganze Welt in Nullen und Einsen auflösen lässt.
Der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland wurde durch den Weltbestseller „Generation X“ berühmt – seitdem machen wir uns Gedanken über die Befindlichkeiten von X, Y, Z, Millennium- etc.- Generationen.
Seit einigen Jahren arbeitet Coupland auch als Künstler. Der inzwischen 57-jährige produzierte eine Reihe von Schrift-Tafeln mit melancholischen Parolen wie „Waiting for the Singularity is Getting Dull“, „So Much Porn“, oder „No Face Detected“.
Besonders eine Parole brachte es zu Berühmtheit:
Douglas Coupland ist kein Technikfeind. Er ist mit dem MAC groß geworden und nutzt für seine Kunst ausgiebig digitale Applikationen. Aber geht es uns nicht allen manchmal so – dass wir uns im Zeitalter des Digitalen entsetzlich verloren fühlen? Was vermissen wir? Das Klappern von Schreibmaschinen und nur drei Fernsehprogramme? Was Coupland mit seiner lakonischen Parole berührt, ist eine weit verbreitete Trauerarbeit. Das Vor-Internet-Hirn schien auf eine bestimmte Weise stimmiger zu funktionieren. Wir wussten besser über uns selbst Bescheid – wer wir sind, und was wir sein wollten. Unsere Identität schien klarer, und die Welt verlässlicher – selbst wenn sie nie heil war.
2
Der Terror der Klicks
Um die Auswirkungen der Netzkommunikation auf uns alle zu verstehen, benötigen wir zwei zentrale Erklärungs-Parameter: Eine ökonomische und eine neuro-psychologische.
Die ÖKONOMIE digitaler Kommunikationssysteme lässt sich als einfacher Algorithmus darstellen: Als Formel der akkumulierten Klicks. Wie viel Facebook, FAZ online oder jede beliebige Website einnehmen – nämlich an Werbetantiemen – richtet sich ausschließlich nach der Anzahl der Klicks. Wie viel ein Instagram-Influencer verdient, wie einflussreich er ist, entscheidet sich an der Zahl seiner „Follower“ und „Liker“. Diese „Klickonomie“ ist nach dem Pionier der Virtuellen Realität, Jaron Lanier, die Ursünde des Netzes. Lanier rät uns, die sozialen Medien sofort abzuschalten. Weil sie in ihrem inneren Wesen Manipulationsmaschinen sind; Systeme, die uns süchtig und unmündig machen sollen.
Das schreckliche Gefühl, nicht mehr zu wissen, was Realität ist, hängt eng damit zusammen. Im digitalen Kommunikations-Universum, das längst auf die traditionellen Medien übergegriffen hat, sind wir umlagert von „Clickbaits“ – Reizen, die unsere Aufmerksamkeit „triggern” sollen. So entsteht eine geisterhafte Welt aus Katzen, Sex, Kindern, die auf Rutschen verunglücken und dabei spaßig aussehen, Korruptionen, Apokalypsen und Verschwörungen. Ausgebeutet wird die einzig entscheidende Knappheits-Ressource der Informationsgesellschaft: Menschliche Aufmerksamkeit.
Die Substanz, die all dies erst möglich macht, ist das Dopamin, das wichtigste menschliche Motivations-Hormon. Menschen sind Bindungswesen. Die Evolution hat uns einen fundamentalen sozialen Belohnungs-Modus mit auf den Weg gegeben. Unser soziales Hirn funktioniert wie eine Suchmaschine für RESONANZ. Jedes Mal, wenn wir uns GEWOLLT und ANERKANNT fühlen, schüttet unser Organismus Dopamine und Endorphine aus – Belohnungs- und Entspannungs-Moleküle, die uns in einen Zustand der Selbstrealisation versetzen. WIR SIND, DENN JEMAND SIEHT UNS!
„Ein Like ist in den meisten Fällen ein situatives, digitales Gemeinschaftsgrunzen, dessen Bedeutung an der Grenze zum Nichts entlang tänzelt” – so elegant formulierte es Sascha Lobo. Genau das macht den »horror vacui« des Netzes aus. Im Netz sind wir Opfer einer PSEUDONYMITÄT, die uns ver-rückt macht, weil wir nie wissen können, ob wir wirklich gemeint sind. Das Netz produziert, wenn wir uns wirklich darauf einlassen, am laufenden Band existentiell Identitäts-Unsicherheiten, die sich in immer neuen Pathologien wie Narzissmus, Fake News und Hass entladen.
3
Atomisierung
Das wunderbare Wesen des Internet, so heißt es seit zwanzig Jahren euphorisch auf jeder Tech-Konferenz, ist die VERBINDUNG. Es bringt Menschen, Geld und Ideen, Initiativen, Weltrettungen zusammen. Alte Freunde können sich über das Netz wiederfinden, Anglervereine und Plastikmüllvermeider ihr Wissen austauschen. All das ist wahr. Aber gleichzeitig wächst das Reich einer schattenhaften digitalen Einsamkeit.
Seit die Festnetzleitungen stillgelegt sind, die Anrufbeantworter ins Leere piepen, herrscht ein seltsames Schweigen im ständigen »pling«. Viele, mit denen man früher auch über Zeit und Raum hinweg verbunden blieb, sind plötzlich verschwunden. Das Netz teilt Menschen in Kommunikations-Universen, die sich voneinander entfernen wie die Galaxien im Weltall.
Da sind die unermüdlichen E-MAILER, die ihre Botschaften rund um kopierbare Höflichkeiten und geschäftliche Interessen strukturieren. Da sind die FACEBOOKER, deren Leben vom Mitteilungsdrang der eigenen Befindlichkeit geprägt ist. Da sind die INSTAGRAMMER, die das Private ins Unendliche ästhetisieren und kommerzialisieren. Da sind die WHATSAPPER, die in einer Echtzeit-Familienwelt leben und alle für ihre Emoji-Familie halten. Bildeten diese Universen bis vor Kurzem noch Schnittmengen, driften sie heute zunehmend voneinander weg. Es ist, als ob wir alle nur noch beim Autofahren telefonieren, wo wir immer mehr – Hallo! Hallo! HALLO, SPRICH LAUTER! – Tunnel durchfahren.
Johann Hari hat mit seinem Bestseller „Lost Connections” das Zerbröseln der sozialen Bindungen als den wahren Grund für die Depressionskrise Amerikas herausgearbeitet, die letztlich zu Trump führte. Die Grundkrankheit unserer Zeit, so Hari, wird vom Verlust stabiler Beziehungen erzeugt, die wir durch flüchtige, operative Impulse ersetzen. Die wahre Geißel der Neuzeit ist Einsamkeit, die durch digitale Un-Verbindlichkeit verschärft wird. Das Netz löst jede Menge Verbindungsfragen. Und dabei stellt es uns immer neue unlösbare Beziehungs-Fragen.
Die häufigste Frage, die an ALEXA gestellt wird, ist übrigens die Frage, ob sie beim Dating helfen kann: www.stern.de
4
Empörokratie: Wenn jeder ein Megaphon hat
Immer, wenn ich durch Zufall auf die Kommentarseiten einer großen Website gelange, wundere ich mich: Woher beziehen Furunkel und liebnitztal, MarkAurelius, Specimen 2000, rülpsteufel7, #Habedieehre, gottseidank1, oledoledoffe, Flachlandprophet, cup01, Guerilla77, die-waage, Knack2345, Siebenschwanz und wie sie alle heißen, diese unendliche Energie, millionenfach rund um die Uhr Meinungen über Meinungen von Meinungen zu posten? Sascha Lobo hat das einmal die VERMEINUNG der Welt genannt…
Da ist zunächst ein simpler Geltungsdrang: Jeder möchte endlich mal gehört werden. Verständlich. Aber selten geht es wirklich um Meinungen im Sinne von Bedeutungen. Es geht um AFFEKTE, um die im Moment empfundenen Defizite, Abneigungen, Ressentiments, Ab-Wertungen. Um verbale Dominanzgesten und schlechte Laune, die man irgendwohin senden möchte.
Komplexe Gesellschaften sind auf einen offenen Raum angewiesen, in dem sich Konsens und Kontext bilden kann, ohne verordnet zu werden. Die Agora der Griechen, das Forum der Römer, der Marktplatz des Mittelalters, die »Zeitung« als Vermittlerin von Bürgern und Macht, das Parlament (von »parlare« = sprechen), auch das Kaffeehaus oder sogar das Wirtshaus – all das sind die Tools des Zivilisatorischen, das auf alltägliche Gewalt verzichten will. Dafür braucht es Respekt- und Distanzformen, die auf Gewalt, auch verbale verzichten.
Wer in ein Wirtshaus geht, um sein inneres Elend aggressiv loszuwerden, bekommt meistens eine eindeutige Reaktion, die seine Aktionen begrenzt. Im tobenden, »vermeinten« Netz erodiert diese Grundlage menschlicher Begegnung. Wo jeder ein Megaphon hat, gewinnt das Gesetz der eskalierenden Lautstärke: wer am lautesten brüllt, kommt durch. Am Ende gewinnt der Troll.
Der Philosoph und Psychiater Michael Lehofer schrieb in seinem Buch „Mit mir sein”: „Es lohnt sich nicht, sich in Meinungskriege einzumischen. Denn die Meinung ist in ihrem Wesen narzisstisch.”
Im Jahr 1990 beschuldigte Rumorville, einer der ersten digitalen Newsletter, seinen Konkurrenten Skuttlebutt, ein BETRÜGER zu sein. Skuttlebutt verklagte den Provider von Rumorville, CompuServe, für die Veröffentlichung falscher Nachrichten, heute würde man sagen: »Fake News«. Im Prozess fällte der Richter ein Grundlagen-Urteil: Ein Provider ist nicht verantwortlich für die Inhalte auf seiner Plattform. Mit diesem Urteil kämpfen wir noch heute. Die EMPÖROKRATIE, in der wir seitdem leben, die Herrschaft des dümmsten Affektes, ist das Produkt einer systemischen Fehlsteuerung kommunikativer Systeme. In ihr ist das MEDIUM, der Vermittler, ausschließlicher Profiteur von Botschaften, ohne jede Verantwortung und Moderation. Aber gerade das beginnt sich langsam zu ändern.
5
Des Kaisers digitale Kleider
Im Sommer 2018 hielt Google seine jährliche Entwicklerkonferenz ab. Sundar Pichai stellte im Stil pompöser Apple-Enthüllungen ein „sensationelles neues Feature” vor: „Wir von Google wollen Menschen dabei helfen, Dinge zu erledigen (getting things done). Es hat sich herausgestellt, dass ein großer Teil darin besteht, Telefongespräche zu führen. Wir haben hart an dieser Applikation gearbeitet!”
Dann leuchtete der gewaltige Schirm hinter dem Google-Chef auf, und eine synthetische weibliche Stimme führte ein Telefonat mit einem Friseursalon. Mit vielen echt menschlich klingenden äähs und emms wurde ein Termin für übermorgen vereinbart. &bqdo;Das war ein wirkliches Telefonat! Unser Assistent kann inzwischen Nuancen jeder Konversation verstehen!”
Jubel, Beifall, das Video ging um die Welt, die Medien berichteten wie immer grusel-fasziniert. Kaum jemand kam auf die Idee, dass hier des Kaisers digitale Kleider gepriesen wurden. Hat jemand ein Telefonat für einen Friseurtermin jemals als ein Problem empfunden, das man mit Künstlicher Intelligenz lösen muss? Und macht man solche Termine nicht längst praktischer via Internet-Klick?
Das Absurde ist, dass man sich solche Fragen gar nicht mehr stellen kann. Das Digitale übt eine Art Hypnose aus, in der wir wie die Kaninchen auf Schein-Wunder starren. Bei einer ähnlichen Innovations-Show traten der CEO von LG, Jo Seong-Ji, und Technikchef I.P. Park auf und zeigten die »Neue Smartphone-Intelligenz« des koreanischen Konzerns. Ein junger Mann spricht mit seinem smarten elektronischen Style-Berater, es geht um die Grillparty am Abend: „Im T-Shirt wird mir kalt, ich habe Schnupfen”, sagt der Mann. Der automatisierte Styleberater empfiehlt einen Schal. „Den habe ich verloren. Kauf mir einen ähnlichen bei Amazon!”
Das Motto: Upgrade your life infinitely!
Die Beispiele zeigen, dass die digitale Evolution längst in einer Grenznutzen-Krise steckt – in dem, was der amerikanische Internet-Kritiker Evgeny Morozov »Solutionismus« nennt – »Löseritis«, oder Technik auf der verzweifelten Suche nach Problemen. Die Umdrehung des Spruches, nachdem moderne Technik von einem Wunder nicht zu unterscheiden ist, besteht darin, dass sie hemmungslos Banalitäten simuliert.
Die reale Innovationsrate – im Sinne realen Mehrwerts – von digitalen Geräten verlangsamt sich seit etwa 5 Jahren. Schauen Sie in ihre elektronische Müllkiste im Keller: Kabel, Adapter, Stecker – und Geräte, die sich immer mehr ähneln. Version 9.0, 10.0, X, machen keinen Unterschied. Im digitalen Innovationsfeld häufen sich »Running Gags« – Erfindungen, die seit vielen Jahren gehypt werden, sich aber als Flops oder Ladenhüter erweisen. Etwa der berühmte »Intelligente Kühlschrank«, der aber auf jede Haushaltsmesse neben dem digitalen Brotmesser und der vernetzten Waschmaschine präsentiert wird. Das private »Smart Home« erweist sich als mühsame Angelegenheit, das den Bewohner zu seinem eigenen elektronischen Hausmeister macht, der ständig mit unkompatiblen Geräten herumfummeln muss. Wir ahnen allmählich: Ein vollautomatisches Haus würde sich irgendwann auf subtile Weise seiner menschlichen Bewohner entledigen. Was sollen wir noch da? Wir stören ja nur die Sensoren!
In Guy Debord’s visionärem Text „Die Gesellschaft des Spektakels” , erschienen vor 50 Jahren, heißt es: „Genau dann, wenn die Masse der Gerätschaften in Richtung Infantilität wandert, wird das Infantile selbst eine Gewohnheit; Dies wird verkörpert durch das GADGET.”
„Just when the mass of commodities slides toward puerility, the puerile itself becomes a special commodity; this is epitomised by the gadget … The only use which remains here is the fundamental use of submission.“
6
Messeritis
Das neueste Apple-Watch hat eine Funktion, die im digitalen Versprechen schon seit Jahren vakant ist: Leben retten. Sie misst Blutdruck und Puls und alarmiert, wenn die Werte abnormal werden. Sie »fühlt«, wenn wir fallen. Dann fragt sie uns, um Fehlalarme zu vermeiden: &bdqul;Wollen Sie WIRKLICH einen Alarm auslösen?”
Aber was ist »abnormal«?
Wenn wir beim Gedanken an einen geliebten Menschen plötzlich Herzklopfen bekommen – wird dann der Notarzt alarmiert? Kann die Watch Sehnsucht unterscheiden, oder sexuelle Erregung? Und was wäre, WENN sie das könnte? Bekommen wir dann eine message über unseren »arousal score«?
Die Funktion erzählt eine wunderbare Geschichte von der Unschärfe des menschlichen Lebens. Was ist, wenn wir fallen, aber nicht mehr JA drücken können? Oder wenn wir fallen, weil wir uns freudig hingeworfen haben? Oder wenn wir keine Lust mehr zum Aufstehen haben?
Unsere Angst vor dem Datenverlust bei medizinischen Anwendungen verbirgt womöglich eine andere Angst: Die vor dem Wissen selbst. Diejenigen, die das Monitoring ihrer medizinischen Werte am Nötigsten haben – Menschen mit multiplen Krankheiten – beziehen ihre Lebensfreude womöglich gerade aus zulassender Ignoranz. Die Gesunden hingegen laufen mit tausend Vergleichsuhren herum, was ihren Fitness- Stress nur erhöht. Um leben zu können, benötigen wir eine gewisse Nichteindeutigkeit, ein Vertrauen auf das Nichtgemessene, eben Lebendige. Präzision, ZUVIEL Wissen hingegen führt uns immer nur in neue Zwänge, die unser Leben einschränken statt erweitern.
Der berühmte KI-Computer WATSON, der jeden Arzt bei der Diagnose übertreffen soll, versagte bei seinen klinischen Probeläufen so gut wie immer. Googles Seuchen-Prediktions-Programm, das den Verlauf von Grippeepidemien voraussagen sollte, wurde inzwischen vom Netz genommen. Weil Menschen Krankheiten oft imaginieren, weil Fehlinformationen und Hysterien Prognosen verfälschen. Der Körper spricht seine eigene Sprache im imaginären Feld von Körper, Geist und Seele. Im Unklaren, Nichtgemessenen verbirgt sich eigentlich das, was wir als »Gesundheit« imaginieren oder als »Krankheit« erleben.
7
Die Rache des Analogen
Der kanadische Journalist David Sax hat ein erhellendes Buch über die blühende Renaissance des Dinglichen geschrieben: In „Die Rache des Analogen” beschreibt er Comebacks, mit denen wir nicht (mehr) gerechnet hatten: Vinylplatten sind heute die Renner auf dem Musikmarkt (demnächst kommt HD-Vinyl, mit noch besserer Tonqualität).
Ur-Analoge Medientechniken wie Füllfederhalter und Notizbücher mit rauem Papier boomen. Altmodische Lichtschalter mit Klick sind ein Verkaufsschlager, obwohl jeder sein Licht über das Smartphone steuern kann. In den meisten Büros wird so viel gedruckt wie noch nie. Bibliotheken werden heute überall als Prestigeobjekte gebaut. Und plötzlich, nach dem totalen Triumph der Digital-Fotographie, gibt es wieder POLAROIDS!
Alles nur ein trotziger Nostalgiereflex? Nein, die Geschichte geht eben nicht geradeaus ins Digitale, sie krümmt sich immer wieder ins Bewährte. Der wahre Grund ist unsere Sehnsucht nach Signifikanz, die in einer digitalen Umwelt übermächtig wird. Wenn alles unendlich kopier- und verfügbar ist, wird das Einmalige, Spezifische, Anfassbare zum neuen Luxus.
Wir machen heute so viele Fotos in unserem Leben wie noch nie – mit Smartphones. Auf den Festplatten ballen sich Gigapixels von Selfies. Aber diese Zeugen unseres Leben VERSCHWINDEN einfach im ewigen Dunkel des Nichtgesehenwerdens. Man fotografiert kaum noch, um sich zu erinnern, sondern um sich einzubilden, dagewesen zu sein. Spotify und Netflix sind der Traum jedes Musik- und Film-Freaks. Aber wir alle kennen die »Spotyflix-Fatigue«: Wenn man alle Werke der Welt zur permanenten Verfügung hat, entsteht irgendwann eine innere Leere. Alles ist möglich, nichts mehr wichtig. Es herrscht Knappheit der Kontextualität.
Zudem erweist sich der digitale Raum immer wieder als unsicher und quälend störungsanfällig. Es ist ein Störungs-Raum, in dem immer neue »Patches« die alten verschlimmern. Ich schließe meine iPads und -iPhones inzwischen wieder mit Kabeln an meine Lautsprecher an – Bluetooth SUCKS. Nichtfunktionierende Ticketausdrucke, verschwundene Kreditkarten-Codes, Spam, ewige Aufforderungen, etwas für den Computer zu tun – wir alle sind die Billigarbeiter des Netzes. Jene Verlässlichkeit, die in der ständigen Ambiguität des digitalen Raums verlorengeht, suchen wir irgendwann im konkreten KLICK eines Lichtschalters, oder im Anfassen eines garantiert nicht digitalisierbaren handgebackenen Brotleibes. Nach dem Digitalen kommt Bio. Bio ist das Neue Analog.
8
Der Kategorienfehler
Vielleicht beginnt der Hype mit der »Künstlichen Intelligenz« schon im 19. Jahrhundert. Schon damals nannte man mechanische Puppen wie den schachspielenden Türken »Künstliche Menschen« oder »homunculi«. Die ersten Groß-Computer in den 6o-ern wurden im Volksmund hartnäckig »Denkmaschinen« genannt. Illustrationen zeigten Köpfe, in denen das Denken durch Zahnräder, Bolzen und Getriebe illustriert wird. Unsere innere Metaphorik ständig verwechselt ständig das Menschliche mit dem Maschinellen. Es gibt in der menschlichen Seele einen hartnäckigen Hang zum ANTHROPOMORPHING, zur Projektion menschlicher Gefühle auf Maschinen.
Wir streicheln den niedlichen Rasenroboter und geben ihm Kosenamen, oder lassen uns von nervenden Begrüssungsrobotern die Hand geben, nur weil sie Kulleraugen haben. Wir reagieren auf die »black box« des Digitalen – man weiß nie, was drinnen passiert – mit dem »Kindchen Reflex«. Das führt zur Verwechselung von Metapher und Prophezeiung. Wir glauben an das Raunen, dass uns den Roboter als zukünftigen Herrscher der Welt verkauft. So gehen wir einer infantilen Märchen-Story auf den Leim, die uns abwechselnd als Große Dystopie oder gloriose Erlösung verkauft wird.
Schon wenn man den Begriff „Künstliche Intelligenz” ausspricht, landet man mitten in dem, was Niklas Luhmann einen Kategorienfehler nannte. Als Beispiel brachte Luhmann einen Bauern, der unbedingt Pellkartoffeln anbauen möchte. Wenn wir das Wort „Künstliche Intelligenz” hören, verwechseln wir Intelligenz – das Lösen logischer Prozesse – mit Bewusstsein. Intelligenz kann effektiviert werden, Bewusstsein ist immer langsam, »umständlich«, emotional; es basiert auf ERLEBEN und ERFAHREN.
Deshalb führt jede KI-Debatte immer wieder in die Grusel-Ecke, in der irgendwann Arnold Schwarzenegger als »hyperintelligente Menschmaschine« aus der Zukunft hervorbricht. Der KI-Mythos ist ein typisches Beispiel für einen Zukunfts-Irrtum, bei dem wir unbewusste METAPHERN für echte PROPHEZEIHUNGEN halten. HOMO DEUS heisst nicht umsonst der neue Weltbestseller von Yuvel Harari. Was drinsteht, ist nicht so ganz klar – ur dass wir irgendwie zu Göttern werden, und das das schrecklich und hervorragend zugleich ist.
Im KI-unterstellen wir Computern die Macht, Probleme zu lösen, die unlösbar erscheinen. KI regelt demnächst unsere Verkehrsströme in den überfüllten Städten, so dass keine Staus und keine Unfälle mehr passieren (Wirklich? Studien zeigen, dass automatisch fahrende Autos eher NOCH MEHR Verkehr auf die Straße bringen…).
Laut Mark Zuckerberg kann durch KI in einer Generation alle Krankheiten „heilen, vermeiden und managen”. Womöglich löst KI sogar die Krise der Demokratie. Und das ewige Dilemma der Partnerwahl wird durch KI im Sinne des »richtigen Matches« erledigt. Etwas in uns sehnt sich wohl nach dieser Selbstaufgabe, in der wir alles Schwierige, weil Menschliche, auf Maschinen übertragen können. Zudem benötigt die Computerindustrie nach zwanzig Jahren dringend eine next big story – KI ist das Kaninchen, das eine Branche am Rande der Erschöpfung aus dem Hut hervorzieht.
Längst ist das Wort von der »Schwarmintelligenz« wieder aus der öffentlichen Sprache verschwunden. Es handelt sich, wie wir gesehen haben, meistens um Schwarmdummheit. Ebenso könnte es der heroisch aufgeladenen Metapher KÜNSTLICHE INTELLIGENZ gehen. Eine texanische Lokalzeitung postete unlängst die amerikanische Unabhängigkeitserklärung auf Facebook. Der Beitrag wurde gelöscht. In einer Stelle über „gnadenlose Indianer-Wilde” erkannte die Facebook-KI eine Hassrede. Klar, KI wird demnächst auch DIESEN Kontext erkennen. Sie ist ja intelligent. Aber dass ihr wahrer Fehler daraus besteht, dass sie eben keine Fehler machen kann, und deshalb auch keine echten Probleme löst, auf diese Idee muss man erst mal kommen.
9
Die nächste Welle
Hat also das Internet, das Digitale, unser Leben verbessert? Eher Nein. Das Netz hat jenseits seiner unbestreitbaren Verbindungsvorteile jede Menge Verunsicherungen in unser Leben gebracht – eine Drift des Lebens ins Unsichere, Bedrohliche, Hysterische. Das heutige Netz ist ein »schiefer« Marktplatz menschlicher Kommunikationen, in der die unsere negativsten Eigenschaften getriggert werden. Das anzunehmen und auszusprechen ist der erste Schritt der »Digitalen Revision«, die jetzt vor uns liegt.
Viele folgen inzwischen der zynischen Annahme, gegen die Übermacht der Digitalisierung sei anyway kein Kraut gewachsen. Dieser Digital-Fatalismus ist das Gegenstück zum digitalen Fanatismus.
Digitaler Realismus hingegen versteht, dass sich die menschlichen/technischen Systeme in einer immerwährenden Co-Evolution befinden. Jede neue Technologie, jedes neue Medium, erzeugt zu Beginn einen Deutungs- und Sinnüberschuss (Dirk Baecker in seinem Buch „4.0 oder die Lücke, die der Rechner lässt”). Das Buch, das Radio, das Fernsehen – all das brachte zunächst neue Exzesse des Gesellschaftlichen mit sich. Technologie verändert den Menschen. Aber gerade das Beispiel Internet zeigt, wie das Menschliche auch ein Medium überformen kann. All das, was wir heute im Netz verstärkt erleben – Hass, Gier, Negativität, Oberflächlichkeit – ist ja Ausdruck genuin menschlicher Gefühle. Das Netz schafft es nicht, »objektiv« zu sein. In der heutigen Krise des Netzes zeigt sich in Wahrheit die Stärke der menschlichen Kondition im Verhältnis zur Technik.
Irgendwann schlossen die Saloons im Wilden Westen, in denen das Gesetz des größten Gewehrs galt, und ein komplexeres gesellschaftliches Regelsystem gewann die Oberhand. Zukunft entsteht aus Selbst-Regulationen, die erst ein Scheitern benötigen, um sich durchsetzen zu können.
Postdigitalität heißt nicht das Ende digitaler Nutzungen, sondern das Ende des Totalitäts-Anspruch der Digitalität. Digitale System können vieles leisten – Mobilitätskonzepte in entsiedelten Regionen, die Berechnung gesunder Lebenszeit für neue Versicherungskonzepte, die optimierte Steuerung von existierenden Verkehrsströmen. Aber kein noch so »schlaues« KI-System wird die Überfüllung von Städten mit Autos »lösen« können. Das erfordert Entscheidungen menschlicher Art – Entscheidungen, die mit Werten und Proritäten jenseits von Optimierung zu tun haben.
Postdigitalität heißt, dass wir uns vom Mythos der bedingungslosen Disruption verabschieden. Es gilt, in Zukunft wieder zwischen »besser« und »richtig« differenzieren zu lernen – zwischen »Innovationismus« und echtem Fortschritt. Die Propaganda des Digitalismus handelt ja davon, dass „unser aller Leben ständig verbessert werden muss”. Wirklich? Wenn in jeder Küche ein Koch-Roboter steht, macht das sinnliche Kochen keinen Spass mehr. Wenn alle Daten öffentlich sind, verlieren wir als Individuen unsere Würde. Wenn wir in vollautomatischen Häusern leben, die sich perfekt selbst steuern, verlieren wir lebenswichtige Bezüge zur Welt.
Postdigitalität heisst also kluge ALLOKATION des Digitalen. Vor allem das Ökologische und Nachhaltige, das Poetische und Artistische bietet sich hier an. »Big Data« kann helfen, wenn es um standardisierbare Prozesse der Diagnose von Krankheiten geht. Big Data mag ein goldener Pfad in der molekularen Krebsforschung sein. Aber nichts ersetzt einen einfühlenden Arzt. Weil HEILUNG immer auf menschlicher Beziehung beruht – wer aus der sozialen Welt herausfällt, wird nicht mehr gesund.
In der Bildung wirkt Digitalisierung meistens negativ, weil die Rolle des »lernenden Lehrers« unabdingbar ist. Pflegeroboter sind eine grausame Phantasie, weil wir gerade dann, wenn wir schwach sind, menschliche Gegenwart brauchen. Sexroboter sind eine schreckliche Absage an die Erotik, die nicht dadurch besser wird, dass wir fasziniert darauf starren.
Postdigitalität bedeutet das Erlernen neuer KULTUR- und SOZIOTECHNIKEN. In dieser digitalen Emanzipation geht es um Selbstwirksamkeit und Medienkompetenz. Das meint DIGITALE ACHTSAMKEIT oder OMLINE-SEIN: Verbunden, aber nicht gefangen, vernetzt, aber nicht permanent verstrickt zu sein, »fake news« als Aggression zu verstehen und mit eigenen Realitäts-Konstruktionen zu begegnen. Das fängt bei der Fähigkeit, sein Smartphone auszuschalten, erst an. Das Netz zwingt uns auf eine höhere Ebene geistig-mentaler Integration; es ist der Reiz, der uns zu höherem Bewusstsein zwingt.
Postdigitalität heisst zu verstehen, dass der digitale EFFIZIENZ-WAHN in eine Sackgasse führt. Viele Unternehmen nutzen Digitalismus als Ersatzdroge echte Sinnfragen. Man träumt davon, eine ökonomische Kampfmaschine zu werden. Man hält sich Kunden vom Leib, indem man alle Funktionen automatisiert. Solche Firmen verlieren ihre Seele und zerstören sich selbst. Nach den Entropiegesetzen kann Komplexität – jedes Unternehmen ist letztendes ein komplexer Organismus – nur existieren, wenn Effizienz durch Effektivität, sprich lebendige Beziehungen, ausbalanciert wird.
Postdigitalität heisst ein aktive Rolle des Menschlichen im technologischen Entwicklungs-Prozess. Dazu gehört ein neuer Begriff von »Smart«, der die humane Dimension konsequent in den Designprozess von Hardware und Algorithmen integriert. Steve Jobs trat einst mit dem Versprechen an, menschengrechte Computer zu bauen – und nicht computergerechte Menschen zu erzwingen. Algorithmen sind nicht unschuldig und Künstliche Intelligenz ist nur künstliche Dummheit, wenn sie nicht im Sinne der richtigen Fragen (statt der falschen Antworten) entwickelt wird.
Um das Digitale zu erlösen, müssen wir es lieben. Das Internet ist wie ein Spiegel, in dem wir uns selbst erkennen können – und müssen. Und das wollen heute die Pioniere der neuen digitalen Emanzipation (siehe nächste Seiten). Postdigitalität handelt vom humanen Nettogewinn, der entsteht, wenn wir das Informelle wieder klug mit dem Kognitiven, das Kommunikative mit dem Reflektiven, das Systemische mit dem Sinnlichen verbinden. Hier hat Yuval Noah Harari recht, als er in einem BBC-Interview sagte: Die beste Weg, zu vermeiden, dass Algorithmen uns entmündigen (weil sie uns besser kennen als wir uns selbst) ist, uns selbst besser zu verstehen als jeder Algorithmus.
Täuscht der Eindruck – oder wird dieses Jahr tatsächlich wieder mehr gelesen? Auf Papier, schwarz auf weiß, ganz altmodisch, mit Umblättern und Seiten einknicken und dem leicht modrigen oder seifigen Geruch von Papier?
Es stimmt schon: Die Zahl der regelmäßigen Buchleser ist zurückgegangen. Einige gesellschaftliche Gruppen lesen überhaupt nicht mehr – aber ist das wirklich neu? Nach den letzten Zahlen der Buch-Branche ist die Anzahl der Neuerscheinungen im deutschsprachigen Markt in den letzten zehn Jahren um weniger als 10 Prozent gesunken – alle digitalen Prognosen haben einen kompletten Zusammenbruch des analogen Marktes vorausgesagt. Diejenigen, die analog lesen, lesen eher NOCH mehr. Gleichzeitig stagnieren die Absätze bei Readern und E-Books schon seit Jahren.
Das Papier-Lesen ist eine Kulturtechnik, die nie wirklich aussterben wird. „Eine neue Kommunikationsform verdrängt eine alte nicht, sondern führt diese auf ihre eigentliche Stärke zurück.“, so formulierte es schon im Jahr 1909 der Historiker Wolfgang Riepl. Lesen erlebt gerade deshalb immer wieder eine Renaissance, WEIL die elektronischen Medien eine solche gewaltige Übermacht gewonnen haben. Das tägliche Bombardement von Clips und Bits und Bytes, die fast totale Herrschaft von rasenden Bilderwelten, lässt in unseren Hirnen irgendwann nur noch graues Flimmern übrig.
Beim Buchlesen funktioniert das Hirn völlig anders als im Erregungsmodus des Audiovisuellen. Lesen erzwingt Differenzierungen, mentale Arbeit, aktive Übersetzung. Wenn wir lesen, werden geschriebene Worte in Neuronenverschaltungen übersetzt, die Bilder und Töne, Gedanken, Reflexionen, sogar Gerüche enthalten. Jeder liest ein Buch anders, er »produziert« es gewissermaßen im Kopf. Deshalb ist Buchlesen ein Akt von Autonomie. Das ist viel anstrengender als das passive Konsumieren, und deshalb starren wir immer wieder lieber auf einen Bildschirm, dessen flackernden Zeichen wir aber im Grunde nicht vertrauen. Was gedruckt ist, hat am Ende mehr mentales Gewicht. Es ist aber auf Dauer auch befriedigender. Weil tatsächlich etwas in unserem MIND passiert. Etwas, das uns VERÄNDERT, statt uns zu überwältigen.
Meine Söhne, Digital Natives der zweiten Generation (ich selbst gehöre zur ersten, die noch zweigeistig funktioniert(e): (Analog und Digital parallel nebeneinander), sind heute begeisterte BuchHÖRER. Vielleicht liegt es auch daran, dass wir Eltern ihnen als Kinder eine Menge vorgelesen haben.
Bill Gates hat in diesem Jahr wieder eine Buchliste veröffentlicht. Das scheint ein Trend zu sein – immer mehr Bekannte. Freunde und Prominente sprechen Lese-Empfehlungen aus. Hier ist meine für einen irre langen Sommer:
Hans Rosling: Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist
Ullstein 2018
Ich bin sehr glücklich, dass Hans Roslings Buch ein Jahr nach seinem Tod auch in Deutschland auf der Beststellerliste gelandet ist. Es handelt sich um seinen geistigen Nachlass, fertiggestellt von Ole und Anna Rosling. Neben den Fakten über die allmählich bessere Welt, die immer noch die Apokalypsegläubigen und Doomsayer erschrecken, ist eine kognitionspsychologische Analyse über unsere negativistischen Weltmodelle: Warum beschreiben wir die Welt wir immer vom Scheitern, vom Untergang her?
Bernhard Pörksen: Die Große Gereitzheit – Wege aus der kollektiven Erregung
Hanser Verlag, 2018
Der Medienwissenschafter hat vielleicht das klarste Buch über den medialen Erregungswahn geschrieben. Normalerweise ist es ja nicht sehr ergiebig, die grassierenden Angst-Hysterien zu analysieren, weil man das Phänomen mental nur verdoppelt. Aber wie Pörksen sprachlich elegant unser digitalhysterisches Zeitalter beschreibt – das hat schon poetisch-heilende Wirkung. Zitat: „Es ist womöglich wenig geschehen und doch unendlich viel passiert. Alles was geschieht, was das Nervenkostüm anderer Menschen an irgendeinem Ort der Welt erreicht, bewegt, verstört, ängstigt, vermag auch uns zu erreichen und zu verstören. Es ist eine Zeit der Empörungskybernetik, in der miteinander verschlungene, sich wechselseitig befeuernde Impulse einen Zustand der Dauerirritation erzeugen.“
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’3446258442′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’426255e2-7160-11e8-92cf-95cf4d2ded49′]
Robert Sapolsky: Gewalt und Mitgefühl – Die Biologie des menschlichen Verhaltens
Hanser Verlag, 2017
Robert Sapolsky ist ein ganz außergewöhnliches Multitalent, ein Universalist der höchsten Stufe: Anthropologist, Hirnforscher, Evolutions-Spezialist und so vieles mehr. Er beantwortet eine einzige Frage in diesem riesigen Schinken, die im Grunde die Frage aller Fragen ist: WIE IST DER MENSCH? Die englische Ausgabe heißt einfach BEHAVE – Verhalten. Seine Antwort: der Mensch ist ein von Mitgefühl geprägter Kooperateur, der im Kooperieren aber auch immer seine gefährlichen Züge entwickelt. Gewalt entsteht nicht im Versagen, sondern in der ÜBERSTEIGERUNG von Empathie. Wer dieses Buch liest, wird humanistischer Realist.
Erhätlich bei: [amazon_link asins=’3446256725′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’3e5675dd-7161-11e8-804e-fb07b9c96f2e‘]
Jordan P. Peterson: 12 Rules for Life – Ordnung und Struktur in einer chaotischen Welt
Deutsche Ausgabe erscheint im Goldmann Verlag, Oktober 2018
Einige halten den Psychologen und Psychiater für einen Trump-Fan, andere für einen reaktionären Chauvinisten: Petersons Riesenerfolg in den USA entstammt aus der politically-correct-Debatte, in der er selbst zum Skandal wurde. Sein »Regelbuch« gilt als Bibel für eine neue Generation junger Männer, die sich von der Feminisierung abgrenzen wollen. Aber all das sind Klischees. Petersons 12 Lebensregeln sind nicht einfach nur How-to-be-happy-Anweisungen. Sie handeln von innerer Würde und Lebendigkeit, von der Akzeptanz des Leidens und der Überwindung des Jammerns, von Authentizität und Selbstehrlichkeit. Dass Peterson dazu auffordert, sich aufrecht mit Autorität und sozialer Differenz auseinander zu setzen, statt sie zu negieren, macht das Buch für mich, der als Antiautoritärer geprägt ist, spannend. Wir brauchen eine nicht-naive Philosophie im 21. Jahrhundert, die uns helfen kann, all den Regressionen und Infantilisierungen zu ent-wachsen, also wirklich erwachsen zu werden.
Erhältlich bei: [amazon_link asins=’B07DFH8F7Y‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’f188a244-7161-11e8-8bfb-cf8073e7d4bb‘]
Cixin Liu: Die Trisolaris-Trilogie
(Die drei Sonnen, Der dunkle Wald, Jenseits der Zeit)
Heyne Verlag, 2016-2019
Was ist eigentlich aus der guten, alten Science-Fiction geworden? Ich bin aufgewachsen in der Zeit der wuchtigen Zukunftsromane, viele meine Jugendjahre verbrachte ich in anderen Sonnensystemen und mit tausend intergalaktischen Rassen. Arthur C. Clarke, Stanislaw Lem, Ursula K. Leguin, John Brunner, Heinlein, später Gibson und Baxter…. Dann kam lange nichts.
Doch jetzt gibt es wieder eine neue Welle der kosmologischen Literatur. Pünktlich zum 50-Jahre-Jubiläum der Mondlandung und Kubricks »2001-Odysse im Weltraum«-Opus. Und wie kann es anders sein: Aus China! Cixin Liu ist der neue Stern am SciFi-Himmel. Er hat DEN 2000-Seiten-Schinken für den Strandsommer geschrieben. Wie bei Kubrick/Clake in „2001“ geht es wieder um die Erstbegegnung mit einer außerirdischen Zivilisation, diesmal ist aber alles viel tragischer und weniger kitschig. Der Roman beginnt in der chinesischen Kulturrevolution und zieht sich bis ist Dritte Jahrtausend. Einziger Einwand: Die Charaktere sind in der chinesischen Schreibart eben doch nicht so individuell und differenziert, wie man es sich erhofft. Dafür ist der Plot von erhabener Raffinesse. Mehr wird nicht verraten… Ist das nur für Männer und ewige Space-Jungs? Mal sehen. In den Hauptrollen finden sich endlich ein paar starke Frauen.
Band 1 erhältlich bei: [amazon_link asins=’3453317165′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’aaadf149-7162-11e8-9491-c946411ab102′]
Band 2 erhältlich bei: [amazon_link asins=’3453317653′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’bc5f5cd4-7162-11e8-8509-61ac8a3aaa4d‘]
Band 3 erhältlich bei: [amazon_link asins=’B07C3W527W‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’c92a3418-7162-11e8-8d54-25784b6b0e7e‘]
VISION ist das Zentral-Thema des diesjährigen FUTURE DAY am 7. Juni. Hier einige Überlegungen zu diesem schillernden Begriff:
Das berühmte Helmut-Schmidt-Bonmot „Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen!“ ist ein geflügeltes Wort geworden, das mal ironisch, mal affirmativ gebraucht wird. Wie ist das also? Sind Visionen überflüssig, weil sie uns nur von einer nüchternen Weltbetrachtung abhalten? Oder brauchen wir einen Arzt, wenn wir keine haben?
Der marxistische Zyniker Slavoj Žižek behauptet, dass wir zum ersten Mal in einem Zeitalter leben, in dem es keine Utopien mehr gibt. Seine »Vision« ist, dass dieser bedauerliche Zustand durch Aufstände der Sinnlosigkeit beenden wird – der verzweifelte Mob zerstört die Machtverhältnisse und bringt die Anarchie; daraus wird sich dann schon etwas Utopischer ergeben. Der schwedische Multikünstler Alexander Bard formulierte hingegen: Wir leben in einem hyperzynischen Zeitalter. Wir nehmen unsere Wünsche, Hoffnungen, Träume nicht mehr ernst. FORTSCHRITT zum Beispiel – haben wir in den letzten Jahren diesen Begriff einmal ohne innere Distanzierung und tiefen Skeptizismus gehört? Was aber passiert, wenn wir afuturistisch werden, also aufhören, an eine bessere Zukunft zu glauben? Können Menschen, Gesellschaften, Individuen, ohne die Vision einer besseren Welt auskommen?
Das Visionswesen Mensch
Um die Bedeutung von Visionen zu verstehen, müssen wir uns zunächst mit der seltsamen Disziplin die NEUROFUTURISTIK beschäftigen: Was bedeuten Zukunfts-Bilder und Zukunfts-Konstruktionen für das menschliche Sein, welche mentalen Auswirkungen haben sie? Und wie beeinflussen sie über Schleifen-Effekte wiederum die Zukunft selbst (der self-fulfilling-prophecy-Effekt).
Unser Hirn ist, entgegen heute weit verbreiteter Künstliche-Intelligenz-Alliterationen, keine »Denkmaschine«, die die Wirklichkeit nur abbildet und »prozessiert«. Unser Hirn verfügt über sehr seltsame emergente Fähigkeiten, die das lineare Konzept einer Maschine verlässt. Wir TRÄUMEN. Wir produzieren GEFÜHLE. Unser Hirn, in enger Zusammenarbeit mit dem Körper, ist eine chemische Fabrik, die unentwegt Botenstoffe, Hormone, Erregungen ausschüttet; es ist »juicy«, lebendig in jeder Hinsicht, jedenfalls wenn wir uns mitten IM LEBEN befinden.
Unser Hirn ist von der Evolution nicht zufällig als eine Art Visions-Generator geformt worden: Ständig stellen wir uns vor, wie es werden könnte, was uns droht. Antizipation hilft uns, uns zu orientieren, sie kann aber auch quälend werden. Wenn wir zum Zahnarzt gehen, stellen wir uns schon tagelang vorher das Geräusch des Bohrers vor, was den Event nicht schmerzloser macht. Dadurch verbrauchen wir nutzlos Energie. Wenn wir einen Menschen lieben, baut unser Hirn ständig Szenen und Szenarien, in dem dieser Mensch die Hauptrolle spielt.
Diese ständige Vorausschau hat einen tief evolutionären Grund. Wir sind Zukunfts-Wesen, weil wir als äußerst fragile Spezies – unsere Kinder brauchen Jahre, wenn nicht Jahrzehnte, um auf eigenen Beinen zu stehen – in besonderer Weise VORSORGE treffen müssen. Anders als die meisten Tiere reagieren wir nicht nur mit Instinkten und »Skripts« auf unsere Umwelt. Sondern mit Projektionen. Visionen haben dabei die Funktion, uns dorthin zu leiten, wo die Lage für uns und unsere Nachkommen besser ist.
Um diese Funktion aktiv zu halten, hat die Natur so etwas wie mentale Trigger entwickelt, die uns daran hindern sollen, in einen kaloriengetränkten Stupor zu versinken, wenn die Lage für uns und unsere Nachkommen gerade günstig erscheint (allerdings ist diese Funktion, wie wir sehen können, nicht 100 Prozent zuverlässig). Dopamin ist jene körpereigene Droge, die uns für Visions-Anstrengungen belohnt. Jedes Mal, wenn wir Ziele erreicht haben, die wir uns vorgestellt und selbst gesetzt haben, schüttet unser dopaminerges System Euphorie Gefühle aus.
Dopamin ist nicht nur irgendeine Substanz, irgendein Hormon. Es Lebens-Elixier. Es bestimmt unsere Stimmungen. Es hält uns wach und vital. Für das Dopamin laufen Marathonläufer, malen Künstler, quälen wir unsere Muskeln in Fitness-Stadien oder rufen Politiker neue Zeitalter aus. Man kann Dopamin vorübergehend austricksen, mit Alkohol oder Heroin oder einigen Neurotransmittern. Aber wirklich ersetzen kann man es nicht. Ohne Dopamin – und das die Aufnahmefähigkeit garantierende Serotonin – werden wir depressiv. Dopamin-Verlust bedeutet, dass wir aus dem Spannungsverhältnis zwischen Gegenwart und Zukunft aussteigen. Nichts bedeutet mehr etwas. Hoffnung verschwindet. Das aber ist der Kern der humanen Existenz.
Wenn das Perspektivische fehlt, richtet sich unsere innere Aufmerksamkeit immer nur auf den Mangel, den wir empfinden. Dann geraten wir in Problem-Trance. Wir alle kennen Menschen, die in Verbitterung leben, und für die das Leben ein einziges Problem geworden ist. In einer hypermedialen Welt werden solche Effekte in Form hysterischer Epidemien, übertriebener Ängste und einem Hang zu Verschwörungstheorien verstärkt. Soziale Medien etwa erzeugen ständige Ausschüttungen von Dopamin, die auf Bindungs- und Beziehungsillusionen zielen. Was unvermeidlich zu schrecklichen Ent-täuschungen führt.
Visionen schneiden ein Fenster in den mentalen Realitäts-Bunker, in dem wir gefangen sind. Sie geben unserem SEIN eine Perspektive, die uns von unserer existentiellen Traurigkeit erlösen kann. Aber WIE müssen Visionen beschaffen sein, damit sie diese Vitalität leisten können?
Utopien, Visionen, Prophezeiungen
Stellen wir uns vor, wir wären Bewohner eines Raumes, den wir von innen betrachten und mit unserem MIND ausloten. In diesem Raum geht es tatsächlich nicht mit rechten Dingen zu. Denn die Idee von »Wirklichkeit« ist auch nur eine Fiktion. Im riesigen Möglichkeits-Raum konstruieren wir einen kleineren Bereich, den wir als unseren Erlebens- oder Wirkungsraum definieren. Darin befindet sich alles, was unmittelbar Auswirkung auf uns zu haben scheint.
Im unmittelbaren Wirkungsraum kursieren Aussagen über die Zukunft, die sich grob in VORAUSSAGEN und VORHERSAGEN aufteilen lassen (Predictions und Forecasts). Der Unterschied scheint gering, ist aber wichtig: VorRAUSsagen nehmen bestimmte mögliche oder wahrscheinliche ZUSTÄNDE vorweg, sie erzeugen ein Narrativ, sie lassen sich als Ereignis erzählen. VorHERsagen hingegen beschreiben einen unscharfen Prozess, sie handeln von »Trends«, die nicht unbedingt zu einem fixierten End-Zustand führen müssen.
Unser Hirn hat aber nun die Eigenschaft, diesen Raum AUSDEHNEN zu wollen. Es differenziert in erwünschte und ersehnte Zustände, und konstruiert daraus bestimmte Zukunfts-Narrative mächtiger Art.
UTOPIEN sind Imaginationen eines Idealzustands. Sie basieren immer auf einer REDUKTION, in der die Zukunft auf ein zentrales Lösungs-PRINZIP reduziert wird. Sie sind deshalb so faszinierend und lukrativ, weil sich mit ihnen die verwirrende Widersprüchlichkeit des Seins aufheben lässt. Utopien handeln von ENDGÜLTIGEN Wahrheiten. Sie zapfen Dopamin längst VOR ihrer Verwirklichung. Deshalb haben »Jünger« von Utopien, religiösen wie weltlichen, immer diesen irren, starren Blick. Sie sind von der Vorstellung eines Ideals gedopt (und deshalb können Revolutionäre und Revolutionärinnen ziemlich sexy sein). Weil sie eine radikale, dopaminbringende Veränderung verheißen).
Utopien müssen jedoch immer scheitern. Schon aufgrund ihrer eingebauten Enttäuschungslogik. Wir erinnern uns: Das Hirn lebt in seiner Dopamin-Ausschüttung aus der Spannung zwischen Jetzt und Dann (oder Sein und Sollen). Sobald wir einen erwünschten Idealzustand erreichen, oder uns ihm auch nur nähern, schaltet unser Hirn auf einen anderen Modus. Es sieht plötzlich die neu entstehenden Defizite. Sofort wird aus einer Utopie eine Dystopie. Wenn sich der Möglichkeitsraum in einen Wirklichkeitsraum verwandelt, verschwindet jene kreative Dissonanz, die uns mental nach vorne treibt. Deshalb grassieren Depressionen nirgendwo so schrecklich wie in verwirklichten Utopien, wie etwa im Kommunismus oder einem Marktsystem, in dem der Einzelne auch noch für seine Einsamkeit verantwortlich ist.
Viele kluge Denker haben diesen fatalen Aspekt der Utopie verstanden. Karl Popper und Hannah Arendt widmeten ihr Lebenswerk der Tragik des Utopischen. Campanellas SONNENSTAAT oder Thomas Morus »Utopia« – der Ort, der zugleich ein Nicht-Ort ist – wurden von ihren Autoren als Allegorien, nicht als Gebrauchsanweisungen geschrieben. Marx war nie ein Utopist, das Drama beginnt immer nur da, wo er von seinen Jüngern dafürgehalten wird. Utopien verunmöglichen auf dem Wege ihrer Verwirklichung tatsächlich Wandel, sie zerstören das evolutionäre Element, weil sie alles Störende zu eliminieren trachten. Leben, Gesellschaft, Geist, auch BUSINESS, ist aber nichts anderes als das vitale Resultat von Störungen.
Schon 500 vor Christus formulierte der griechische Denker Telecides eine Welt, in der „nichts Angstvolles mehr erscheint, keine Krankheiten existieren… Wenn etwas gewünscht wird, erscheint es sofort.” In der Mangelgesellschaft der frühen Aufklärung entstand die Vision des Schlaraffenlandes, die dann vom kommunistischen Utopismus übernommen wurde. Heute erreichen die Digitalen Phantasien ähnlich utopisch-dystopische Dimensionen: Demnächst sollen uns die Computer auch das Denken, das Kommunizieren und das Lieben abnehmen, damit wir es RICHTIG komfortabel haben!
Eine Variante der Utopie, mit einem ähnlichen transzendenten versprechen, ist die PROPHEZEIUNG. Im Unterschied zur Utopie handelt es sich dabei weniger um die Vorstellung eines Zustandes als um einen Kommunikationsakt. Der Prophet richtet sich direkt an den Existenzkern dessen, der ihm folgen soll. Dabei geht es um direkte emotionale Übertragung, um Be-Ziehung in einer extremen Form.
Der Prophet ist eine archetypische Figur, die dem tiefen Erlösungswunsch von uns Menschen entspringt. Dabei geht es im Kern wieder um Gefahren-Vermeidung. Niemand ist so beliebt wie der Prophet, der uns vor dem Abgrund retten will. Und je drastischer und blumiger er den Abgrund beschreibt, desto mehr fühlen wir uns hingezogen. Propheten können in die Freiheit führen, wie Moses sein Volk Israel, aber sie neigen sofort dazu, ein eigenes REGIME aufzubauen. Der Prophet spielt mit der Selbstlosigkeit, ist aber immer korrumpierbar durch die Macht, die ihm seine Jünger geben. Als vor dreißig Jahren viele Deutsche zu BAGHWAN gingen, dem Propheten der indischen Freizügigkeit, gerieten sie sogleich in eine sektenhafte Dystopie.
Auch die Politik neigt immer wieder zum Prophetischen – trotz oder gerade aller Nüchternheit, die die Demokratie mit sich gebracht hat. Propheten sind Erlöser von überschüssiger Komplexität, und als solche neigen sie dazu, die Welt in Gut und Böse zu spalten. Der Prophet lebt von der Vermutung, dass „alles immer schlechter” wird. Der phönixhafte Aufstieg, den er verspricht, benötigt die Asche des Alten. Deshalb sind Propheten große Zerstörer, aber schlechte Konstrukteure.
„Unterschätzen wir nicht die Kraft der Visionen und DIREKTIONEN. Dies sind unwiderstehbare Kräfte, die fähig sind, scheinbar unüberwindliche Widerstände zu überwinden in begehbare Wege und erweiterte Möglichkeiten zu verwandeln. Sie stärken das Individuum. Die beginnen bei einem selbst. Definiere, wer Du bist. Re-Definiere deine Persönlichkeit. Wähle Dein Ziel, indem Du dein SEIN artikulierst. Wie Nietzsche sagte: Wer ein Warum kennt, kann jedes Wie ertragen.”
Jordan B. Peterson, 12 Rules for life.
Mission versus Sinn
Um die Funktion echter Visionen – im Unterschied zu Utopien und Prophezeiungen – zu verstehen, lohnt es sich, das Phänomen auf dem Feld des »Business« zu beobachten. Hier lässt sich eine zentrale Unterscheidung in der Differenz zwischen MISSION und PURPOSE eines Unternehmens erkennen. »Purpose« habe ich bewusst im Englischen gelassen, denn die deutschen Wörter „Zweck, Ziel, Bestimmung” drücken nicht treffend aus, worum es geht (Auch »Daseinsziel« klingt nur fürchterlich steif). Ein »Purpose« ist eher ein »Sinn«, der vom Handeln her denkt und fühlt. Eine Aufgabe, die einen (selbst-)transzendierenden Aspekt beinhaltet.
Die MISSION eines Unternehmens wird meistens auf Aktionärsversammlungen vorgetragen oder vom CEO gegenüber den Medien vertreten. Sie handelt von dem, was das Unternehmen im Markt WILL. Es geht um den eigenen Bedeutungs-Anspruch. Im Kern steckt meistens ein WACHSTUMSZIEL: Wir WERDEN den Umsatz verdoppeln, wir MÜSSEN die Marge erhöhen! Missionen entstehen aus Kampagnendenken, und sie vertreten eine Siegerlogik.
»Purpose« – ist hingegen die Erweiterung des inneren Zweckes, des GESCHÄFTSFELDES durch eine höhere Sinn-Dimension. Es geht um das, was Unternehmen tatsächlich in Richtung Zukunft »Er-lösen«, möchten, nicht nur VERDIENEN. Simon Sinek hat den Unterschied mit seiner simplen Golden-Circle-Regel auf den Punkt gebracht. In der Mission geht es um das WIE und das WAS, im »Purpose« geht es um das WARUM.
Während die Mission dem SHAREHOLDER VALUE dient, also dem Eigeninteresse der Organisation selbst, wächst die VISION entlang der lebendigen BEZIEHUNGEN des Unternehmens.
Zu den Stakeholdern
Den Mitarbeitern
Der Umwelt
Der Gesellschaft
Zur Technologie im Sinne eines HUMANEN Zugangs.
„Purpose guides you, Mission DRIVES you”: Missionen kommen oft mit einer militärischen Logik einher. Spiel, Satz, Sieg. Visionen hingehen erzeugen eine Oszillation, die das Unternehmen UND seine Umwelt in Schwingung versetzen. Sie erzeugen eine Aura, eine Faszination, die das Unternehmen jenseits des Geldlichen faszinierend macht.
Mark Zuckerberg ist der klassische MISSIONAR: „Meine erste Priorität war immer unsere soziale Mission, Menschen zu verbinden” – in diesem Satz zeigt sich eine Mission, die sich als Vision tarnt, aber nie eine war.
Steve Jobs hatte hingegen immer die klare Vision „Technologie in Schönheit und Einfachheit für alle Menschen zu schaffen”. Ob er das erreicht hat, darüber mag man streiten. Wenig Zweifel besteht aber an der Authentizität und Tiefe seiner Vision. Denn Jobs riskierte für seine VISION sämtliche MISSIONEN des Unternehmens Apple.
MISSIONEN tarnen sich oft als Visionen, aber der Unterschied wird deutlich, wenn man genauer hin spürt. Man denke an die Claims der Deutschen Bank vor der Bankenkrise „Die deutsche Weltbank mit deutschen Wurzeln”, die „Gewinnerin im Kampf um die Globalisierung”. Wenn als Visionen getarnte Missionen zusammenbrechen, erzeugt dies einen Vertrauensbruch, die die Existenz von Firmen gefährden kann. Dann ist Neubeginn schwierig. Wenn die Energieindustrie jahrelang von „sicherer und sauberer Energie” sprach, meinte sie eher die bequeme Art, ihr Monopol zu verteidigen. Die Autoindustrie veranstaltet einen Mobilitätskongress nach dem anderen, ist in Wahrheit aber nur mäßig an Mobilität interessiert. Sondern eher daran, möglichst viele Modelle mit Verbrennungsmaschinen zu verkaufen. Der Dieselskandal ist Resultat dieses Selbst- und Fremdbetrugs.
Missionen haben einen selbsthypnotischen Effekt auf das Innere eines Unternehmens. Sie erzeugen verzerrte Wahrnehmungen, Illusionen von Größe und Überlegenheit. MISSION COMPLETED – so das Banner des Kriegsherrn Georg W. Bush auf dem Flugzeugträger im Jahr 2003, ein halbes Jahr nach dem Beginn des Irak-Krieges.
Damals fing die Misere im Nahen Osten richtig an.
Visionen erinnern uns daran, dass eine bessere Zukunft nicht entsteht, indem wir der Welt unseren Willen aufzwingen. Sondern indem wir uns ihr AN-VERWANDELN. Und gerade dadurch ECHTEN Wandel erzeugen!
Visionen sind Beziehungsarbeit mit der Zukunft !
Gute Visionen haben immer eine Art von Leichtigkeit. Sie gehen mit der Zukunft SPIELERISCH um.
Gute Visionen sind nie völlig präzise. Sie bilden einen RAHMEN der Orientierung. Sie ÖFFNEN etwas, statt es utopisch zu verschließen.
Gute Visionen verbinden die Gegenwart mit der Zukunft, indem sie EMERGENTE Kräfte im Heute benennen, die uns auf das Kommende hinweisen.
Gute Visionen erlauben uns, die Welt nicht in den Kategorien von PROBLEMEN zu sehen, sondern in LÖSUNGEN zu denken. Zu Lösungen gehört auch die Geduld. Der Weg entsteht beim Gehen, wenn wir wach bleiben!
Gute Visionen machen Wandel nicht einfach, aber leichter. Sie nutzen das Staunen als Energiequelle.
Gute Visionen lösen etwas in mehreren Dimensionen gleichzeitig: ökonomisch, ökologisch, mental, operativ…
Gute Vision nutzt die Zukunft als Spiegel, in dem wir uns selbst besser erkennen können. Sie fordert uns zur Selbstverwandlung und innerem Wachstum auf, ohne uns zu bevormunden.
Gute Visionen erzeugen schließlich eine Art Ehrfurcht. Ehrfurcht – im englischen AWE – ist das Gefühl, das entsteht, wenn wir mit den transzendenten Dimensionen des Lebens konfrontiert sind. Gute Visionen verbinden uns mit der kommenden Komplexität, in der alte Widersprüche erlöst werden.
WAHRE VISIONEN:
Finden das Gross-artige in kleinen Schritten.
Stellen die Fragen nach dem Sinn von der Zukunft her.
INTEGRIEREN den MIND mit dem TUN.
Überwinden ANGST durch Verbindung.
Die Zukunft ist kein Ort, zu dem wir gehen.
sondern eine IDEE in unserem heutigen Bewusstsein.
Etwas, das wir erschaffen
Und das uns dabei verwandelt.
Der Psychologe Stephen Grosz
dieses Manifest versucht, die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ von der Warte des Humanistischen Futurismus aus zu betrachten. Also ohne Hysterie und Hype. Der Text ist „Work in Progress“ und soll demnächst veröffentlicht werden. Ich würde mich über Ihre direkte Reaktion mit Einwänden / Vorschlägen / Gedanken freuen: Email bitte an horx@horx.com.
Über die kommende Kooperation zwischen Computern und Menschen
Intelligenz ist das, was universalisiert und vorausschaut.
Teilhard de Chardin
1.
Ein Gespenst geht um in den Köpfen und Seelen, im Zukunfts-Gespräch der Gesellschaft und im Strategiediskurs der Wirtschaft. Es ist das Gespenst der KÜNSTLICHEN INTELLIGENZ. Diese unbekannte Lebensform rast mit zunehmender Geschwindigkeit aus der Zukunft auf uns zu – wie Arnold Schwarzenegger als TERMINATOR. Ihre Absicht ist unklar und schwer zu erkennen. Geht es darum, Menschen zu versklaven oder gar zu eliminieren? Oder stehen wir vor einer Epoche, in der »kluge« Maschinen uns von allem Elend, allen menschlichen Nöten zu erlösen, indem die das perfekte Paradies auf Erden schaffen?
Beides wird nicht geschehen.
2.
Die Perspektive der Künstlichen Intelligenz wird von einem Größenwahn und einem Missverständnis zu verzerrt.
Im KI-Größenwahn glauben wir wahnhaft, dass eine Technologie, die wir Menschen geschaffen haben, uns gottähnliche Eigenschaften verleihen könnte – das ist der HOMO DEUS-Irrtum. Der Glaube an die ERLÖSUNGS-Fähigkeit von Technologien, vermischt mit narzisstischen Phantasien.
Das Missverständnis beruht auf dem, was Niklas Luhmann einen »Kategorienfehler« nannte. Ein Kategorienfehler ist es zu Beispiel, wenn ein Bauer versucht, Bratkartoffeln anzubauen. Wir verwechseln den menschlichen Geist mit maschinellen Funktionen. Wir sehen/gerieren uns selbst als Maschinen. Mehr noch: Wir projizieren menschliche Eigenschaften in digitale Maschinen hinein. In der ANTHROPOMORPHEN PROJEKTION vergleichen wir uns unbewusst immer wieder mit Maschinen. Und fragen: SIND WIR IHNEN ÄHNLICH?
3.
Um das Wesen der Künstlichen Intelligenz zu verstehen, müssen wir zwischen HARTER und WEICHER KI, sowie zwischen INTELLIGENZ und BEWUSSTSEIN unterscheiden.
Weiche KI macht uns Menschen Vorschläge für Problemlösungen. Harte KI erzeugt Strukturen, die von Menschen als Herrschaftsinstrument missbraucht werden können.
Während »Intelligenz« die Fähigkeit ist, logische Probleme mit operativen Methoden zu lösen – was Computer zunehmend besser können, man denke an das Schach- und Go-Spiel – ist Bewusstsein die Fähigkeit, auf die Komplexität der Welt durch Kreativität, Spontaneität und die Kräfte der Gefühle zu antworten. Diese Eigenschaften lassen sich nicht als (computerisierbare) FUNKTION abbilden, sondern nur durch REKURSIONEN, in denen wir mit der Welt in lebendige Verbindung treten.
Wenn Computer im menschlichen Sinne der Kreativität und des Wollens »intelligent« sein sollten, müssten sie Fleisch, Schmerz und Sterblichkeit besitzen. Sie müssten LEIDEN. Dann wären sie aber keine Maschinen mehr, sondern Organismen.
4.
DYNAMISCHE EXPERTENSYSTEME – ein besseres Wort für Künstliche Intelligenz – können uns helfen, die EFFIZIENZ komplexer Systeme zu steigern. Sie können Verkehr mobiler machen und Produktion effizienter. Sie können Diagnosen beschleunigen und sogar politische Prozesse verbessern.
Solche Systeme lösen aber nicht die Fragen der ECHTEN EFFEKTIVITÄT, die immer auf menschlicher BEURTEILUNG beruht: Wie wir Menschen heilen, was produziert werden soll, und welche Mobilitäts-Formen für die Zukunft SINNVOLL sind, hängt von Kontexten, Erfahrungen, Zielen und Aufmerksamkeiten ab, die jenseits maschineller Logik liegen. In der Gestaltung von Systemen, wenn es um eine bessere Zukunft geht, steht das WARUM des menschlichen Geistes im Vordergrund. Während das WAS und das WIE digital »verbessert« werden kann, wird das WARUM immer dringender.
Auf diese Weise verweist die KI auf uns selbst: das Aufkommen der KI fordert uns heraus, menschliche Ziele besser zu definieren.
5.
Künstliche Intelligenz wird uns helfen, menschliche Tätigkeiten überflüssig zu machen, die repetitiv, unkommunikativ und monoton sind. Dieser Prozess wird jedoch nicht LINEAR erfolgen, im Sinne einer radikalen Steigerung von Arbeitslosigkeit.
Viele Berufe beinhalten explizite oder implizite menschliche Faktoren, auch wenn sie wiederholende Tätigkeiten beinhalten. Krankenpfleger »pflegen« nicht einfach nur Kranke, sie stehen in Beziehung mit ihnen. Barkeeper schütteln nicht einfach nur Cocktails, sie moderieren Kommunikation. Journalisten produzieren nicht einfach nur Text, sie erzeugen Deutungen. Menschliche Fürsorge und Verbindung ist nicht durch Maschinen ersetzbar, auch wenn uns das in Science-Fiction-Erzählungen und digitalen Dystopien immer wieder vorgegaukelt wird.
KI wird das Berufs-Spektrum in Richtung auf höherer Komplexität verschieben. Dabei können traditionelle Berufe, die durch starke Taylorisierung betroffen sind, wieder zu ihren Ursprüngen zurückfinden. Ärzte können wieder heilen, Journalisten wieder deuten, Pfleger wieder Empathie ausüben. Handwerker wieder mit den Händen gestalten.
Gleichzeitig bringt das PRINZIP DER DIFFERENZIERUNG zahlreiche neue Tätigkeitsfeder hervor: Mediatoren und Moderatoren, Konnektoren und Kuratoren, Prozessoren, Coaches und Lebensbegleiter, Traffic-Manager und Gesundheits-Provider. Die Anzahl dieser Berufe wird die Anzahl der Jobs der Industriegesellschaft übersteigen, allerdings andere, ganzheitlichere Qualifikationen erfordern.
6.
Das ist der eigentliche provokative Aspekt der KI: Sie zwingt uns, unsere existentielle Abhängigkeit von abhängiger Lohnarbeit zur Disposition zu stellen. Die Drift ins Schöpferische erzwingt eine neue menschliche Emanzipation. Das „eherne Gesetz der Hörigkeit” (Max Weber), mit der in der Industriegesellschaft Menschen an den Lohn, an die »Arbeitsstelle« gebunden waren, zerbricht. Der schiere Überfluss an materiellen Dingen, den die KI mit sich bringen wird, entwertet die Produktion, aber sie befreit uns auch vom Joch des Produktiven. Diese Befreiung macht uns Angst, weil sie bedeutet, dass wir uns jenseits unserer Arbeit zu unserem Sein bekennen müssen. Sie befreit uns von alten Ketten, an die wir uns sklavisch gewöhnt haben.
7.
Menschen und Maschinen werden immer unterschiedlich bleiben. Im Spannungsverhältnis zwischen dem Mechanischen und dem Humanen entwickelt sich der menschliche Geist und die menschliche Fähigkeit auf neuere Stufen. Wir haben nichts zu verlieren als unser inneres Maschine-Sein. Wir haben eine neue, humane Welt zu gewinnen.
Normalerweise schreibe ich keine Bücherbesprechungen. Auch dieser Text ist keine. Doch es ist an der Zeit, zwei gedruckte Werke hymnisch zu loben, die nicht zufällig DEMNÄCHST erscheinen. Und schon jetzt erheblichen Wirbel aufwirbeln. Vielleicht schaffen sie es, unseren Zukunfts-Diskurs in eine neue Richtung zu führen.
Das eine, »Factfulness«, ist das Erbe von Hans Rosling, dem wunderbaren Stockholmer Statistiker und Welt-Daten-Guru, der mit Waschmaschinen auf der Bühne auftrat und mit seinen TED-Vorträgen bekannt wurde. »Factfulness« (ich bin ein bisschen stolz, weil ich den Titel erfunden habe), analysiert die psychologischen »Biases«, die Irrtümer, mit denen unsere Welt-Wahrnehmung ins Negative verzerrt wird. In der deutschen Übersetzung heißen diese Verzerrungen INSTINKTE:
Der Instinkt der Kluft.
Der Instinkt der geraden Linie.
Der Instinkt der Verallgemeinerung.
Der Instinkt der Schuldzuweisung.
Der Instinkt der einzigen Perspektive.
Es sind dieselben Irrtümer, mit denen wir uns in der ganzheitlichen Zukunftsforschung beschäftigen. Hans hat sein Leben lang – er starb 2017 – gegen diese Angst-Verzerrungen gekämpft, mit Humor, Gelassenheit, List und guter Statistik. In seinem Nachlass-Buch kommt aber auch eine gewisse Traurigkeit zum Vorschein. Hans weiß, dass er nicht wirklich viel bewirkt hat mit all seinen animierten Zahlenwelten. Er hat es in den SPIEGEL geschafft und auf große Konferenzen, seine aufklärerische Weitsicht blieb aber immer eine Randerscheinung. Man hielt ihn bisweilen für skurril, einen netten, aber auch naiven Professor, oder gar für einen Verharmloser all der schrecklichen Trends auf unserem Planeten. Den Zorn darüber spürt man manchmal in seinen lebhaften Vorträgen. In FACTFULNESS macht er daraus eine altersmilde Haltung.
Die Formel, dass „weltweit alles immer schlimmer wird” in Sachen Armut, Gewalt, Krankheiten, Gesellschafts-Spaltung, Umwelt, Demokratie. Naturkatastrophen, dass „die Welt völlig aus den Fugen ist”, der »Deklinismus« also (vom englischen »decline« – niedergehen, untergehen), ist zu so etwas wie dem aktuellen Massen-Aberglauben geworden. Dagegen kämpft auch der zweite Autor schon seit vielen Jahren an. Stephen Pinker, Kognitionswissenschaftler und Evolutions-Psychologe, hat mit seinem vorletzten Buch »Gewalt« (im Englischen viel schöner: „The Better Angels of our Future”) geschildert, wie die Gewalt im Lauf der Menschheitsgeschichte ständig zurückgegangen ist.
Heute sterben so wenig Menschen in Kriegen und an Gewaltkriminalität wie niemals zuvor, und die positive Entwicklung geht weiter – wir alle können etwas dafür tun. Doch der voyeuristische Overkill der Medien und das ideologisierte Fiebern des Netzes erwecken immer den genau gegenteiligen Eindruck: Überall regieren Mord und Totschlag, alles wird immer gewalttätiger, und man muss sich »demnächst« bewaffnen… Dass an den grausamen Inszenierungen der aktuellen Gewalt wie School-Shootings und Selbstmordattentaten vielleicht die Medien mit ihrem Einschaltquoten-Populismus eine Mitverantwortung tragen, dass heute an jedem Ort eine Kamera steht und jeden Abends die allerscheusslichsten Morde FIKTIV inszeniert werden, ist kaum artikulierbar.
Stephen Pinker ist jetzt mit seinem neuen Buch auf eine wahrhaft große Mission gegangen: Er möchte uns das Zeitalter der Aufklärung zurückbringen. In Amerika, das unter dem postfaktischen Irrsinn wohl am meisten leidet, ist sein »Enlightenment Now« (Aufklärung Jetzt!) bereits ein Riesen-Bestseller. Bill Gates erklärte es zu seinem Schlüssel-Lieblingsbuch. Dieser Erfolg deutet an, dass wir vor einer Zeitenwende in der öffentlichen Debatte stehen könnten. Das allgemeine Doomsaying könnte seinen Zenit hinter sich haben.
Pinker analysiert die einzelnen negativen Zukunftsgerüchte noch breiter als Rosling. Er spricht von der »Progressophobie«, der geradezu zynischen Verachtung des menschlichen Fortschritts, den gerade die Intellektuellen pflegen. Weil die Welt nicht perfekt ist, dem inneren ideologischen Anspruch nicht entspricht, werden graduelle Verbesserung einfach ignoriert. Oder willentlich geleugnet. Das macht Pinker zornig. Es hängt sich weit aus dem Fenster, auch was das Politische betrifft. Negativität ist nicht harmlos, oder einfach immer nur deshalb berechtigt, weil man dann „auf ein Problem hinweist”.
Negativismus transportiert vielmehr falsche und gefährliche Weltbilder, die im Gesellschaftlichen fatale Nebenwirkungen haben. Wer die Welt zum Teufel schickt, öffnet Zynimus und Apathie Tür und Tor. Wer alle Trends schlecht redet, gibt den depressiven Dämonen Futter. Trump und die AFD und die vielen anderen Radikalen von Rechts brauchen apokalyptische Trendbehauptungen, sie brauchen „gefährliche Flüchtlingsströme” und „steigende Armut” und „immer mehr Gewalt”, um ihre einfachen Lösungen zu verbreiten. Populismus ist nichts Anderes als das Ausbrüten der Unvernunft auf falschen negativen Trend-Annahmen. Wer kritiklos die negativen Übertreibungen kolportiert, die überall in den Medien kursieren, macht sich mitschuldig daran, dass die Gesellschaft die Hoffnung verliert.
Stephen Pinker hat am eigenen Leib erfahren, wie man angefeindet wird, wenn man den Immerschlimmeristen widerspricht. Als er vor einigen Jahren mit seinem »The Better Angels of our Future« auf Lesereise ging erntete er überall einen Ad-Hoc-Shitstorm:
Wie können sie hier einfach behaupten, dass sich die Gewalt verringert hat? Haben Sie noch nie von den School-Amokläufen gehört oder den Fussball-Schlachten zwischen Hooligans gehört (Sie Ignorant!)?
Was für eine Arroganz! Für die Opfer des syrischen Bürgerkrieges oder die Menschen im Jemen sind doch diese Zahlen reiner Hohn!
Sie sagen also, wir sollen uns alle zurücklehnen und abwarten, bis sich die Gewalt von selbst verflüchtigt?
In wessen Auftrag haben sie diese Zahlen zusammengestellt? Der Rüstungsindustrie? Der Waffenlobby?
Und wie, bitte schön, wollen sie uns beweisen, dass das Massenschlachten, in das die Menschheit sich immer wieder gestürzt hat, nicht gleich wieder losgeht? Zahlen sagen doch rein gar nichts aus, sie sind ja nur stupide Statistik!
(Pinker engl. Ausgabe s. 44/45 ff)
Man spürt in diesen Reaktionen den Fanatismus, mit dem heute Negativität vertreten wird. Woran liegt das? Negativistische Weltbilder haben für diejenigen, die sie propagieren, offenbar eine wichtige seelische Funktion. Sie wirken wie eine innere Panzerung. Sie dienen vor allem auch der Schuldentlasung, und einer dünkelhaften Hochmütigkeit: Wer an den Untergang glaubt, macht sich selbst zum Schiedsrichter des Weltgeschehens, und ist gleichzeitig jeder Verantwortung enthoben. Er lebt im Grunde komfortabel in einer riesigen Weltverschwörung, die ihm alle Deutungsmacht gibt. Der »Deklinismus« ist vor allem eines: eitel.
Könnte es wirklich sein, dass wir heute, im Jahr 2018, vor einem neuen Aufklärungs-Diskurs stehen? Dass man demnächst wieder vernünftig und ohne Hysterie über die Bedingungen (statt die Unmöglichkeiten) menschlicher, technischer, sozialer Fortschritte sprechen kann? Das ist nicht ganz unwahrscheinlich. Gerade, weil sich der grenzenlose Digitale-Optimismus im Facebook-Skandal gerade verabschiedet, ist wieder Platz für differenziertes Denken. Es gibt inzwischen nach meinem Gespür einen Überdruss an den ewigen Übertreibungen, den hysterischen Zuspitzungen. Selbst der Spiegel, das Zentralblatt des melancholischen Zynismus, hat eine erstaunliche Kehrwende vollzogen. Nicht nur mit seiner Rubrik „Früher war alles Schlechter”. Seit einiger Zeit kann man dort hoffnungsvolle, ja regelrecht zuversichtliche Reportagen lesen. Etwa über die magische Funktion des Tanzes. Oder, vor Kurzem, eine Reportage über die wunderbare Wirkung der Straßenbahn von Addis Abeba in Äthiopien. Sowas wäre vor Jahren nicht einmal eine zynische ABER-Meldung wert gewesen („Chinesen oktroyieren armen Afrikanern falsche Technik auf”, oder so ähnlich).
Damit keine Missverständnisse aufkommen: Es geht nicht darum, dass wir „endlich wieder optimistisch werden”. Hans Rosling hat die Alternative zwischen Optimismus und Pessimismus immer weit von sich gewiesen. Als alle Journalisten ihn immer nur fragten, wie er denn um Himmels Willen „so optimistisch sein könne”, war seine leicht genervte Antwort: “I am not am Optimist, I’m not a Pessimist, I am a very serious POSSIBILIST!”
Optimismus und Pessimismus sind beides Ideologien, die die Welt auf das entweder Gute oder Schlechte verkürzen. Possibilismus hingegen heißt, dass ich auch das POSITIVE und WUNDERBARE für möglich halte. Etwa, dass sich die menschlichen Dinge VERBESSERN. Possibilismus bedingt, dass wir die Welt von mehreren Seiten betrachten, sozusagen dreidimensional. Ohne gleich vorweg Urteile zu fällen. An diesem Punkt trifft sich Possibilismus mit der Achtsamkeits-Bewegung. Possibilismus ist achtsamer Futurismus.
Und eine Entscheidung für SELBST-VERANTWORTUNG. Ich übernehme Verantwortung nicht nur für meine Taten, sondern auch für meine SICHTWEISEN. Ich weiß, dass ich mit meiner Sicht der Dinge die Welt auch ERZEUGE. Nicht im wörtlichen, »mächtigen« Sinne. Aber im Sinne der Be-schreibung, der mentalen Konstruktion, in der Haltungen irgendwann zu Ver-halten führen. Wir alle kennen den Begriff der Self-Fulfilling Prophecy.
Die Welt ist unglaublich komplex. Weil die Welt komplex ist, fehlen uns IMMER Informationen. Possibilismus traut sich zu, mit dieser Unsicherheit spielerisch, staunend und KONSTRUKTIV umzugehen.
Auf dem Foto sehen wir Hans Rosling, wie er vor zehn Jahren auf der Bühne ein Schwert schluckt , um zu beweisen, dass das Unmögliche möglich ist. Auch den weltweiten Hunger zu bekämpfen.
Factfulness, geschrieben mit Ola und Anna Rosling, ist soeben im Ullstein-Verlag erschienen.
Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3550081820′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’2729c853-38ac-11e8-adf8-bf639f9c08dd‘]
Steven Pinkers Buch erscheint im September 2018 in Deutsch.
Die englische Ausgabe ist bereits erhältlich: [amazon_link asins=’B075ZGBY6Q‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’1e8f5ef5-38ad-11e8-8fed-633f8cacaa02′]
Vor einiger Zeit geriet ein kleines Spiel in Mode, als ironischer Widerstand gegen den präpotenten Jargon der Business-Welt. Es hieß das »BULLSHIT BINGO Spiel«.
Eine Gruppe von Freunden positionierte sich zum Beispiel in der letzten Reihe des »Visions-Seminars Verkaufsförderung« oder des »Deutschen Strategietages« oder auch der Volkswagen-Vollversammlung. Immer wenn auf der Bühne einer der Referenten „Nachhaltige Geschäftsstrategie” sagte, oder „Benchmark-Ability” … oder „Marktpenetration” oder „Proaktives Empowerment” oder „Werteorientiertes Management”, standen alle auf und schrien laut „BULLSHIT!”
Das war lustig. Aber auch anstrengend. Weil durch einen geheimnisvollen Hypnose-Effekt viele Zuhörer im Saal einfach an diesen Unsinn GLAUBTEN. Und sich irgendwie gestört fühlten bei ihren Glaubensprozessen….
Eine Begriffsdefinition für das schöne Wörtchen Bullshit stammt von Harry G. Frankfurt, einem amerikanischen Professor, der vor 20 Jahren ein kleines, gemeines Büchlein mit dem Titel „ON BULLSHIT” veröffentlichte. Frankfurt fragte sich ganz naiv, warum rund um die Uhr so unglaublich viel BULLSHIT erzählt wird, ohne dass das jemandem aufzufallen scheint.
Im Gegensatz zum Lügen, so Frankfurt, erfordert Bullshit keine echte geistige Leistung. Beim Lügen geht es ja immer auch um Wahrheit, die es zu verbergen gilt. Dafür braucht man erheblichen geistigen Aufwand. Beim Bullshit hingegen gelten die Gesetze der reinen Redundanz. Man erfährt durch Bullshit das, was man sowieso erwartete – und das macht angenehme Gefühle:
&bdauo;Bullshit ist jene Erzählung, in der es nicht im Geringsten mehr darum geht, eine Wahrheit durch bewusste Verfälschung zu kaschieren. Das Verhältnis des Bullshitters zu der ihm umgebenden Realität ist pure Gleichgültigkeit. Er verbreitet einfach nur »etwas«”, bei dem jeder nur nicken und zustimmen kann.”
Zukunfts-Bullshit hört sich zum Beispiel so an:
Viele Trends zeichnen sich deutlich im Heute ab. Die vorgestellten 30 Trends zeigen die neue Einstellung der Konsumenten. Letztlich bietet die große Verunsicherung, der wir ausgesetzt sind, uns allen große Chancen des Aufbruchs. Wir können uns von alten Regeln und Gewissheiten verabschieden, denn sie existieren nicht mehr! Es gibt die Chance zu neuen, revolutionären Entwicklungen in vielen Bereichen unseres Lebens! Es gilt, diese Veränderungen rechtzeitig zu erkennen, vorbereitet zu sein und die Chancen auch zu ergreifen…
Ähnlich klingen auch Verlautbarungen mancher Kollegen aus der Zukunfts-Zunft, wenn sie mit Texten wie diesen für ihre Seminare werben:
„Wir nehmen … Sie mit auf die Reise in eine Zukunftswelt des Jahres 2020: Food-Konzerne entwickeln Margarine mit Neuropushern, Musikmajors bieten Halsbänder mit denen jeder die Stimme seines Stars erhält, Pharmakonzerne bieten Doping für Gehör und Geruchssinn, immer mehr greift auch der Inbody-Chip um sich. Kommende Generationen werden den menschlichen Körper weniger als naturgegeben, sondern mehr als optimierungsbedürftige Hülle sehen … die Lebenswelten und die Bedürfnisse Ihrer Kunden werden sich in den kommenden Jahren komplett verändern!!!
Die Zukunfts-Klischee-Erzählung unserer Tage geht etwa so:
In der Zukunft sind Roboter allgegenwärtig. Sie pflegen unsere Kranken, bevölkern die Stadt, sind uns aber unheimlich. Sie bieten uns Unterhaltung, Sex, Komfort &ndashM; und dann nehmen unsere Jobs weg.
In der Zukunft sitzen wir fröhlich in Anzügen oder feinem Kostüm in unseren Häusern auf dem Sofa und bedienen alles mit einer Fernbedienung, oder besser noch mit Gesten- oder Sprachsteuerung. Wenn wir im automatisch fahrenden Auto sitzen, werfen wir die Waschmaschine an, oder den Herd, der dann automatisch einen Braten brät… Der Kühlschrank ist intelligent und all unser Leben »smart vernetzt«… (bitte automatisch Text ergänzen…).
In Zukunft wird alles immer schneller und sensationeller und automatischer und gefährlicher!
Kaum jemandem fällt auf, dass diese Morgen-Bilder uralter, abgestandener Kaffeesatz sind. Das elektronisch-automatische Utopia, das uns hier beschworen wird, ist mindestens 100 Jahre alt. In den Zukunftsbildern meiner Kindheit in den 60er Jahren wimmelt es nur so von Haushalten, in denen Männer mit Pfeife fröhlich Rasenroboter dirigieren und »Denkmaschinen« die Arbeit übernehmen, während die fröhliche Hausfrau sich vor dem Spiegel schminkte. Am meisten grassiert der Bullshit heute beim großen Hype unserer Tage der »Künstlichen Intelligenz«. Die ganze Debatte darum krankt an dem, was der System-Soziologe Nicolas Luhmann einmal als »Kategorienfehler« bezeichnete. Als Beispiel für diesen typischen Denkfehler nannte er den Versuch eines Bauern, Bratkartoffeln anzubauen.
In der dämonisierten Künstlichen Intelligenz-Debatte verwechseln wir dauernd die Kategorie der Intelligenz – des formalen Lösens von Problemen – mit Bewusstsein und den dazugehörigen Emotionen. Wir projizieren munter menschliche Motive auf digitale Prozesse. Wir verwechseln das Mechanische mit dem Organischen. Wir halten letztendlich Metaphern für Prophezeiungen. Der anthropomorphe Animismus, mit dem wir Computern und Robotern ständig menschliche Motive unterschieben, zerstört dabei unmerklich unseren Wirklichkeits-Sinn. Er führt zu einer ständige Steigerung von Hysterie-Debatten, in denen wir uns grenzenlos vor der Zukunft fürchten – und sie uns gleichzeitig vollkommen egal wird. Denn tief innen ahnen wir, dass wir es eigentlich nur mit Narrationen zu tun haben, mit reinen Fiktionen, die mit der wahren Zukunft nicht das Geringste zu tun haben.
Leider befällt diese Krankheit auch die Klügsten. In der jüngsten Ausgabe der WirtschaftsWoche (16.3.2018) nimmt Miriam Meckel die Position der futuristischen Vermutungs-Apokalyptikerin ein. In der Titelgeschichte „Geschäftsmodell Gehirn” geht es irgendwie um Hirn-Implantate, Mensch-Maschine-Denk-Schnittstellen und Gedankendiebstahl. Das Titelbild der WIWO Ausgabe zeigt dazu einen Kopf mit einem USB-STECKER! (siehe oben).
„Aktuell arbeiten etwa dreißig Unternehmen weltweit an der neurotechnischen Eroberung des Gehirns. Sie wollen mit Hilfe neuer Technologien an der Erweiterung des Denkens durch Neurostimulation, Neuromodulation, Hirn-Apps und der Entwicklung von Hirn-Computer-Schnittstellen mitwirken… Es entsteht ein harter Wettbewerb darum, wer zuerst das Nervensystem kontrolliert und eine für den Massenmarkt taugliche Technologie anbieten wird für Gedankenlesen oder den Brainchat, das Plaudern von Hirn zu Hirn… Früher haben wir Mofas frisiert – heute sind unsere grauen Zellen dran… Die Autocomplete-Funktion die uns zum Beispiel Google anbietet, um uns zu helfen, die richtige Suche zu starten, würde ins Gehirn wandern…
Und so weiter. Formulierungen wie „könnte, würde…” und „Wissenschaftler behaupten …” und „Wettbewerb beginnt…” und „Schon haben die ersten Firmen APPS entwickelt…” verweisen in eine Sphäre der Unwiderlegbarkeit, die sich allein aus dem angstvollen Gerücht speist. Wie oft haben wir schon erlebt, dass sich solche Vermutungen als Hype erwiesen, dass spektakuläre Geschäftsmodelle sich als Fake, oder einfach nur als Missverständnis herausstellten? Aber egal, was „sein könnte”, „könnte ja irgendwie sein…” – oder?
Es könnte allerdings auch sein, dass dieser „Journalismus des Raunens” nicht unerheblich zu unserem heutigen postfaktischen Problem beigetragen hat – zu einer öffentlichen Sphäre der Hysterisierung und „Vermeinungen” (Sascha Lobo).
Ich schätze Miriam Meckel sehr, und gerade deshalb tut es weh. Es ist traurig, dass diejenigen, die sich geistig um unsere Zukunft kümmern können, so oft den alten Reflexen erliegen. Ein tragisches Beispiel ist der früh verstorbene Frank Schirrmacher, Ex-Herausgeber der FAZ, der mit seinem feuilletonistischen Zukunfts-Raunen zu unserer heutigen Zukunfts-Hysterie mehr als beigetragen hat. Es gelang ihm, die Erweiterung der Lebensspannen in der modernen Welt als monströse Weltverschwörung umzudeuten („Methusalem-Komplott”). Das Internet war für ihn eine Art demiurgische Black Box, eine Büchse der Pandora, aus der ausschließlich die Knechtung des Menschen entspringen konnte.
Auf diese Weise gehen TECHNO-HYPE – die Vorstellung, dass Technologie ALLES kann – und TECHNO-PHOBIE – die Dämonisierung der Technik – eine nahtlose Allianz ein. Genau das ist »Future Bullshit«: Die Ersetzung der Zukunft durch Erregungs-Leere. Das ist ein durchaus ähnlicher Prozess wie in der Politik, wo ganz Links und ganz Rechts mehr und mehr fusionieren. Dabei sind wir längst viel weiter in der Zukunftsdebatte. Wir sind mitten in einer »Digitalen Revision«, in der die medialen Fragen neu gestellt werden. Wir können allmählich verstehen, wie Technologie und Kultur zusammenhängen und sich in ihrer Evolution gegenseitig bedingen. Wir können plausible Modelle bauen für das, was sich technologisch durchsetzt, und das was scheitern wird. Für einen solchen aufgeklärten, humanistischen Futurismus müssten wir lernen, die richtigen Fragen zu stellen. Zu DIFFERENZIEREN zwischen Magie und Wirklichkeit, Wahrscheinlichkeit und kindlich-ängstlicher Übertreibung. Es gilt, in Richtung Zukunft erwachsen zu werden. Ich weiß, das ist schwer. Ich versuche es jeden Tag.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
An der Einstellung zum Wetter entscheiden sich viele unserer Zukunftsbilder. Das war schon in Urzeiten so, als die Menschen Blitz und Donner als gefühlte Strafen codierten, oder Überschwemmungen als Anzeichen göttlichen Zorns. Heute hat die religiöse Wetterfühligkeit die Gestalt von »Global Warming« angenommen.
Alles ist nun Zeichen, dass es demnächst besonders schlimm über uns kommt. Regen, Schnee, warme Sommer, kühle Sommer, gar ein Sturm – all das ist doch nicht normal! Auch der kalte und schneereiche Februar ist wieder einmal der BEWEIS, dass das Klima »aus den Fugen« gerät.
Wie können wir diese »cognitive bias«, diese Weltwahrnehmungs-Verzerrung, etwas lindern? Das versucht Günther Aigner, ein Schneeforscher aus Kitzbühel, (www.zukunft-skisport.at). Er hält seit vielen Jahren inspirierende Vorträge über die Zukunft des Schnees in den Alpen.
Dafür tut er etwas ganz Simples: Er misst Schneehöhen und Temperaturen in Wintersportgebieten über längere Zeiträume. Und hat dabei etwas sehr Interessantes festgestellt: Die Schneehöhen haben seit 100 Jahren so gut wie gar nicht abgenommen. Auch die mittleren Temperaturen auf 1.000 oder 2.000 Meter Höhe in den Alpen oszillieren um einen Wert, der kaum von langfristigen Mittel abweicht.
Es gab in den letzten 50 Jahren wärmere Winter, aber auch kältere. Die Winter werden auch nicht generell kürzer. Momentan sieht es sogar so aus, als ob es wieder längere Winter und mehr Schnee gibt.
Wie das? Hören wir nicht in jedem Jahr den Sound der alpinen Tourismusindustrie, dass wegen des Klimawandels »demnächst« kein Skifahren mehr möglich sein wird? Dass die Saison immer kürzer wird? Dass es einen »Megatrend grüne Pisten« gibt oder „demnächst die Tiroler Wein anbauen werden”? Das erfordert dringend Subventionen! Ganze Regionen sind existenzbedroht! Man muss neue Gletscher zum Skifahren erschließen, ganz hoch hinaus! Man muss ganz neue Schneisen in den Wald schlagen, Straßen bis auf 3.000 Meter Höhe!
Die Sache mit dem Schnee ist ein gutes Beispiel dafür, wie negative Zukunftsaussagen eine eigene Bedarfs-Logik entwickeln. Sie erzeugen ihre eigene eine Spirale an meistens falschen Rück-Schlüssen. In Sachen Schnee ist die Aufrüstung bislang allenfalls mit Schneekanonen erfolgt, das ist nicht ganz so schlimm. Aber es könnte zu massiven Fehlentscheidungen kommen, etwa wenn ganze Landstriche sich vom Skifahren verabschieden.
Mit dem Verweis auf katastrophale Trends kann man auch prima von den wahren Problemen ablenken, in diesem Fall etwa einer Über-Kommerzialisierung des Skisport, die immer mehr Skiorte in einen einzigen Alkohol-Rummel verwandelt. Dabei entstehen neue kommerzielle Zwänge: Eine Saison MUSS 100 Tage Vollschnee haben, sonst gilt sie als Pleite; schließlich muss man all die teuren Anlagen bezahlen!!!
Auf diese Weise werden einfach die Kriterien verschoben für das, was als »normal« gilt – ein Katastrophierungs-Prinzip, dass wir auch in anderen Bereichen kennen. Auch früher schon gab es Weihnachtstauwetter und verregnete Januare. Die haben wir nur vergessen – und erinnern uns nur an den »herrlichen Schnee« unsrer Kindheit.
Eine weitere Gefahr besteht darin, dass durch Übertreibung die ganze Klimapolitik unglaubwürdig wird. »Fake News« eben: Wenn plötzlich die Winter wieder schneereich werden, glaubt keiner mehr an »Global Warming«. Übrigens hat Günther Aigner festgestellt, dass es »Global Warming« in den Alpen sehr wohl gibt. Aber eben im Sommer. In der warmen Saison sind die Temperaturen tatsächlich um 1,5 Grad gestiegen. Damit erklärt sich auch der Rückgang der Gletscher. Das Klima ist komplex. Die menschliche Wahrnehmung leider nicht so sehr. Zukunftsannahmen, vor allem negative, sind oft durch eigene Interessen und mediale Hysterisierungen geprägt. Das ist für Zukunftsforscher eine wichtige Botschaft. Dagegen hilft nur »Futuristische Gelassenheit«.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Muss uns die Politik endlich wieder „richtige Zukunfts-Visionen” liefern?
Februar 2018
Jetzt geht es wieder richtig los mit dem großen politischen Katastrophen-Geschrei. KRISE! titelt der Spiegel in seiner jüngsten Ausgabe in 1.000-Punkt-Lettern, und schreibt über die Politik, die „auseinanderbricht“, weil „die Volksparteien das Volk nicht mehr erreichen“, weil das politische System „dysfunktional“ geworden ist, weil …
Meine Güte. Welches Titelbild würde der Spiegel eigentlich bringen, wenn WIRKLICH einmal eine Krise eintritt? Könnte es sein, dass die schwierigen Koalitionsverhandlungen eher ein Zeichen für die STABILITÄT unserer Demokratie sind? Ich frage ja nur. Und wäre es möglich, dass das derzeitige Gewurstel auch mit dem destruktiven Skandalismus vieler (nein, nicht aller) Medien zu tun hat? Man hat den Eindruck, dass die Politik wie eine Art Dschungelcamp inszeniert wird, eine Veranstaltung, die vor allem dazu dient, Klick- und Einschaltquoten zu steigern.
Die häufigste Journalistenfrage in den Talkshows: „Aber wollen Sie nicht doch Angela Merkel stürzen???”. Von STERN bis SPIEGEL, von ARD bis ZDF stimmen alle in den AFD-Chor von den „Altparteien” ein. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen, nennt das die „gehetzte Politik”.
Bemängelt wird besonders das Fehlen von „Visionen”. So gut wie alle sind sich einig: „Die Politik” MUSS endlich wieder „die große Richtung vorgeben”. Es braucht, so tönt es überall, einen „Großen Wurf”.
Mir wird dabei, gerade weil ich mich ein bisschen mit Zukunftsvisionen auskenne, etwas übel. Der Ruf nach einer erlösenden Vision verrät ein grundlegendes Missverständnis gegenüber der Politik. Und vielleicht steckt hier sogar der eigentliche Grund für die Turbulenzen im politischen System.
Das Fatale des letzten Wahlkampfes – und der Fluch der SPD – war ja gerade, dass ENDLICH WIEDER der „große Wurf” versucht werden sollte. GERECHTIGKEIT! Als politische Parole ist das ein Teufels-Begriff. Er markiert ein moralisches Maximum, das niemals zu erreichen ist. Er suggeriert etwas, was die Politik in Wirklichkeit nie leisten kann. Gerechtigkeit ist nämlich kein objektiver Zustand, kein Ziel, das man strategisch oder taktisch erreichen kann. Sondern eine durch und durch emotionale Wahrnehmungsform.
Die Welt ist, seien wir ehrlich, IMMER ungerecht. Egal, wie sehr wir auch Chancen und Möglichkeiten zur Verfügung stellen, die Unterschiede zwischen Menschen lassen sich einfach nicht abstellen (und wenn ja, dann nur durch den Preis der Despotie; das hatten wir schon in mehreren Varianten). In den Millionen Entscheidungen eines Lebens kann ungeheuer viel schiefgehen. Aber auch gelingen. Überall spielt der verdammte Zufall eine Rolle. Man kann, je komplexer die Gesellschaft wird, leicht straucheln. Aber auch überraschend Erfolg haben. Das ist DOPPELT ungerecht!
Weil die Welt „kontingent” ist, das heißt von unendlichen Möglichkeiten durchzogen, bedeutet das für die Gerechtigkeit: Sie kann immer nur IM NEGATIVEN VERGLEICHSMODUS erlebt werden. Als subjektive UN-Gerechtigkeit! Als Zorn-Attacke. Als Defizit. Gerechtigkeit hat sozusagen nur einen negativen Fußabdruck, keinen positiven. Wenn dem Einen etwas gegeben wird, ist das sofort ungerecht. Denn man SELBST, oder die eigene Gruppe bekommt womöglich gerade nichts.
Jede Gerechtigkeitsdebatte erzeugt dabei sofort Ansprüche, die ins Bizarre und Unbegrenzte steigen müssen; sie ist wie eine Hydra, der man, wenn man ihr einen Kopf abschlägt, immer neue nachwachsen. Wie bitte? Geld für neue Kindergärten? Und wir Rentner? Werden wieder über den Tisch gezogen. Mehr Mütter- Witwenrente, Zusatzrente? – das ist reine Gerontokratie! Krankenkassen-Ärzte sollen mehr Geld kriegen? Wird den Ärzten nicht schon genug Geld hinterhergeworfen? Elektroautos? Nur was fürs grüne Milieu, unsereins bliebt bei einem anständigen Verbrenner! Schnelles, teures Internet für alle? Wozu brauch ich Internet, das ist doch nur was für die Eliten! Undsoweiter…
Das heißt im Klartext: Die Menschen (Wähler) sind in Wahrheit gar nicht an Gerechtigkeit interessiert. Sondern nur an Ungerechtigkeit. Sie empören sich gerne, lassen aber einen Kandidaten, der etwas verspricht, was sie eigentlich nicht glauben und was nie passieren kann, sofort wieder fallen. In diese Falle ist die SPD hineingetappt wie ein großer, gutmütiger Bär.
Gerechtigkeit-Kampagnen verwandeln den politischen Diskurs in eine Spalter-Arena, eine endlose Neid-Spirale. Auf diese Weise wird der Kern des sozialen Kontraktes zerstört. Georg Cremer, einer der wenigen erleuchteten Armutsforscher, hat das in einem ZEIT-Online-Interview auf den Punkt gebracht:
„Die Abstiegspanik in der Mitte macht unsere Gesellschaft unsolidarischer. Eine große Mehrheit der Menschen sagt, in Deutschland gehe es ungerecht zu. Wenn man die gleichen Menschen aber fragt, was man gegen diese Ungerechtigkeit tun kann, dann wird die Besserstellung von Hartz-IV-Empfängern oder Hilfen für Menschen mit Migrationshintergrund nur von einem Viertel genannt. Sie treiben eher Gerechtigkeitsfragen um, die in der Mitte der Gesellschaft eine Rolle spielen, dass der Lohnabstand zwischen Arbeitenden und Arbeitslosen gewahrt bleibt oder gleiche Arbeit auch gleich bezahlt wird. Das sind auch wichtige Fragen. Aber wir brauchen eine Mitte, die mit den Menschen am Rand empathisch ist und nicht selbst in Angst erstarrt. Dann hat Politik für Randgruppen eine Chance.”
Das zweite Kernproblem der Gerechtigkeits-Parole ist ihre rein LINEARE Dimension. Sie bleibt so gut wie immer auf der alten primitiven Umverteilungs-Ebene stecken. Geld soll alles lösen. Aber Geld wozu?
Was passiert, wenn man, wie im Koalitionsvertrag verhandelt, 8.000 neue Pfleger finanziert? Ändert sich dann wirklich etwas in der Alterspflege? Wohl kaum, die Defizite werden nur sichtbarer, denn das Problem liegt viel tiefer. Ändert das schnelle Internet in Süd-Sachsen die miese Laune der Ansässigen und die Investitionsfreude von Außen? Wohl kaum. Können 1 Million schnell in den Markt gedrückte Wohnungen etwas an der Lebensqualität der Städte verbessern? Vielleicht ein bisschen. Vielleicht sind billige Wohnungen aber auch nur eine Täuschung, was die wahren Probleme des Wohnens betrifft. Die haben nämlich weniger mit Quadratmeter zu tun, sondern mit Nutzungen, mit QUALITÄTEN.
Der Grund, warum die alten Links-Rechts-Achsen nicht mehr funktionieren (und warum die Linke „am Ende” erscheint,) liegen darin, dass in einer entwickelten Wohlstands-Gesellschaft Umverteilungen einen ständig sinkenden Grenznutzen haben. Eine echte Zukunftspolitik entsteht erst dann, wenn wir verstehen, dass an einem bestimmten Punkt der sozialen Komplexität nur komplett neue Systeme in die Zukunft führen.
Unser „Gesundheitssystem” zum Beispiel: Es ist in Wirklichkeit ein Krankheits-System, in dem ALLE Spieler gewinnen, die an Krankheit Geld verdienen. Diese fundamentale Fehlsteuerung, die die Kosten dauernd in die Höhe treibt und den Patienten umso mehr zu einer Art Melkkuh macht, je kränker er ist, kann man nur durch ein System überwinden, das auf GESUNDHEIT und HEILUNG ausgerichtet ist (das geht sehr wohl, aber das würde hier zu weit führen).
Wenn man mehr Geld in Schulen gibt, dann ist das prinzipiell gut, aber wenn man damit nur mehr überforderte und schlechte Lehrer damit finanziert, verschärft man nur die Misere. Das Elend der Alterspflege besteht in Wirklichkeit in der Vereinsamung der Menschen, in der sozialen Isolation, die die institutionelle Pflege zu einer hoffnungslosen Verwahranstalt macht. Wie könnte man das ändern? Eben NICHT, indem man die alten Institutionen aufrüstet. Sondern in dem man die Beziehungen zwischen Alt und Jung, die gesellschaftlichen Konnektome, neu vernetzt. DANN macht mehr Geld auch Sinn: Zum Beispiel in intergenerativen Wohnformen, in denen Alt und Jung in neuen Siedlungsformen zusammenleben, die auch so etwas wie »Heimat« werden können. Eine Alternative zu einem Wohnungsbau, der nur eine Million Standardwohnungen hinknallt, die in zwanzig Jahren schon wieder leer stehen, wären Co-Living-Projekte. Davon gibt es inzwischen mehrere Tausend in Deutschland. Viele von ihnen haben Schwierigkeiten, Baukredite zu bekommen.
Das alles erscheint nur utopisch. Elitär irgendwie. Aber genau das ist das wahre Wesen des Fortschrittes. Früher hatten allenfalls die Fürsten ein Wasserklo und eine Kutsche. Fortschritt besteht nicht darin, den befürchteten Mangel umzuverteilen, sondern das Bessere, Komplexere, für immer mehr Menschen zugänglich zu machen. Das bedingt allerdings auch, dass Menschen sich ändern wollen – in Richtung einer besseren Zukunft.
Ist eine ehrliche, qualitative und »radikale« gesellschaftliche Zukunftsdebatte überhaupt möglich? Vielleicht schon. In Island hat man nach der Finanzkrise, die das Land völlig in die Pleite riss, einen breiten Zukunfts-Bürgerprozess organisiert, in dem sich die Gesellschaft neue, QUALITATIVE Ziele gesetzt hat (und ein Punk wurde Bürgermeister der Hauptstadt).
Neue Demokratieformen mit mehr Partizipation gibt es durchaus – man muss nur hinschauen (etwa ins Ministerium für Bürgerbeteiligung in Baden-Württemberg, wo meine Freundin Gisela Erler neue Formen der Beteiligungs-Demokratie entwickelt). Die Zukunft wird mehr und mehr auf der kommunalen Ebene entschieden. Neben dem viel beklagten Großstadt-Trend gibt es längst eine »Progressive Provinz«, mit charismatischen Bürgermeistern und aktiven Gemeinden, die ihre Identität nicht im Hass gegen Flüchtlinge suchen.
Eine solche Zukunfts-Politik agiert IMMER jenseits von Rechts und Links, von Populismus und Angst. Es ist nicht mehr eine lineare, sondern eine DREIDIMENSIONALE Politik. Sie umfasst nicht nur die Verteilungsachse, sondern auch die Beziehungsebene, den konkreten Menschen, sie setzt auf Innovationen der Systeme und Institutionen. Sie spricht nicht nur die Brieftasche und den Bauch an, sondern das Herz und die Fantasie.
Visionen funktionieren immer dann, wenn sie Menschen zu einem Prozess der Selbstveränderung, der inneren Emanzipation, des NEU-Denkens und NEU-Fühlens animieren. Das ist genau der Weg von Macron, der mit seiner politischen Vitalität auf den Willen Vieler zur Umgestaltung zielt. Seine Kunst ist es, die Verbitterung in Energie umzuformen.
Das heißt auch: Zukunfts-Politik muss provozieren. Sie muss unbequem sein. Sie muss uns in den Komfortzonen der Rechts-Links-Blödheit stören. Sie kann nicht einfach den Frustrierten nach dem Mund reden („die kleinen Leute mitnehmen”), sie muss sie auch zur Aktivität herausfordern.
Letztendes geht es nicht darum, Ängste zu BEDIENEN, wie Linke und Rechte das verzweifelt versuchen, sondern sie in Richtung auf neue gesellschaftliche Kooperationen zu ÜBERWINDEN. Politik kann dabei nur wirken, wenn die Gesellschaft, die »vielen Einzelnen«, selbst bereit für einen Wandlungsprozess sind. Das ist die Erfahrung meiner Generation. Als in der Willi-Brandt-Ära die Parole „Mehr Demokratie wagen” aufkam, wollte eine große Mehrheit genau das.
Alle wichtigen Reformen, man denke an die Schwulenrechte, oder auch die Energiewende, entstanden IN der Gesellschaft – und wurden dann von der Politik aufgegriffen. Auch heute gibt es, allen Unkenrufen zum Trotz, den Willen zum Fortschritts-Wandel aus dem Inneren der Gesellschaft heraus. Neo-Politik besteht in der Kunst, diese Sehnsucht der Herzen zu spüren, ihr Worte und Richtung zu verleihen, jenseits der alten Kisten und Schachteln, in denen der Schnee von gestern moralisch verpackt wird.
Es mag ja sein: Noch sind wir nicht soweit. Noch spürt man wenig von einer Aufbruchsstimmung, dafür umso mehr von Angst und Hysterie. Aber man kann das Politische nicht hetzen. Bis zu neuen Modernisierungs-Mehrheiten ist die vielgeschmähte GROKO einfach des Beste, was wir haben. Wir sollten ihr dankbar sein. Habe ich schon gesagt, dass Dankbarkeit eine wichtige Zukunfts-Eigenschaft ist, vielleicht die wichtigste überhaupt?
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Vor zehn Jahren prognostizierte ich den „Digital Backlash”, den Punkt, an dem die unbegrenzte digitale Euphorie umkippt und sich Ernüchterung, aber auch eine segensreiche Revision breit machen wird. Nun hat es einige Jahre länger gedauert. Aber jetzt ist es soweit. Zum ersten Mal wird weltweit ernsthaft über die Folgeschäden der Sozialen Medien diskutiert.
Die Rolle von Facebook und Twitter in der Trump-Revolution brachte das digitale Fass zum Überlaufen: Kann ein Super-Medium sich vollkommen aus der Frage heraushalten, wie es benutzt wird? Kann das digitale Universum völlig frei von menschlichen Umgangs-Kriterien, von Moral und Wahrheitsfragen bleiben? Nach unendlichen Shitstorms, Cybermobbings, Hass-Blasen, Bot-Plagen und einer weitgehenden Zerstörung der gesellschaftlichen Diskurs-Fähigkeit reiben wir uns die Augen. Und realisieren plötzlich, was im Namen des Götzen Digitalisierung alles geschehen ist.
Das heißt auch, dass es Abschied zu nehmen gilt von den revolutionär-infantilen Euphorien, die mit dem Netz als Freiheitsbringer verbunden waren. Netz-Euphorie war lange Jahre lang so cool, dass Widerspruch zwecklos war. Auf vielen Konferenzen dominierten die stakkato-sprechenden digitalen Jünglinge, die dem andächtig lauschenden Publikum – „Wir sind ja leider keine digital Natives” – lauter wohlklingenden Cyber-Unsinn um die Ohren hauten. Irgendwas Schickes mit Internet der Dinge, Brain-Enhancing, Smart Mobs und rasender Künstlicher Intelligenz.
Bis vor kurzem galten die „Influencer” als die großen Popstars der Gegenwart. Jetzt hat zum ersten Mal ein Hotel (in Dublin) die Luft aus der Imagination herausgelassen, indem es einer Influencerin (Elle Darby) die Lizenz zum Schmarotzen entzog. Siehe: www.stern.de/neon.
Selbst Mark Zuckerberg hat heute eingesehen, dass der Wind sich gedreht hat. Er versprach in mehreren Interviews, Facebook radikal „umzubauen”. Nun gut, das kann auch eine Behauptung sein wie „Dieselaggregate werden immer sauberer”. Aber der Trend ist eindeutig und irreversibel. WIRED als Leitmedium des Digitalismus brachte eine Titelgeschichte über „The Great Tech Panic of 2017”, eine gründliche Abrechnung mit den hyperdigitalen Mythen. Längst herrscht eine Art digitaler Depression: In jedem amerikanischen Medium wird heute die Frage der seelischen Folgeschäden von Social Media und die Über-Macht der digitalen Monopolisten debattiert.
Fünfzehn Jahre stiegen die Tech-Aktien der großen Monopolisten (Apple, Facebook, Amazon etc.). Wetten, dass es in den nächsten Monaten dort steil bergab geht?
Viele Märkte des Digitalen stagnieren heute oder erfüllen ihre disruptiven Versprechen nicht. Das digitale Buch hat das Papierbuch nicht ersetzt. Bitcoin bleibt ein Hype (auch wenn Blockchain bleiben wird). Die Virtuelle Realität, der Megahype des vorletzten Jahres, ist in ein paar durchaus sinnvollen Simulationsanwendungen und einigen Spielen steckengeblieben. Ja, Menschen haben diese komischen Brillen auf, aber man kommt sich immer noch einsam in ihnen vor. Der digitale Kaiser steht bisweilen ziemlich nackt da.
Digitalisierung kann weder die Bildungsfrage noch das Gesundheitswesen „erlösen”, dazu braucht es klügere Systeme, nicht nur mehr Daten. Künstliche Intelligenz steckt in Wahrheit noch in einem embryonalen Frühstadium (aber schon fürchten sich alle rund um die Uhr). Wir ahnen, dass sich die hohen Erwartungen an das autonom fahrende Auto so schnell nicht erfüllen werden. Um Autos wirklich vollautomatisch fahren zu lassen, müssen wir alle Städte „digitalistisch” umbauen, und die Autobahnen dazu. Ist das wirklich die Zukunft? Oder nur der feuchte Folgetraum verunsicherter Automanager?
Nein, es geht nicht um eine neue Technikfeindlichkeit. Es geht endlich wieder um KONTEXTE. Um ein tieferes Verstehen des Verhältnisses zwischen Mensch und Technologie. Um digitale Erwachsenheit. Die Internet-Illusion bestand darin, dass man mit dem Digitalen das Menschliche und Zwischenmenschliche, das Bewährte und Analoge einfach ÜBERSCHREIBEN wollte. Diese Illusionen erinnern an viele andere Revolutionen, die sich am Ende als menschenfeindlich herausstellten. Aber ich bin zuversichtlich.
Immer in 20-Jahres-Zyklen kommt es zu einem großen Paradigmenwechsel. Das Pendel schlägt von einer eher linear-technizistischen Weltsicht wieder in eine Humanistische. Die Achtsamkeits-Bewegung mit ihrer Fragestellung, wie der menschliche MIND die Zukunft gestalten kann, statt sie zu erleiden, gewinnt an Stimme.
Die Fragen werden frisch gestellt: „Wie können wir unsere Seelen vor der Überreizung schützen?” „Wie können wir die paranoischen Epidemien stoppen, die den Populismus füttern?” „Wie können wir BESSER DENKEN lernen – um die Zukunft besser zu gestalten?”
Und im Zentrum von allem: „Wie nutzen wir real-digitale Systeme für echten humanen Fortschritt?”
Noch einige Teil-Trends der digitalen Revision:
Facebook Fatigue
Social-Media-Plattformen verlieren inzwischen massenhaft User, weil die tägliche Pflege von Kommunikationsströmen die Menschen auf Dauer überfordert und sozial ermüdet und negative Hass-Feedbacks inzwischen den Spaß verderben. Facebook hat nicht nur Menschen verbunden, sondern auch auf viele Weise das Böse in die Welt gebracht.
Uber-ruption
Das Disruptionsplattform UBER gerät selbst in die Disruption, weil sie den Ausgleich zwischen den Interessen von Fahrern, Passagieren und Stadtregierungen nicht hinbekommt. In ähnliche Probleme driftet AirBnb ab: Nebenvermietungen verwüsten die Wohlstrukturen ganzer Stadtteile.
Twittertropie
Wer sich lange im Radius von Twitter-Botschaften aufhält, verliert die Lust an den 144 Zeichen. Nicht nur Trump zeigt: es handelt es sich meistens um Aufmerksamkeits-Operationen und manipulative Botschaften. Da hilft auch die Verdoppelung auf 288 Zeichen nichts.
Amazorn
Wollen wir wirklich in einer Welt von Lieferwagen-Kolonnen und Drohnen-Schwärmen leben und in unserer Wohnung ständig mit dialogisierenden Lautsprechern sprechen, die uns bereitwillig Klopapier und Beruhigungspillen nachbestellen? Amazon bringt in seinem Wahn, jeden noch so fernen Punkt des Universums mit seiner Lieferlogistik zu verbinden, immer mehr Menschen gegen sich auf. Mehr und mehr auch die Kartellbehörden. Und inzwischen auch die Politik.
RealDigital
Die neuen Synthesen zwischen der sinnlichen, haptischen, menschlichen Welt und den digitalen Möglichkeiten. Plattformen, die auf die Kräfte der realen menschlichen Kommunikation setzten, ohne sie monopolisieren zu wollen. Synthesen zwischen Handwerk und Vernetzung. Die zweite Welle der Internet-Unternehmen, die sich nicht aus der Idee speist, die Welt zu übernehmen und möglichst schnell einen cashout zu veranstalten. Sondern das Digitale für den Menschen und seine Emanzipation zu nutzen.
OMline
Der Zustand, in den wir zwischen der digitalen Echtzeit-Welt und der analogen Real-Welt souverän differenzieren können. Die Kunst, das Smartphone ausgeschaltet zu lassen, wenn man Menschen Auge zu Auge begegnet. Die Fähigkeit, in Familien, Freundesgruppen, Business-Kontexten zu leben, ohne dauernd gestört, genervt, abgelenkt zu sein. Die Einsicht, zu verstehen, dass das der eigene Wert nicht von der Anzahl der LIKES abhängig ist.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Was der Humanistische Futurismus über die Zukunft der Sprachassistenten zu sagen hat.
Januar 2018
Ein technologisches Gespenst geht um – wieder einmal. Eine Technologie spaltet die Gemüter. Die einen können sich vor lauter Zukunfts-Euphorie gar nicht mehr einkriegen: KÜNSTLICHE INTELLIGENZ kommt jetzt in unsere Haushalte, wird unser Privatleben einfach und genial komfortabel machen! Die anderen sehen die finale Versklavung des Menschen durch die kapitalistische Digitalindustrie kommen. Die Rede ist von den neuen Sprachassistenten: Google Now, Alexa von Amazon, Siri in Lautsprecherform, demnächst wird auch Facebook einen sprachlich versierten Assistenten auf den Markt bringen.
Sascha Lobo schreibt zum Thema in seiner SPIEGEL-Kolumne:
In jeder deutschen Fußgängerzone wäre man vor 30 Jahren blau geschlagen worden allein für die Frage, ob man eine „Wohnzimmerwanze“ kaufen würde, die jedes Wort nach Amerika funken kann… Die Weltmacht Bequemlichkeit schlägt alles, sogar deutsche Bedenken. Wer 2008 ein Smartphone mit Touchscreen in die Hand nahm, spürte, die physische Handy-Tastatur ist alt. …Jetzt zieht das Reden mit dem Netz herauf, Smart Speaker mit digitalen Assistenten, angetrieben von sogenannter künstlicher Intelligenz…. Das mag auf manche wirken wie ein Rückschritt, aber es ist das Gegenteil: „progress of no return“, Fortschritt ohne Wiederkehr. Die Plattformkonzerne, die heute für so viele das Netz sind, erobern die älteste Kommunikationsform der Menschheit: das Gespräch. Und alle machen mit. Alexa regiert Deutschland. www.spiegel.de/netzwelt
Weltmacht Bequemlichkeit. Fortschritt ohne Wiederkehr. Das ist wunderbar formuliert. Aber setzt sich tatsächlich alles, was technisch und spektakulär erscheint, im Lebensstil und Massenmarkt durch? Dann würden wir heute alle mit Flugautos durch die Luft fliegen, Rucksack-Atomkraftwerke nutzen und uns nur noch von Pillen ernähren, wie es in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts prophezeit wurde. Mit der Denkungsart des technologischen Determinismus hat sich die Zukunftsforschung (und der Feuilleton-Journalismus) schon oft blamiert. Ohne dass es weiter auffiel. Schließlich wurde bald die nächste Super-Technologie durchs Dorf getrieben, die „garantiert“ alles radikal umwälzen wird….
Ich möchte diesem Schwarzweiß-Denken einen anderen Prognose-Ansatz gegenüberstellen: Den Humanistischen Futurismus.
Humanistischer Futurismus stellt den Menschen in den Mittelpunkt der Zukunft. Er fragt vom „Humanum” aus, was am Ende der Nutzen, der wahre Fortschritt einer Technik sein wird.
Humanistischer Futurismus sieht die Zukunft nicht als zwangsläufiges Ergebnis von linearen technischen Trends. Sondern als Evolutionsprozess. Mensch und Technik befinden sich in einer ständigen dynamischen Co-Evolution. Menschen adaptieren sich zwar an Technik, aber nie vollständig und immer „ungenau”. Technik passt sich auf dem Wege der Flops und Hypes an menschliche Bedürfnisse an. Der so genannte Exaptations-Effekt (Ablenkung des technischen Pfades) führt dazu, dass Techniken oftmals nicht so genutzt werden, wie sie geplant waren.
Humanistischer Futurismus setzt sich auch mit den „Future Biases”, den Verzerrungen auseinander, denen das menschliche Hirn beim Prognostizieren unterliegt. Wir GLAUBEN gern an das, was wir fürchten. Wir sehen gerne Gespenster an der Wand, wenn das Feuer flackert. Das haben wir in der Ur-Höhle gelernt, in einer Zeit, in der es zum Überleben sinnvoller war, Ängste möglichst dramatisch zu übertreiben.
Humanistischer Futurismus versucht, komplexe Kontexte zu verstehen. Jeder Trend erzeugt einen Gegentrend. Aus Trends und Gegentrends entwickeln sich neue Synthesen. Die Zukunft entsteht in lebendigen Wechselwirkungen, in Synthesen und Symbiosen. Um diese zu verstehen, braucht man eine ganzheitliche Sicht der werdenden Dinge.
Meine Prognose zu den Sprachassistenten:
Manche Techniken oder Technologien scheitern am Markt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln. Aus manchem Hype ist über Nacht schon ein Flop geworden. Man denke an Google Glass, diese semivirtuelle Superbrille, die im Massenmarkt scheiterte und heute nur in kleinen Nischen in Gebrauch ist – bei der Lagerarbeit, bei Kampfpiloten. Sprachassistenten werden eine größere Nische erobern, das ist klar. Aber werden sie auch Massen-Geräte, die in jedem Haushalt zu finden sind, wie Kühlschränke oder Dunstabzugshauben oder Fernsehgeräte?
Es gibt Leute, die sprechen gerne mit Maschinen. Aber es gibt auch eine Menge Menschen, denen das auf keinen Fall tun werden. Nicht, weil sie Angst vor BIG BROTHER haben. Sondern weil sie es als extrem unangenehm empfinden.
Das ist das sogenannte Uncanny-Valley-Syndrom – das Tal des Unwohlseins. Wenn man Roboter sehr menschenähnlich konstruiert, dann erzeugt der Umgang mit ihnen ein tiefes Verunsicherungsgefühl. Für Autisten oder Psychopathen, auch für viele Japaner, spielt das keine große Rolle. Aber für andere Menschen erzeugt der Umgang mit einem sehr menschenähnlichen Roboter ein existentielles Schwindel-Gefühl. Das liegt daran, dass wir von der Evolution auf die verlässliche seelische Wahrnehmung eines Gegenübers geprägt sind. Wir wollen wissen, ob wir es mit einem echten Menschen zu tun haben. Einem Geist oder einer Person. Unser soziales Hirn ist darauf angewiesen, diese Unterscheidung zu treffen. Für unsere Psyche geht es hier ums Überleben.
Sprachassistenten erzeugen ziemlich schnell eine personale Illusion. Kinder fragen Siri sofort nach ihrer Lieblingsfarbe und ihren besten Freunden. Menschliche Stimmen führen sofort zu einem hohen „Anthropomorphing”-Effekt – wir projizieren menschliche Eigenschaften in die Maschine hinein. Und hier liegt das erste Paradox dieser Technologie: Je „klüger” die Assistenten werden, desto irritierter reagiert unsere Psyche.
Obendrein erzeugen Sprachassistenten ein hohes Maß an sozialer Interferenz. Sie stören, wenn mehrere Menschen im Raum sind die feinen Abstimmungen der sozialen Kommunikation. Im Auto und in Single-Haushalten funktionieren sie ganz gut. Aber wenn man nicht allein ist, führen sie zu Aufmerksamkeits-Problemen: Mit wem redest Du? Flirtest Du mit mir oder mit Siri? Computerpsychologen haben dafür den Namen Camilla-Syndrom erfunden.
Das zweite Hindernis für einen breiten Massenmarkt ist die Komplexität. Wenn man das Licht oder die Musik steuern will, muss das Gerät mit Spotify und dem Lichtbus-System verbunden sein. Dadurch eignet es sich auf Dauer nur zum Gebrauch in hochvernetzten Haushalten. Der Markt für „Smart Homes” kommt aber nur langsam in Gang. Aufwand und Wartung, die ständige Neuprogrammierung von „intelligenten Häusern” erfordert immer noch enormen Zeit- und Aufmerksamkeits-Aufwand.
Mechanische Lichtschalter liegen inzwischen übrigens wieder im Trend.
Das dritte Hindernis für einen Massenmarkt der Assistenten möchte ich die „Kommunikative Disruptions-Illusion” nennen. Wir glauben fälschlicherweise, dass alle neuen Kulturtechniken die alten komplett abschaffen. Doch das Fernsehen hat nicht das Kino abgeschafft, die Zeitung nicht das Flugblatt, Videotelefonie nicht das akustische Telefonieren, und das E-Book nicht das analoge Buch auf Papier. Der Buchumsatz hat in den letzten Jahren nur um wenige Prozent abgenommen, und wenn nicht alles täuscht, erlebt das Lesen demnächst eine Renaissance. Und so wird das Reden mit Computern nicht die anderen Eingabemedien ersetzen.
„Eine neue Kommunikationsform verdrängt eine alte nicht, sondern führt diese auf ihre eigentliche Stärke zurück”.
Wolfgang Riepl, ein Historiker, formulierte das bereits 1909. So hat das Internet zwar das Fernsehen disruptiert, aber auch zu epischen Erzählweisen (zurück)geführt. Das Netz hat die alten Zeitungen zerlegt. Aber nun erlebt Qualitätsjournalismus eine Renaissance. Ebenso wie der Füllfederhalter.
Sprachsteuerung erscheint im ersten Moment enorm convenient: man braucht kein Interface und keine Finger mehr, wie schön! Aber das Interface „Mund und Hirn” ist komplizierter als man denkt. Im Dialog mit diesen Maschinen muss man formulieren, was man will, oder zu wollen glaubt, man muss ständig argumentieren, neuformulieren, modulieren…
Wissen wir überhaupt, was wir fragen wollen? Wissen wir, was wir wollen?
Vielleicht wird am Ende alles ganz banal. Ich vermute, dass den meisten Käufern die intelligenten Assistenten schnell langweilig werden. Auch wenn Millionen verkauft werden und maschinelles „deep learning” angeblich bald jede Frage beantwortet, halten sie nicht, was sie versprechen. Oder sie gehen einem mit ihrer Halbmenschenart auf die Nerven. Irgendwann stehen sie nur noch auf der Kommode und verstauben. Oder werden nur noch für Insel-Lösungen benutzt, wie das Aufrufen der Musik-Bibliothek. Dann wandern sie, wie so viele unserer intelligenten Gadgets, in den Keller. In die Schublade mit dem Elektronik- und Digitalmüll. Haben sie mal in ihre eigene digitale Entsorgungskiste geschaut, was da alles schon drin liegt? iPods und iWatches, unzählige Bluetooth-Lautsprecher und WLAN-gesteuerte Zahnbürsten, Black Boxes und Top Boxes, jede Menge intelligenter Fitnessbänder (auch das ein Markt, der einmal einen Mega-Markt versprach). Und Kabel, Kabel, Kabel, obwohl wir doch längst in der drahtlosen Zeit leben (sollten).
Humanistischer Futurismus ist auch die Kunst, mit technischen Desillusionen zu leben. Und dabei trotzdem die Zukunft zu sehen.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
„Er musste erst mit dem Kopf gegen die Bäume rennen, ehe er merkte, dass er auf dem Holzweg war.”
Wilhelm Busch
Wenn sich das Jahr rundet, fassen viele Menschen gute Vorsätze. Man kann geteilter Meinung sein, ob das sinnvoll ist. Aber auch ich möchte am Ende dieses Jahres 2017 einen Vorsatz fassen:
Ich möchte in Zukunft BESSER IRREN!
Am Jahresende kommen viele Journalisten zu mir. Und wollen wissen, was denn das Jahr 2018 so „bringen wird“. Als handele es sich bei der Zukunft um eine Art Bescherung. Dabei wird mir als Erstes keine Frage häufiger gestellt als diese: Wie oft haben Sie mit ihren Prognosen danebengelegen?
Das ist einerseits eine sehr verständliche Frage. Gleichzeitig ein bisschen naiv. Ebenso könnte man einen Politiker fragen, wann er denn gerade geschwindelt hat, einen Richter, wann er ein Fehlurteil gesprochen hat, oder einen Journalisten, wo er gerade die Wahrheit verdreht hat. Wir sind alle “self-biased”: Wir können uns, selbst wenn wir es wollen, nur schwer selbst einschätzen. Vor allem, wenn es um die Wahrheit geht (frei nach Karl Valentin).
Das Seltsame ist, dass die Journalisten eigentlich nicht das geringste Interesse an der Antwort haben.
Ich weiß nicht, woran das liegt. Aber immer, wenn ich anfange zu antworten, wenden Sie sich schon rein körperlich ab. Der Stift, mit dem sie sich Notizen machten, senkt sich müde der Stuhllehne zu. Dann verschwindet er irgendwie in der Jackentasche. Sie wechseln das Thema.
Was ist denn nächstes Jahr denn so angesagt?
In diesem Moment ahne ich, dass es bei der Zukunft gar nicht um die Zukunft geht.
Und bei Prognosen eigentlich nicht um Prognosen.
Aber um was dann?
Vielleicht ist es die wahre Aufgabe des Futuristen, möglichst sinnvoll zu irren.
Hier also mein erster Irrtum:
Im Jahr 2005 habe ich auf einer öffentlichen Veranstaltung gesagt: Von Facebook wird in 5 Jahren niemand mehr reden!
Zu meiner Verteidigung kann ich nur die damalige Lage anführen: Der “Neue Markt” war 2001 mit dem ersten Digital-Crash zusammengebrochen. Die digitale Revolution fraß – einstweilen – ihre Kinder. Es herrschte eine Art Wildwest-Atmosphäre, in der sich schnell neue Startups gründeten, die rasch wieder verglühten. Internet-Giganten wie AOL, MySpace, Yahoo waren an einem Tag riesig, am nächsten Tag wurden sie schon aufgekauft oder gar eingestellt.
Ich ahnte damals, dass mit Facebook ein riesiges Problem auf uns zukommen würde. Es war klar, dass Facebook eine monopolitische Strategie verfolgen würde – ein riesiger Datenstaubsauger. Und dass der Algorithmus der Sozialen Netzwerke fatale Auswirkungen auf unsere kommunikativen Strukturen haben würde. Shitstorm und Cybermobbing, Hass-Speech und Verschwörungs-Blasen – Netz-Narzismus und digitale Dumpfheit – all das war schon am Horizont absehbar. Facebook basiert auf einem kommunikativen Feedback-Fehler. In der Herrschaft der Likes entsteht lediglich die ILLUSION von Beziehung. 1.000 Freunde sind keine Freunde mehr. Das aber muss früher oder später ins Unglück, in den Hass oder den Fake führen.
Ich war zornig, dass meine geliebte digitale Revolution erhebliche Nebenwirkungen zu zeigen begann. Ich unterschätzte völlig den Plattform-Effekt – jene Magnetwirkung, mit der unweigerlich alle Nutzer auf EINE Plattform gesogen werden. Ich ging davon aus, dass sich in der Dynamik der Startup-Kultur die “richtigen” Sozialen Netzwerke durchsetzen würde – Firmen, die von echtem, humanistischen Enthusiasmus getragen wurden. Die sich Gedanken über die Folgeschäden ihrer Geschäftsmodelle und Codes machen würden. Und sie korrigierten. Wishful Thinking.
Ein typischer blauäugiger Prognose-Fehler: Man wünscht sich etwas. Man hofft auf den Sieg des Guten. Man moralisiert. Man erklärt zur Zukunft, was man präferiert.
Mein zweiter Zukunftsfehler, vom dem ich berichten möchte, fand auf politischem Feld statt. 2014 war ich zu einem Kamingespräch einer konservativen deutschen Partei eingeladen. Im kalten Januar saß ich mit etwa 100 Parteimitgliedern, dabei einige Landtags-, Europa-, Bundestagsabgeordnete, vor einem Kamin, in dem allerdings kein Feuer brannte. Das Thema lautete “Die Zukunft der Politik”.
Vorsichtig tastete ich mich vor. Ich versuchte, die Möglichkeiten einer systemischen Politik anzusprechen. Das Zeitalter von Links und Rechts, so meine These, geht zu Ende. Die alten Spaltungen der politischen Lager, die das Industriezeitalter geprägt hatten, sind obsolet geworden. Das ist der Grund für die derzeitige politische Verwirrung: Die alten Achsensysteme des Politischen funktionieren nicht mehr, die Verantwortungs-Ebenen stimmen nicht mehr mit der globalen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts überein. Ich stellte den Begriff der GLOKALisierung vor. Nach der Parole “Global denken, lokal handeln”, würde sich in der Zukunft eine neue SYNTHESE zwischen dem Globalen und dem Lokalen, zwischen Heimat und Weltoffenheit, Lokalität und Universalität durchsetzen.
Dabei wird politische Macht einerseits an die höhere, europäische, andererseits an die lokale Ebene abgegeben. Im Lokalen ist Demokratie erfahrbar, konkret und praktisch, ein Bürgermeister als Ideologe ist immer fehl am Platz. Das Nationale hingegen ist den großen globalen Problemen nicht mehr gewachsen und muss deshalb an Wichtigkeit verlieren. Würde nicht auf Dauer ein Europa der Regionen mehr Sinn machen als der ewige Streit der Nationen? Und ist das nicht auch die Grund-Idee des wahrhaft Konservativen – Subsidiarität?
Ich biss auf Granit.
Im Publikum saßen eine Menge junge Männer mit Seitenscheitel und strammem Blick. Sie meldeten sich der Reihe nach zu Wort. Und insistierten mit scharfer Stimme, dass doch wohl eher das NATIONALE die Zukunft des Politischen ausmachen würde! Der Nationalstaat sei nun mal das originäre Gefäß, in dem Geschichte gestaltet wird! Europa – es war die Zeit der Griechenlandkrise – sei ein künstliches, bürokratisches Konstrukt!
Die feschen Jungs sollten recht behalten. Die Polarisierung zwischen den ideologischen Lagern ist in den letzten Jahren zurückgekehrt. Der Nationalstaat erlebt in einigen europäischen Ländern eine reaktionäre Renaissance, und Trump hat mit seinem „Amerika zuerst!“ eine Zeitenwende eingeleitet.
Wie man sich doch irren kann…
Oder doch nicht?
Der dritte Irrtum betrifft den Kern-Schauplatz des Futurologischen: die Technologie. Dazu muss ich – zum besseren Verständnis – sagen: Ich bin ein Digital Native der ersten Stunde. Meinen ersten Computer, einen C64, kaufte ich in den 80-er Jahren. Ich habe sogar ein bisschen Programmieren gelernt (heute nennt man das „coding“). Ich bin in keiner Weise technikfeindlich, war immer ein glühender Verfechter der digitalen Möglichkeiten.
Und gerade deshalb skeptisch, ob alle Versprechungen des Technologischen immer auch so eintreten, wie sie uns verkauft werden.
In meinem Buch “Technolution” von 2008 wurde diese Skepsis in Bezug auf das iPhone deutlich, das gerade auf den Markt gekommen war:
„In der Tat hat die Idee eines All-in-One-Gerätes etwas Plausibles. Trotzdem bleibt es, so meine These, eine Missgeburt der Innovationsgeschichte, eine Monstrosität… Komplexität hat Folgekosten, die in sinkendem Grenznutzen von Einzelfunktionen bestehen. In der Natur gibt es nur wenige überlebende Universalisten (zum Beispiel den Menschen). Wer im Baumarkt Werkzeuge kauft, denkt oft daran, die Vielzahl der benötigten Geräte zu reduzieren. Er erwirbt Kombigeräte, Zangen, die Schraubenzieher im Griff haben. Bohrmaschinen, mit denen man auch hämmern, schleifen kann. Die Erfahrung ist immer die Gleiche: Nach ein, zwei Jahren liegt das Kombigerät in der hintersten Ecke des Werkzeugschranks, während der alte Hammer mit dem abgesplitterten Griff immer noch benutzt wird.” (Technolution S. 59)
Tatsächlich ist das Smartphone DIE Universalmaschine unseres Lebens geworden – vom Kalenderführen bis zum Pulsmessen, vom Zahlmittel bis zur Meditations-Uhr, vom Bordkarten-Lesegerät bis zur Schlafhilfe… WO hatte ich falsch gedacht?
Oder hatte ich gar nicht SO falsch gedacht?
In seinem aktuellen TED-Vortrag „Why our screens make us less happy” schlägt Adam Alter vor, EINZELNE Funktionen des iPhones abzuschalten. “Am Wochenende nur auf Flight Mode. Dann kann man noch die Kamera verwenden, aber sonst nichts.”
Frenetischer Beifall. Ich kenne in meinem Bekanntenkreis bereits -zig Leute, die sich demnächst ein einfacheres Smartphone, ja sogar wieder ein „Handy“ kaufen wollen, oder nur noch bestimmte Funktionen benutzen. Keiner, den die endlosen Code-Eingebungen und Störungen, die das universelle Smartphone mit sich gebracht haben, nicht zutiefst nerven würden.
Was derzeit boomt, sind Füllfederhalter. Büttenpapier. Polaroid-Filme kommen wieder. Vinyl-Platten. Bibliotheken. „Die Rückkehr des Analogen“ haben wir diesen Trend genannt.
Könnte es sein, dass man eine Prognose nur hartnäckig so lange aufrechterhalten muss, bis sie dann irgendwann DOCH NOCH eintritt?
So einfach ist es sicher nicht. Aber hinter einer Prognose steckt immer ein System – ein weiterreichender Zusammenhang. Eine Prognose ist ohne System wertlos. Und vice versa.
Facebook, revisited.
Mehr als ein Jahrzehnt nach meiner blauäugigen Fehlprognose mehren sich die Anzeichen für einen Tipping Point. Viele Nutzer sind so genervt von den Zumutungen der sozialen Medienwelt, von den Nervositäten und Verheerungen, die das ständige „Ich bin da!“ in unserem Alltag anrichten, dass sie sich wieder verabschieden. Dass viele Accounts veröden, schlägt sich in der Statistik noch kaum nieder. Aber man kann spüren, dass der Hype seinen Zenit überschritten hat.
Nach der russischen Beeinflussung der US-Wahl kann Facebook den Hass und die Desorientierung, die sein Algorithmus hervorruft, nicht mehr leugnen. Das Konstrukt „Wir sind für die Inhalte nicht verantwortlich!“, mit dem Facebook jahrelang operierte, neigt sich dem Ende zu.
In diesem Jahr, 2017, meldeten sich ehemalige Facebook-Manager zu Wort, wie Chamath Palihapitiya, der öffentlich bekundete, dass Facebook „die Gesellschaft auseinanderreißt“. Sean Parker, einer der Gründer, sagte in einem vielbeachteten Interview, „den Facebook-Gründern sei von Anfang an bewusst gewesen, dass das soziale Internet die Psyche von Menschen manipuliere. Aber wir haben es trotzdem gemacht!“ (siehe: www.faz.net)
„Soziale Medien nutzen eine Schwäche in der menschlichen Psyche aus. Sie ändern unseren Umgang mit der Gesellschaft und untereinander. Der Dopamin-Kick durch die unmittelbare soziale Bestätigung wirkt toxisch auf unsere Seelen. Gott allein weiß, was das mit den Gehirnen unserer Kinder macht.“
Sudan Wu, einer der Ur-Investoren von Silicon Valley, äußerte sich kürzlich in einem flammenden Aufruf im digitalen Zentralorgan WIRED:
It’s crystal clear that Silicon Valley’s chief executives are no longer merely startup founders… They’re societal leaders too, oligarchs shaping the very nature of our identities, communications, and relationships. In a world where software and algorithms run almost every part of our lives – where Google and Facebook control close to 70 percent of all digital advertising, and smartphone penetration is nearing 80 percent – creating innovative software and launching indispensable apps is no longer enough. Racking up a stratospheric market valuation without significant consideration of the product or company’s broader societal impact is reckless and irresponsible.
Es ist kristallklar, dass die Chefs von Silicon Valley nicht mehr nur einfach Startup-Gründer sind… Es sind gesellschaftliche Führer, Oligarchen, die die Natur unserer Identitäten, Kommunikationen und Beziehungen formen… In einer Welt, in der Software-Algorithmen bald jedenTeil unseres Lebens formen, Google und Facebook 70 Prozent des digitalen Anzeigengeschäfts dominieren und Smartphones eine Abdeckung von 80 Prozent erreichen, ist es nicht mehr genug, innovative Software und unverzichtbare APPS zu produzieren. Eine übermächtige Marktmacht anzuhäufen ohne den breiteren sozialen Impact des Unternehmens zu berücksichtigen, ist rücksichtslos und unverantwortlich!
Im Netz tobt endlich eine riesige Debatte und auch die Politik reagiert. Oder WIRD reagieren. Facebook wird nicht verschwinden, aber dieses riesige „Menschenexperiment“ (Elke Schmitter) wird in eine neue Stufe übertreten. Allein in Berlin wurden 1.500 „Hass-Moderatoren“ eingestellt. Es scheint heute nicht mehr unmöglich, dass sich eine echte Alternative zu den Datenkraken entwickelt. Dass Staaten die digitalen Plattform-Konzerne einschränken oder gar zerschlagen.
Und der home-run des Nationalismus? Auch hier gibt es paradoxe Wirkungen. Der BREXIT hat die Zustimmung zu Europa eher erhöht; ausgerechnet im neonationalistischen Polen liegt die Zustimmung der Bevölkerung für das europäische Projekt bei 75 Prozent. Und die neuen Separatismus-Bewegungen? Nein, das muss nicht heißen, dass wir einen neuen europäischen Bürgerkrieg schlittern. Jakob Augstein schrieb in seiner SPIEGEL-Kolumne im Oktober 2017:
Die Katalanen zeigen eben nicht die hässliche Fratze des Nationalismus, sondern lassen ihre Nationalfahnen bei „Refugees Welcome“- Demonstrationen wehen. Von wegen dahrendorfsche Dystopie der Stammesgesellschaft. In Barcelona wird ein fröhlicher, moderner, pluralistischer Patriotismus gefeiert, der seine Heimat im Herzen Europas finden will!“
Produktives Zukunfts-Munkeln:
Man kann sich irren, auch wenn man recht hat.
Damit keine Missverständnisse auftreten: Ich will meine Fehler nicht kleinreden. Ich war blöd, blauäugig, ich lag daneben. Punkt.
Aber je mehr ich im Zukunftsgeschäft tätig bin, desto mehr denke ich aber darüber nach, was der wahre Sinn und Wert von „Prognosen“ ist. Im Rahmen von Management-Consultings habe ich allzu oft erlebt, welche fatalen Nebeneffekte der Glaube an eine einzige präzise End-Prognose haben kann. Nicht selten wünscht sich das Management eine sichere, deterministische Welt – die Konsequenz ist eine Art Planwirtschaft mit sehr kurzfristigen Horizonten.
Wie groß ist denn der Markt für Elektroautos in den nächsten zwei Jahren, Herr Horx? Bitte in genauen Zahlen! Sehen sie! (dann manipulieren wir halt die Abgaswerte…).
Gute Prognosen lassen uns stattdessen mit einer Zukunft in VERBINDUNG treten. Sie lassen uns die Gegenwart aus der Perspektive einer zukünftigen LÖSUNG sehen. Eine gute Prognose leitet Licht durch den Spalt des Wandels und zeigt, welche Prozesse darunterliegen. Gute Prognostik fällt nicht nur eine „Sachprognose“, sondern auch eine „Metaprognose“ – sie beleuchtet die Dualität von Trend und Gegentrend. Sie macht eine Evolutions-Diagnose.
Prognosen sind dann sinnvoll, wenn sie uns helfen, die Welt mit neuen, komplexeren Augen zu betrachten.
Mein Neujahrs-Vorsatz: Ich werde vorsichtiger mit kurzfristigen Zustands-Prognosen sein – und gleichzeitig hartnäckiger, was die systemischen KONTEXTE betrifft.
Ich werde noch besser zwischen (linearen) Trends und (komplexer) Zukunft unterscheiden.
Außerdem warte ich immer noch darauf, dass mich jemand fragt, wo ich denn RECHT hatte…
Aber das ist eigentlich nicht so wichtig. Es geht ja nicht ums Rechthaben. Es geht um besser irren! Schöner irren! Endlich RICHTIG irren!
Ich wünsche Ihnen von Herzen ein erleuchtetes 2018!
Buchtipp:
Großartig ist Jaron Laniers neues Buch „Dawn of the New Everything – über die Entstehung der Virtuellen Realität, die Fehlsteuerung des Internet und die KI-Illusion”. Jaron ist ein Prophet, der den Mut hatte, zu irren – und dabei Recht behielt. Einstweilen nur in Englisch erhältich auf [amazon_link asins=’1627794093′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’582c50c6-0046-11e8-8e77-6387067fdb87′].
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Braucht Deutschland allerschnellstens eine neue Regierung?
Dezember 2017
„Die wahre Entdeckungsreise besteht nicht darin, dass man nach neuen Landschaften sucht. Sondern dass man mit neuen Augen sieht.”
Marcel Proust
Auf unserem letzten Zukunfts-Tag hielt die Philosophin Nathalie Knapp eine Rede, in der sie die Kraft der Unsicherheit pries. Dabei deklarierte sie das Publikum zu einer Versammlung von „Göttern“, die über das Wesen der Zukunft Entscheidungsmacht hatten. Sie könnten, wenn sie denn wollten, jede Zukunfts-Unsicherheit nach dem Vortrag einfach per Abstimmung abschaffen. Zack – und für immer wäre alles Unsichere aus der Welt.
Die Briten würden dann nicht für den Brexit stimmen, beziehungsweise gestimmt haben. Der Troll Trump würde nicht zum US-Präsidenten gewählt worden sein, sondern Hillary, die alles so weiter gemacht hätte wie wir es von Amerika gewohnt sind. Die Jamaika-Koalitionäre hätten sich problemlos geeinigt und Deutschland hätte längst eine stabile Regierung.
Unser Partner würde sich immer klar und liebevoll und eindeutig verhalten – niemals käme Zweifel auf, ob und wie die Liebe hält. Die Bankzinsen lägen bei konstant fünf Prozent. Die Bundesbahn würde ihre Züge mit uhrwerkhafter Genauigkeit fahren lassen. Man müsste sich niemals über pubertierende Kinder aufregen, die zu viel Videospiele spielen oder auf Smartphones starren. Und so etwas obskur-monströses wie Bitcoin gäbe es einfach nicht. Geschweige denn „Künstliche Intelligenz“ oder ähnliche Zukunfts-Menetekel.
Wäre das nicht wunderbar? Wenn alles so wäre, wie wir es immer schon erwartet haben, gewohnt sind, uns in unserem Sicherheits- und Kontinuitätsbedürfnis wünschen?
Das ist vielleicht der größte Wunsch unserer Zeit: Dass endlich alles still wird. Das plötzlich alle Unsicherheit einer großen, tiefen Gewissheit weicht. Nichts anderes ist der Kern des alten Weihnachtsmythos.
Wie macht man die Welt wieder frisch?
So lautete hingegen die zentrale Frage des polnischen Philosophen Zygmund Baumann in seinen letzten Lebensjahren. Antwort: Durch ausgehaltene Unsicherheiten.
Unsichere Zeiten, sagte Nathalie Knapp, sind in Wahrheit fruchtbare Zeiten. Sie verändern unseren Blick, wenn wir sie aushalten. Sie ermöglichen uns neue Wahrnehmungen. Plötzlich wird das scharf, was vorher unscharf war. Plötzlich wird sichtbar, was früher unter dem Lärm der Erwartungen verborgen blieb.
Zum Beispiel die Politik. Etwas Überraschendes ist passiert. Obwohl Deutschland keine aktive, sondern nur eine amtierende Regierung hat, fahren die U-Bahnen weiter, fliegen die Flugzeuge, werden Kinder geboren, ringen Firmen um Marktanteile, boomt die Börse. Die Weihnachtsmärkte sind voll mit fröhlichen Leuten, und die Weihnachtsfeiern sind, nun gut, wie immer. Der Euro ist ein kräftiges Zahlungsmittel und eigentlich dreht sich die Erde weiter um die Sonne, obwohl es in den Meinungszeitungen unentwegt raunt, es müsse sogleich eine gigantische Krise über uns fallen, wenn es keine „starke Regierung“ gibt.
Könnte es sein, dass die Gesellschaft in ihrer Selbstorganisation inzwischen viel weiter, viel autonomer und robuster ist, als wir denken? Und die große Politik womöglich gar nicht mehr so existentiell für unser Leben ist, wie uns das in jeder Talkshow, jeder Politik-Diskussion ständig vorgemacht wird?
Wenn man die Unsicherheit aushielt, konnte man sehen: Die Verhandlungen der Jamaika-Koalition sind daran gescheitert, dass zwischen den Parteien immer noch die ideologischen Kriege der Vergangenheit geführt werden. Weltbild-Schlachten, die längst ihren Sinn verloren haben. Und hinter denen nicht selten private, individuelle Nöte verborgen sind. Narzissmen, die sich im Politischen nur tarnen.
Gesellschaftliche Spaltungen werden aus Angst gemacht. Dabei geht es immer um die Frage: Kooperation oder Konflikt. Populismus nutzt den Konflikt, die Bösartigkeit, um die Unsicherheit zu beenden. Es eröffnet sich aber auch ein anderer Weg: Selbstbewusste Gelassenheit. Warum nicht eine Minderheitsregierung probieren, die zu einer neuen Debattenkultur führen könnte, in der man sich gegenseitig mehr zuhören müsste? Warum nicht eine offene Kooperation statt einer Groko? Müssen wir politisch immer im alten Muster weitermachen, bin in alle Ewigkeit?
Reale gesellschaftlicher Entscheidungen, so können wir erkennen, verlagern ihr Standbein zurück ins Lokale, Pragmatische. In einer Gemeinde, einer Stadt, steht der Bürgermeister in einer direkten Beziehung zu den Bürgern. Rechts und Links zählen da wenig. Deshalb gibt es jetzt das „Parlament der Globalen Bürgermeister“, das sich längst entscheiden hat, die Klimapolitik in die eigene Hand zu nehmen. Das Lokale wird als Bezugsgröße der Demokratie wichtiger, und gleichzeitig das Globale. Oder Europäische. Die neue politische Ordnung wird GLOKAL. Heimat und Planet, das sind die wichtigen Achsen unsrer Existenz. Der Nationalstaat ist hingegen in vieler Hinsicht überfordert, zu groß, zu klein zugleich, schwerfällig und anfällig für den populistischen Virus.
Politik neu zu denken, jenseits der ideologischen Bunker, als dynamische MODERATIOn gesellschaftlicher, ökonomischer, technologischer Kräfte – das ist das große Zukunftsprojekt, das den Rückfall in den Nationalismus aufhalten kann. Dabei sind wir nicht am Anfang. Die skandinavischen Länder, die Schweiz, Kanada, die Macron-Bewegung zeigen, wie man vom Jammern und Spalten zu einer neuen Dynamik kommen kann. Macron und seine Bewegung sind weder links noch rechts. Sie sind zukunftsorientiert. Darum geht es. Aber es funktioniert nur, wenn es einen Bewusstseinswandel gibt.
Die Welt wird wieder frisch, wenn wir unsere seelischen Perspektiven ändern. Wenn wir von den Lösungen, nicht den Problemen her denken. Das heißt: der Unsicherheit den Raum schenken, der ihr gebührt. Nur so entwickelt unser Hirn das, wozu es von der Evolution geschaffen wurde: neue Konnektome.
Ich wünsche Ihnen ein frohes Weihnachtsfest!
Die nächste Kolumne erscheint als Neujahrsbotschaft.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Wie man den Kopf vom hysterischen Medienmüll wieder frei bekommt – und die Zukunft zurückkehrt.
Dezember 2017
Immer Anfang Dezember gehe ich auf Süßigkeiten-Diät. Diese Lawine an Lebkuchen, Stollen, Plätzchen, die in den Adventstagen unentwegt ins Haus gespült wird, ist des Teufels. Aber nicht, weil ich Süßigkeiten nicht mag, sondern weil das ZUVIEL den Geschmack verdirbt. Es ist wunderbar, WIRKLICH frischen Lebkuchen zu essen! An Weihnachten! Aber nicht, wenn man schon so übersättigt (und überzuckert) ist, dass sich ein breiiges, klebriges Gefühl im Körper und in jeder Pore ausbreitet, so dass jeder Genuss auf der Strecke bleibt.
Ich tue das nicht, um Askese zu üben, sondern aus hedonistischen Gründen (und auch ein bisschen um nicht fett zu werden).
Ähnlich geht es mit mit den Medien. Ich habe mein Leben lang tausende von Büchern gelesen, jeden Tag ein, zwei Tageszeitungen gelesen, so gut wie alle Ausgaben von STERNSPIEGELZEIT, zumindest die wichtigsten Artikel. Ich habe Millionen von Features, Talkshows, Debatten reingezogen. Serien geschaut, alle skandinavischen. Alle SciFi-Filme geschaut. Und dann kamen die vielen, vielen Websites, unendlich viele Studien, all das, was das Netz an Überfülle mit sich bringt – und dann auch noch die Kommentare. Und die Kommentare zu den Kommentaren. Ein Zukunftsforscher muss das alles wissen, kennen, beurteilen, verstehen…
Oder nicht?
Seit etwa einem Jahr, genauer, seit der Wahl von Trump, versuche ich es in regelmäßigen Abständen mit MEDIENFASTEN. Das ist eine echt interessante Erfahrung. Wenn die endlosen Clicks und Links plötzlich aufhören, die Ketten von Erregungen und Gegenerregungen, von Debatten und Streitereien, von Vermutungen, Meinungen und Meinungen über Meinungen, die sich wie eine einzige chronische Entzündung durch unseren memetischen Kosmos ziehen. Wenn die jeweiligen Untergänge plötzlich nicht mehr stattfinden. Weder das apokalyptische Insektensterben, noch die Weihnachtsmarkt-Terroralarme, noch die jeweiligen Deutschland-geht-unter Talkshows bei Maischberger und Co. Wenn all die besorgten Gesichter, die das JEWEILS SCHLECHTE beklagen, betrauern, bestreiten, plötzlich nicht mehr in meinem Gesichtsfeld sind.
Dann, ja dann, kann man plötzlich wieder viel klarer sehen, Sascha Lobo hat mal das schöne Bonmot von der Vermeinung der Welt geprägt. Der öffentliche Diskurs ist ein Minenfeld geworden. Jeder muss etwas meinen, irgendetwas maulen, sich unentwegt aufregen. Meinungen sind wie Entzündungs-Epidemien, die sich gegenseitig hochschaukeln. Aber geht es im Kern eigentlich noch um irgendetwas?
Nein, ich glaube nicht, dass Medien lügen. Es hat sich nur etwas SUBSTANTIELLES in unserer medialen Umwelt verändert. Das Internet hat beschleunigt, was sich schon lange ankündigte: Der mediale Overkill, der sich aus einer simplen Tatsache ergibt. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Hirnen, aber Millionen von Kanälen. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Aufnahmefähigen, aber Quadrillionen von Schreien nach Aufmerksamkeit. Aufmerksamkeit ist die wahrhaft knappe Ressource unserer Zeit. Und wie erregt man Aufmerksamkeit? Durch Übertreibung, Polemik, Beleidigung, Angstmachen, falsche Rückschlüsse. Durch Cliffhanger und das so genannte Clickbaiting, bei dem einen ein kleiner Bissen vorgeworfen wird, als Appetitanreger, irgendwas mit kleinen Kindern, Sex oder Tieren oder Unfällen…
Hör mir zu, sagen die Schlagzeilen, ich bin wichtig! Angela Merkel ist am Ende. Oder vielleicht nicht!
Schalt mich ein und bleib dran, sagt die Talkshow (oder der Tatort am Sonntag). Alles wird schlimm, und immer schlimmer!
Klick mich an, sagen die Milliarden von Info-Bruchstücken, die mir etwas über niedliche Katzen, die von Autos überfahren werden, oder die Liebesprobleme Jugendlicher und weiblichen Orgasmus versprechen. Websites wie FOCUS und STERN sind darin besonders übel.
Klick mich an, sagt das hartnäckige Banner, das mir unentwegt auf dem Bildschirm kleben bleibt, damit ich irgendeinen idiotischen SUV anschaue oder einen Telefontarif für nix, aber auf drei Jahre fest, kaufe.
Hass mich, sagt der Troll in seinem Hating-Kommentar. Denn er sehnt sich so unendlich nach Anerkennung, nach GESEHENWERDEN, dass er sich unentwegt rüpelhaft benehmen muss. Immerhin damit kann er Wirkung erzeugen. Und wie!
Natürlich kann man gar nicht „ohne” Medien leben. Das würde der Kopf gar nicht aushalten. Deshalb nutze ich für meinen (meist einmonatigen) Exodus aus der Erregungsspirale eine strenge Auswahl von seltenen, selektiv gewählten Medien, sozusagen Almased für den Erregungsentzug. Die teilen folgende Eigenschaften:
Sie sind nie alarmistisch, sensationell oder „clickbaiting”-verseucht.
Sie sind nicht grundpessimistisch. Sie zeigen auch das Schöne, ohne Negatives zu leugnen.
Sie verbreiten etwas Nachdenkliches und Liebevolles gegenüber der Welt.
Sie wollen mir nicht ständig irgendetwas verkaufen.
Sie sind meistens analog auf Papier, aber nicht nur.
Hier meine Diät-Medien:
Monocle – Website, Magazin und „Monocle Minute”
Die Stil- und Cool-Plattform Monocle, in deren Mittelpunkt der globale Flaneur Tyler Brûlé steht, ist zu einem großen und starken Medien-Imperium geworden. Vordergründig geht es immer um die kreativen Hotspots der Welt, um Mode, Design, tolle Läden, Cafés, Bars von Vancouver bis Shanghai (auch mal Tübingen). Aber MONOCLE hat sich inzwischen zu einer Nachrichtenagentur für die Kreative Klasse gemausert. Man hat den Ehrgeiz, eine globale Voll-Zeitung zu werden und das gelingt immer besser. MONOCLE bringt Berichte über Nordkorea ebenso wie die schönsten neuen Designhotel-Besprechungen. Monocle-Lektüre macht immer Lust auf Menschen, Berührung, Wirklichkeit – und Verbesserung. Die Plattform zeigt die Welt aus der globalen Metaperspektive, wobei auch Armut, Krieg und Elend nicht ausgeschlossen, aber IMMER in Würde und Hoffnung gezeigt wird. Alles ist Kultur, oder kann Kultur werden, alles ist Feuilleton im konstruktiven Sinne. Vielleicht ist dieser Zukunftsoptimismus das einfach „the gay way of feeling”, aber für mich (Hetero) hat es heilsame Wirkung. https://monocle.com
Perspective Daily
Deutschlands einzige Website für Konstruktiven Journalismus. Die Plattform bringt einmal am Tag einen locker geschriebenen Text darüber, dass nicht alles schlechter wird, auch wenn es oft so scheint. Oft haben die Texte einen kognitionspsychologischen Hintergrund und zeigen uns unsere „cognitive biases” auf, unsere Fehl-Filter beim Weltbetrachten. https://perspective-daily.de
Brand Eins
Es ist immer noch ein Phänomen, wie die Wirtschaftszeitung mit der höchsten verkauften Auflage und den wenigsten Anzeigen so wunderbare kluge Texte präsentiert. In diesem Magazin, das irgendwie nur Offline geht, wird selbst Herr Müller von der Prokura-Abteilung zu einem Superhelden der Neuen Ökonomie. Das Schöne ist, dass hier noch nicht mal der Versuch gemacht wird, mit schrillem Sensationismus und populististischer Übertreibung (wie etwa in der Wirtschaftswoche) zu arbeiten. Alles ist echt, authentisch, und wenn man sich hineinliest, das Gegenteil von sterbenslangweilig (wie es sich zunächst anfühlt). www.brandeins.de
NZZ –Neue Zürcher Zeitung
Von allen Tageszeitungen ist die NZZ immer noch diejenige, die (fast) allen Negativ-Trends des Medialen widersteht. Auch die Art und Weise der Debatte ist auf eine genuin-stoische schweizerische Weise un-hysterisch, ja stoisch und irgendwie sehr cool. Die NZZ glaubt kaum eine der apokalyptischen Übertreibungen, die die Debatten- und Politikteile der deutschen Medien füllen. Als neulich wieder einmal eine Studie „bewies”, dass der Anteil der Muslime in Deutschland steigen wird, berichteten die deutschen Leitmedien AfD-gerecht auf ihren Titelseiten. Der entsprechende Text in der NZZ hatte die Überschrift. „Wir geraten nicht unter die Herrschaft des Halbmonds – die wachsende Anzahl der Muslime in der Schweiz ist kein Grund zum Alarmismus.” Das muss man erstmal können. www.nzz.ch
Diese beiden Bildbände zeigen, wie schön die Welt in ihrer bunten Widersprüchlichkeit und Lebendigkeit tatsächlich ist. Schönheit wird unterschätzt; sie ist ein Wegweiser in die evolutionäre Zukunft.
Und wer wirklich unter Weltuntergangs- und Der-Mensch-ist-immer-schlechter-Depression leidet, dem seien die beiden Paddington-Bär-Filme empfohlen. Geheimmedizin gegen den inneren Apokalyptiker, wirkt garantiert nicht nur für Kinder!
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Am 4. Dezember erscheint der neue ZUKUNFTS-REPORT 2018, das Jahrbuch des Zukunftsinstituts. Einige Texte und Thesen habe ich in den letzten Wochen in dieser Kolumne vorgestellt. Hier nun als Abschluss der Vorschau das Editorial:
Über Resonanz, den Schlüsselbegriff unserer Epoche
Übertreibung ist die Wahrheit,
die ihre Laune verloren hat.
Khalil Gibran
Gibt es so etwas wie ein Schlüsselwort unserer Epoche, ein Codewort, das uns die Phänomene der Gegenwart erschließen kann? Ja, das gibt es: RESONANZ!
Der Soziologe Hartmut Rosa hat in seinem gleichnamigen Werk die Resonanz als Grundlage unserer Weltbeziehung entschlüsselt. Vom ersten Atemzug an wollen wir wahrgenommen, gesehen, erkannt werden. Ob wir im Leben Glück erleben, hängt fundamental mit unserer Wirksamkeit zusammen. Kunst, Kultur, Musik, Gespräch, selbst das gemeinsame Essen verbinden uns mit der Welt, den Anderen, der Zukunft. Resonanz ist die Grundlage jener Lebendigkeit, die uns befähigt, die Lebens-Angst zu überwinden. Liebe und Spiritualität erschließen schließlich jene Resonanzen, die über unser Selbst hinausweisen.
Heute leben wir in einer doppelten Resonanzkrise. Einerseits zerfallen in der globalen Konnektivität alte Bindungen und Gewissheiten; so entsteht ein Verlorenheits-Gefühl, das leicht in Zorn und Hass umkippt. Gleichzeitig leben wir plötzlich mitten in einem gigantischen medialen Hyper-Resonanzraum, der uns mit seinen unendlichen Reizen in einen Zustand ständiger Über-Erregung versetzt. Die „sozialen“ Medien mit ihren LIKES und WANTS und SMILES greifen dabei tief in unsere Resonanz-Sehnsüchte ein. Sie erzeugen unaufhörlich Resonanz-Simulationen, die sich immer wieder als Illusionen, Selbsttäuschung oder nackter Betrug herausstellen.
Elke Schmitter beschrieb das in ihrer SPIEGEL-Kolumne so: „Die historisch vorbildlose Öffentlichkeit im Netz hat keine Ränder; Fiktive Beziehungen, die aus Projektionen bestehen; Offenbarungen ohne leibliches Gegenüber – das Gegenteil all dessen, worin wir Menschenwesen trainiert sind: zu identifizieren, wer da spricht, in einer geteilten Situation, die auf Resonanz gegründet ist.”
Der alte Wortzauberer Peter Sloterdijk hat das die Dünnwandige Welt genannt. Alles scheint mit Allem zusammenzuhängen. Alles schaukelt sich hoch. Entzündet sich. Irgendwann erscheint das Leben wie eine einzige Fehlermeldung. Das Resultat sind die mentalen Panik-Epidemien unserer Tage, jene „Mindwars”, in denen Gerüchte, Lügen, Übertreibungen, Hysterien blühen. Da ist der Populismus mit seiner viralen Bösartigkeit. Die Trolls im Internet, die ihre unerlöste Sehnsucht nach Wirksamkeit durch Hasstiraden und Abwertung anderer erfüllen. Dem Selbstmord-Terroristen wird im globalen Medien-Echo endlich jene Aufmerksamkeit, ja Anerkennung zuteil, die ihn sonst nie erreichte. Auch der schlecht gelaunte Moralismus der „political correctness” speist sich in Wahrheit aus (innerem) Resonanzmangel.
Gegen den Wahn unserer Zeit hat sich inzwischen Widerstand formiert; die ACHTSAMKEITS-Bewegung. Als Antwort auf die medial-kollektiven Hysterien versuchen immer mehr Menschen, den fatalen Reiz-Reaktionsmustern zu entkommen. „Nicht alles glauben, nicht alles fürchten, nicht alles liken!” – wie neulich ein erleuchteter Freund formulierte. Es geht um mentale Techniken der Gelassenheit. Natürlich kann man das leicht als „spritualistisch” oder weltfremd verdammen. Aber es geht um nichts anders die Rückgewinnung der Selbstwirksamkeit, der inneren Integrität.
So ist das oft: Die wahren Zukunftstrends entwickeln sich als Gegenbewegung gegen die Krisen der Zeit. Für das hypervernetzte Zeitalter brauchen wir neue innere Tugenden. Wie können wir in Unsicherheiten das Schweben üben? Welche Zukunfts-Sportarten erfüllen unser Bedürfnis nach Resonanz? Wie könnte ein neues Europa vernetzt und verbunden sein? Gibt es eine neue „Smart-Gott” – Spiritualität? Kann Heimat modern sein? Aus diesen-Fragen heraus spüren wir ins Jahr 2018 hinein. Und wie immer weit darüber hinaus – in die menschliche Zukunft.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Neuro-Futurismus ist eine Weiterentwicklung der Zukunftsforschung, die sich mit der Art und Weise beschäftigt, wie wir mental Zukunft konstruieren – und wie diese Konstruktionen auf uns rückwirken und wiederum die reale Zukunft beeinflussen können.
Menschen sind Zukunfts-Wesen, weil sie von der Evolution zu Voraus-Sehern geprägt wurden. Unser großes Hirn macht es möglich und unabwendbar, dass wir uns ständig das Kommende vorstellen. Dies dient letztendlich dazu, unsere Möglichkeiten zum Verbessern der Lebenssituation auszuloten und unsere Chancen zum Überleben zu erhöhen.
Unsere Vorstellungen der Zukunft sind jedoch stark von inneren Klischees und „Biases” – kognitiven Verzerrungen – geprägt. Beim Vorwärtsschauen schauen wir in Wirklichkeit immer in die VERGANGENHEIT. Die australische Kognitionspsychologin Donna Rose Addis erforscht in ihrem „Memory Lab” seit vielen Jahren, wie sehr Erinnerung und Zukunfts-Vision zusammenhängen. Im Hirnscanner sind erstaunlicherweise beide Vorgänge kaum zu unterscheiden. Um den guten, alten Däniken zu zitieren: WIR ERINNERN UNS AN DIE ZUKUNFT! Wir projizieren ALTE Vorstellungen in das Morgen hinein. Dabei spielen vor allem Ängste, Befürchtungen und „gewitterte Gefahren“ eine Rolle.
Im Laufe der sozialen Evolution haben sich fundamentale Zukunfts-Mythen herausgebildet – Utopien und Dystopien spiegeln gesellschaftliche Ängste oder Sehnsüchte wieder. Solche Narrationen wirken auf dem Wege der self-fulfilling prophecy oder der self-denying prophecy auf die Wirklichkeit zurück. Sie dienen als „Pro-Gnosis” – als Vor-Schöpfung kommender Realitäten. Wir erzeugen auf vielfältige Weise jene Zukunft selbst, die als wahrscheinlich, zwingend oder befürchtet erscheint.
Der Neurofuturismus sieht die Zukunft nicht als einen objektiven Zustand, der durch „Voraussage” entschlüsselt werden muss. Sondern als Ergebnis von Bewältigungs-Prozessen, in denen Menschen neue Möglichkeitsräume erschließen. In dieser Betrachtung ist Zukunft keine Kategorie, sondern eine evolutionäre FÄHIGKEIT. Eine KOMPETENZ: Das ZUKÜNFTIGE entsteht in uns selbst als „prä-diktischer“ Prozess. Die Zukunft dient dabei als SPIEGEL, in dem wir uns selbst besser erkennen können.
„Die Größten Zukunftsirrtümer entstehen aus der Verwechslung von Metaphern und Prophezeiungen.”
Marina Warner
Über den feinen, aber entscheidenden Unterschied zwischen „Zukunft” und dem „Zukünftigen”.
Die Zukunft:
Ein imaginierter, fixierter Zustand in einem bestimmten Zeit-Ausschnitt und Wirklichkeitsbereich. Da man sich „die Zukunft” in ihrer ganzen Komplexität nicht wirklich vorstellen kann, nimmt man irgendein Symbol, etwa den „Roboter” oder das „Flugauto” oder auch den „Digitalen Diktator”, um die kognitive Differenz zum Heute zu definieren. Zukunftsbilder sind illustrative Narrative, das heißt sie wirken nur durch ihre Erzählungskraft und finden ausschließlich im Hirn statt. Sie basieren meist auf Einengungen von Teilbereichen des Lebens, auf Ideologismen und Be-Fürchtungen, etwa durch Überbetonung von Technik oder des Katastrophischen.
Das Zukünftige:
Ein Wort, der sich durch die Begriffe „Potential” und „Latenz” am besten erschließt. Das Zukünftige ist das „mögliche Bessere”, das bereits latent in der Gegenwart angelegt ist und zur Entfaltung drängt. Das Zukünftige selektiert die Zukunft als Verbesserung, als das Komplexere und Schönere, als QUALITATIVES neues Ergebnis von (sozialer, kultureller, ökonomischer) Evolution.
Im Unterschied zur „Zukunft“ ist das Zukünftige immer REAL in dem Sinne, dass es mit dem Bestehenden verknüpft ist; es ist „die Zukunft in Verbindung”. Die Zukunft „kommt auf einen zu” oder „über uns”, sie ist kaum beeinflussbar. Das Zukünftige hingegen entsteht durch unsere Erkenntnisse und Entscheidungen – aus unserer inneren Verbindung zum Werdenden und zum Wandel.
„Die Zukunft verursacht die Gegenwart. Die Zukunft kann nämlich ganz grundsätzlich nur deshalb aus der Gegenwart wachsen, weil ebendiese Gegenwart bereits vom Licht der möglichen Zukunft genährt wird.”
Nathalie Knapp
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Was passiert, wenn der Trend zur Hyper-Urbanisierung sich wieder umdreht?
Dann enstehen neue, spannende Synthesen zwischen dem Ländlichen und dem Urbanen. Die Keimzellen dieser „Urbanen Ruralität” sind heute schon sichtbar.
Dieser Artikel ist ein Vorabdruck aus dem Zukunftsreport 2018.
Ist der ländliche Raum dem Untergang geweiht? So scheint es. Unablässig erhöht sich die Leuchtkraft der Städte. Unwiderruflich wachsen die „Schwarmstädte“, in denen Kreativität und Komplexität ein abwechslungsreiches Leben bieten. Während der Megatrend Urbanisierung Menschen, Ideen und Arbeit in die Metropolen saugt, fallen gleichzeitig ganze Landstriche der Ödnis, Frustration und Verlassenheit anheim. In den aufgelassenen ländlichen Flächen verabschiedet sich die Zukunft in eine ewige Rückständigkeit. Schulen werden geschlossen, Buslinien gekappt, ärztliche Versorgung wird eingestellt. Populismus grassiert.
Aber ist wirklich alles so eindimensional und hoffnungslos?
Zum Basiswissen der Zukunftsforschung zählt auch die Erkenntnis, dass jeder Trend irgendwann einen Gegentrend erzeugt. In den nächsten Jahren wird sich deshalb die Sehnsucht in Richtung Urbanität wieder umkehren: Dörfer, Kleinstädte und Regionen können eine Renaissance erleben. In den Konzepten der Progressiven Provinz finden Beziehungsqualität und Weltoffenheit auf neue Weise zusammen – und erzeugen eine neue Vitalität des Lokalen.
Schon heute gibt es Regionen in Deutschland und Europa, die von ihrer Topografie her Provinz sind – sich aber mitten in einem vitalen Aufstieg befinden. Abgelegene Dörfer, in die plötzlich das Leben einkehrt. Denn längst verläuft der Bruch zwischen den Gewinnern und den Verlierern der Urbanisierung zwischen den Regionen. Deshalb gibt es zwei Provinzen: In der einen verkriechen sich die Bewohner in Passivität und Opfermentalität, in der anderen herrscht ein Klima der Offenheit und des Wandels. Hier hat sich eine kulturelle Urbanisierung durchgesetzt, ohne die chaotisierenden Nachteile der Großstadt in Kauf zu nehmen. Solche Orte wollen es wissen. Sie reinnovieren sich selbst.
Überall entstehen Future Regions, Modern Towns und Zukunftsdörfer – und plötzlich steigt die Bewohnerzahl wieder an!
„Agronica“ nannte der italienische Architekt Andrea Branzi einmal den von den Bedingungen der elektronischen Kommunikation umgestalteten ländlichen Raum. Aber das Internet allein kann die Verödungsgefahr nicht lösen. Dörfer, Städte, Gemeinden sind – so wie die großen Städte – soziale Organismen, die in ihrem Wesen aus Kommunikation bestehen, aus Beziehungen. Das Netz löst Verbindungsfragen, aber keine Beziehungsfragen. Deshalb ist die Frage, wie Neo-Regionen entstehen, vor allem eine Frage nach den Beziehungen der Bewohner.
Die Kraft der kooperativen Empathie
Die Sehnsucht nach der Provinz kannten schon die alten Griechen, die in ihrer Flucht vor der „Polis“ nach dem paradiesischen Land „Arkadien“ suchten. Diese Geschichte wiederholt sich bis heute immer wieder: Die Sehnsucht nach Intensität, Individualität und Selbstverwirklichung zieht die Menschen in die Stadt. Aber wenn eine Lebensbiografie in städtischer Entfremdung stockt, wenn man in einer bestimmten Lebensphase das Tempo nicht mehr halten kann, dann werden neue Pläne geschmiedet. Dann wird das kleine Haus in der Toskana gekauft, die Hütte in einem spanischen Gebirgsdorf oder am See in Schweden. Dann wird mit unendlicher Geduld der Bauernhof in Brandenburg renoviert. Dort, wo die Kinder glücklicher aufwachsen sollen als zwischen Beton und Verkehrsstress.
Solche Idyllen-Träume scheiterten oft an individuellen Überforderungen, an der Illusion von Autonomie, die oftmals ein Resultat innerer Verbitterungen ist. Die nächste urbane Exodus-Welle wird deshalb anders verlaufen: Es geht nicht um Flucht, sondern um das Ankommen. Es geht nicht um die Landlust-Apfelkuchen-Romantik, die immer nur eine städtische Halluzination ist, sondern um eine dynamische soziale Nähe, die in kleineren Lebenseinheiten besser zu finden ist. Es geht im Kern um ein neues regionales oder dörfliches Selbstbewusstsein, das auch Rückkehrer und Neuankömmlinge integrieren kann.
Während Dörfer und Kleinstädte früher versuchten, mit durchbetonierten Gewerbeparks an die urbane Welt anzuschließen, überwindet die nächste Phase der Provinzrenaissance die Topografie der Industriegesellschaft. Gerade die Wissensgesellschaft eröffnet dem Neo-Lokalen neue Märkte und Chancen, sowohl im Boom der Lebensqualität (von Biolandbau bis Gourmet-Bauernhof) als auch im menschlichen Beziehungswesen (von Gesundheits- und Therapieleistungen bis zu Sport und Naturerleben). Design, Kultur und Kunst sowie die Gastronomie können gerade in der tiefsten Provinz die entscheidende vitalisierende Rolle spielen.
Technologie ist wichtig, aber nicht alles. Im Kern der ruralen Renaissance stehen die lebendigen Beziehungen zwischen Menschen. Längst sind es nicht mehr nur Fußballvereine und freiwillige Feuerwehren, die die ländliche Zivilgesellschaft ausmachen. Längst gibt es auch Yogagruppen, Segelflugvereine, Gourmet-Vereinigungen, Unternehmer-Clubs. Kleinstädte, Dörfer und Regionen können sich selbst neu erfinden, wenn sie ihre sozialen Potenziale heben: Der Standortvorteil gegenüber der Großstadt ist die kooperative Empathie.
Die fünf Pfeiler der Progressiven Provinz
Lokale Visionäre
Die Renaissance des Ortes braucht charismatische Bürgermeister: aus den Großstädten Zurückgekehrte und Vielgereiste, die ihre Wurzeln wiederentdecken und zu Change-Agents des Ländlichen werden. Die Heimkehrer bringen Impulse (und bisweilen auch Kapital) in den Ort und verändern das Klima in Richtung Zukunft – wenn man ihnen Spielräume lässt.
Transitorische Architekturen
So idyllisch ländliche Architekturen sein können – ohne eine Spannung der Formen kann sich keine Zukunftsdynamik entwickeln. Deshalb braucht es neben dem alten Fachwerkhaus ein modernes Designgebäude, eine Schule mit Öko-Architektur, ein Brutal-Beton-Gemeindehaus oder andere „Provokationen“, die das provinzielle Idyll produktiv stören. Nicht alle Projekte werden gleich einen „Bilbao-Effekt“ erzeugen. Aber sie erzeugen eine notwendige Spannungselektrizität zwischen Tradition und Moderne im dörflichen oder kleinstädtischen Raum.
Offenheit nach außen
Auch Dörfer haben immer schon Fremde aufgenommen – und von ihnen profitiert. Fahrendes Volk brachte Waren und Ideen, reisende Knechte und Mägde prägten die Weiler des Mittelalters. In der mittelalterlichen Kleinstadt entstanden die ersten gelungenen Formen urbaner Öffentlichkeit. Weltoffenheit ist gerade für das Dorf oder die Kleinstadt existenziell: Wenn das lokale Klima von Depression und Abwehrängsten geprägt ist, kommt eine Negativspirale in Gang. Wer möchte schon dorthin, wo das Misstrauen herrscht, die Neidkultur und das Schweigen – das über Nacht in Grölen umschlagen kann?
Clusterbranding und Storytelling
Wie jeder Mensch hat jede Kleinstadt, jedes Dorf ein ganz eigenes Potenzial, einen spezifischen Charakter und ein besonderes Talent. Eine eigene Geschichte. Das kann ein bestimmtes Handwerk sein oder eine regionale Spezialität, ein Brauchtum, eine Charaktereigenschaft, ein Naturphänomen. Oder besondere Mythen und Märchen, menschliche Tragödien oder Dramen. Lokale Innovationspolitik muss, wie im modernen Marketing, dieses Unterschiedliche herausarbeiten, den „Unique Selling Point“ eines Dorfes, einer Kleinstadt oder Region. Und diesem „Geheimnis“ Sprache und Gestalt verleihen – so, dass es als Botschaft für eine bessere Zukunft dechiffrierbar wird.
Selbstvertrauen
Im Unterschied zu Nationalstolz, der immer eine gefährliche Komponente der Abwertung anderer enthält, kann Regionalstolz charmant und einladend sein. Die Liebe zur Heimat ist die Grundlage selbstbewussten Wandels. Aber diese Heimatliebe kann glokal sein: Sie muss sich nicht abgrenzen, sondern kann sich auf die ganze Welt beziehen, der man etwas Eigenes, Spezifisches hinzufügt (und eben nicht gegenüberstellt).
Beispiele für Zukunftsregionen, Zukunftsdörfer, Zukunftsorte
Wacken – Heavy Metal’s wilde Heimat
Es war einmal ein Generationskonflikt, der über die Parameter “Laute Musik gegen genervte reaktionäre Alte” ausgetragen wurde. Lang vorbei. Das kleine Dorf Wacken, mitten im Schleswig-Holsteinischen Plattland gelegen, ist Bespiel für eine historische Allianz der besonderen Art. Die 1.800 Einwohner lieben inzwischen (größtenteils) den Heavy-Metal-Zirkus, der einmal im Jahr für eine gute Woche über sie herfällt; besonders beliebt sind Selfies von grauen Omis mit wilden Langhaarigen.
Der Kitzbühel-Kufstein-Cluster
Die Gebiete um Kufstein und Kitzbühel am Inntal-Eingang der Alpen sind ein typisches Beispiel: hier siedelt sich nicht nur “Old Money” aus den Städten an, sondern auch interessante Start-Ups und Kleinunternehmen im kreativen Sektoren, vor allem in der Gastronomie und der Kultur. In Erl bei Kufstein errichtete ein reich gewordener Ex-Kufsteiner eine futuristische Konzert-Festhalle – auch die Provinz braucht ihre Leuchtturm-Projekte.
Erlau, ein alter Bahnhof in Sachsen
Das ehemalige Bahnhofsgebäude in Erlau steht unter Denkmalschutz und stand seit mehr als 20 Jahren leer – bis Studenten vor fünf Jahren auf die Idee kamen, das Gebäude zu einem „Zentrum der Generationen“ zu verwandeln. www.generationenbahnhof.de
Gersbach im Schwarzwald
Das Dorf Gersbach im Schwarzwald hat im Wettbewerb „Unser Dorf hat Zukunft“ vor 13 Jahren 98 von 100 Punkten erhalten. Kein Dorf bekam jemals mehr. Nur drei Jahre später folgte die europäische Goldmedaille. Mit mehreren Projekten antworten die rund 700 Dorfbewohner auf die Herausforderungen der Zukunft. Das Ziel der kleinen Gemeinde ist sanfter Tourismus. Das örtliche Vereinsleben spielt eine große Rolle. www.schwarzwald-geniessen.de/de/orte/Gersbach
Zukunftsregion Zwickau
18 Kommunen mit rund 122.000 Einwohnern haben sich im „Zwickauer Land“ zusammen getan und die „Zukunftsregion Zwickau“ gegründet. Unter dem Motto „Gemeinsam Zukunft gestalten“ stellt sie produzierenden Betrieben eine Plattform für den Vertrieb regionaler Produkte zur Verfügung, fördert Projekte und berät. www.zukunftsregion-zwickau.de
Künstlerkolonie Dötlingen
Die Gemeinde mit rund 6.000 Einwohnern im Oldenburger Land will wieder werden, was sie vor 100 Jahren schon einmal war: eine kleine, kreative Künstlerkolonie, wo Bremer Bürger in der Sommerfrische Erholung suchten. „Kein Museumsdorf“, wie der Bürgermeister betont, sondern eine vitale, lebenswerte Gemeinde. Dötlingen will in der ersten Liga der Künstlerdörfer mitspielen. www.doetlingen.de
Duchroth bei Mainz
Das 600-Seelen-Weindorf in Rheinland-Pfalz liegt in einer landschaftlich schönen Gegend und mitten in einem „strukturschwachen Gebiet“:. Mehr als 20 leer stehende Scheunen, Gehöfte und Wohngebäude wurden saniert oder umgebaut. Eine Kooperation mit der Hochschule Offenbach ermöglicht es jungen Künstlern, die Landschaft der Weinbaugemeinde als Ausstellungsort zu nutzen. Das jüngste Projekt der Dorferneuerung ist ein historischer Bauernhof, der saniert und zum Künstler- und Dorftreff umgebaut wurde. www.duchroth.de www.landschaftland.de
Coconat, Bad Belzig
CoWorking Spaces gehören in vielen Städten inzwischen zum Standard der digitalen Arbeitswelt. Im ländlichen Raum dagegen sind sie noch unbekannt. Der Grund liegt nahe: lediglich Schreibtische zur Verfügung zu stellen, reicht nicht aus. Entscheidend ist die Netzwerkbildung, die Stadt und Land miteinander verknüpft. „Coconat“ ist ein Projekt in Bad-Belzig, einer Gemeinde mit 11.000 Einwohnern zwischen Berlin und Leipzig. Das Projekt richtet sich an Berliner und Leipziger, die eine Auszeit von der hektischen Großstadt suchen und bietet ihnen die Möglichkeit, Arbeit und Entspannung zu verbinden. www.coconat-space.com
Hitzacker im Wendland
Mitten auf einem Acker im ehemaligen Zonenrandgebiet im niedersächsischen Wendland entsteht ein interkulturelles Mehrgenerationendorf. Alte und junge Menschen, Deutsche und Zugewanderte, gut Situierte und weniger Wohlhabende sollen hier eine neue Heimat finden. zufluchtwendland.de/dorfprojekt
Hirschlanden: eine Brauerei bringt Leben ins Dorf
Ein Dorf ohne Gaststätte? Die 430 Einwohner der Gemeinde Hirschlanden im Neckar-Odenwald-Kreis in Baden-Württemberg wollten einen Ort der Begegnung und fanden ihn im historischen Rathaus. Das seit mehr als 15 Jahren leer stehende Gebäude wurde saniert und bietet heute Platz für ein Museum, einen Dorfladen und die neue Brauerei, die kleinste Zollbrauerei Deutschlands. hirschbraeu-hirschlanden.de
Gaggenau: Mehr Lebenszeit für Alle!
Die badische Kleinstadt wird zum bürgerschaftlichen Experimentierfeld. Noch nie gab es in Deutschland einen vergleichbaren Großversuch: Um herauszufinden, wie man die Voraussetzungen für ein weiteres Jahr Lebenszeit schaffen kann, untersuchen Forscher seit zwei Jahren, was eine Stadt tun kann, damit ihre Bürger älter und glücklicher werden. Das Projekt ist auf acht Jahre angelegt und soll jedem der fast 30.000 Einwohner im Schnitt ein gutes Lebensjahr mehr bringen. www.gaggenau.de
Hochalpine Heimat-Enklaven
Können abgelegene Bergdörfer mit neuem Leben erfüllt werden? Im Bergdorf VRIN in Graubünden, wo man zu 99 Prozent Rätoromanisch spricht, sozialisierte man in den 80er Jahren den gesamten Grund und bildete eine Reihe von Genossenschaften. Neue Gebäude in alter Holzbauweise entstanden, der Ort konnte seine Einwohnerzahl stabilisieren. Ähnlich SOGLIO, ebenfalls in Graubünden, wo allerdings italienisch gesprochen wird und der Tourismus mit 20.000 Übernachtungen pro Jahr eine größere Rolle spielt. Dort hat der Architekt Armando Ruinelli einen modernen Design-Baustil entwickelt, der auf der ursprünglichen Architektur des Ortes aufbaut. Auf diese Weise entstanden alpine Designbauten, die auch für stilbewusste Städter attraktiv sind. Ähnlich die Geschichte von VALS, wo der Architekt Peter Zumthor eine ikonographische THERME baute, die als Leuchtturmprojekt für den hochalpinen Design-Stil gilt.
Lüneburg 2030+
2015 hat sich die Weltgemeinschaft, die Vereinten Nationen, auf 17 Nachhaltigkeitsziele geeinigt: die Milleniumsziele. Städte und Gemeinden spielen dabei eine zentrale Rolle. Die Bürgerinnen und Bürger der Stadt haben zunächst 25 Visionen für ihre Stadt von morgen entwickelt. 2018 sollen konkrete Maßnahmen („Lüneburger Lösungen“) folgen, die getestet und umgesetzt werden können. Die Themenfelder reichen dabei von der Gestaltung des Stadtlebens über Wirtschaften, kreative Kultur, Vernetzen und Versorgen bis hin zum Klimaschutz. www.lueneburg2030.de
BürgerEnergie Jena: 100 Prozent Ökostrom
Die Energiewende wird zum Projekt der Bürgergesellschaft. Bundesweit gibt es rund 700 Energiegenossenschaften in Bürgerhand. Jena gehört zu den ältesten und ist Trendsetter. Als erste in Ostdeutschland liefert Jena zu 100 Prozent Ökostrom. Mit der Beteiligung der Bürger am kommunalen Stadtwerk steht die Energiegenossenschaft für die Demokratisierung der Energieversorgung. www.buergerenergie-jena.de
Die achtsame Region: Die Reise zum Ich
Achtsamkeit ist im Trend. Immer mehr Unternehmen bieten ihren Mitarbeitern Achtsamkeitsseminare und -trainings an. Die neue Bewegung erreicht jetzt auch Städte und Regionen. In der Region Allgäu haben sich Hotels, Bauernhöfe, Restaurants, Gesundheitsberufe und Bäder zusammen getan und bieten ihren Einwohnern und Gästen „Alpenwellness“: nachhaltige Erholung, sanften Tourismus und Wege zu einer neuen Balance und einem gesünderen Lebensstil. www.allgaeu.de/achtsamkeit
Willkommen in Görlitz!
Anders als in anderen Orten in Ostdeutschland, wo zum Teil Hunderte gegen geplante Gemeinschaftsunterkünfte protestierten, gab es in Görlitz keine Proteste gegen Asylbewerber. Die kleine sächsische Stadt an der Grenze zu Polen engagiert sich seit 2014 in der Integration der neuen Geflüchteten und hat Erfahrung mit Vertreibung und Flüchtlingen. Heute leben in der Stadt 157 Familien mit rund 700 Personen aus 17 Nationen. www.willkommensbuendnis-gr.de
Mehr Flüchtlinge! Das Goslarer Modell
„Mehr Flüchtlinge nach Goslar“, forderte der Oberbürgermeister der Stadt Goslar Oliver Junk bereits im Herbst 2014. Das Modell Goslar bietet ein „Integrationsvollpaket“ für Flüchtlinge mit Bleibeperspektive. Sie erhalten Sprach- und Fortbildungskurse, Betriebspraktika und kulturelle Integration. Inzwischen gibt es ein Integrationszentrum, das von Sprach- und Kulturkursen über einen Gesundheitscheck bis zu Verkehrserziehung und Berufsorientierung alles unter einem Dach bietet. www.goslar.de
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Was hat Dunkelheit mit der Zukunft zu tun?
Eine ganze Menge…
Oktober 2017
By Svein-Magne Tunli – tunliweb.no (own work), via Wikimedia Commons
Die herbstliche Zeitumstellung erinnert uns daran, dass jetzt die dunkle Zeit kommt. Unweigerlich neigt sich die Sonne dem Horizont zu und die Zeitschriften sind voll von Tips, wie man „die depressive Jahreszeit übersteht”. Depressiv? Klar, in der Über-Optimierungs-Kultur ist alles, was nicht dem Optimum entspricht, ein Riesenproblem. Ein Menetekel. Der Zeitgeist der Hysterisierung ist unentwegt auf der Suche nach Gefahren. Am Ende werden wir alle sterben, wenn nicht an Terrorismus, Neoliberalismus, Separatismus oder Islamismus womöglich an der Dunkelkrankheit.
Mir fällt dazu eine Geschichte ein, die etwas über die innere Konsistenz unserer Zukunfts-Erwartung aussagt. Sie spielt in Tromsø, Europas nördlichster „Großstadt” (nun ja, 75.000 Einwohner). Dort ist es praktisch ab jetzt, Anfang November, rund um die Uhr radikal dunkel. Die Sonne meldet sich, wenn überhaupt, als schwacher Schein am Horizont. Müssen Tromsøs Einwohner nicht ein massives Depressions-Problem haben? Licht wirkt ja, wie zahlreiche Studien festgestellt haben, direkt auf unser Serotonin-System, auf die Stimmungs-Substanzen in unserem Hirn. Haben die Skandinavier nicht sowieso erhöhte Selbstmordraten? MUSS man da nicht um die Gesundheit der Nordbewohner besorgt sein (wie Anne Will fragen würde)?
Kari Leibowitz, eine junge Stanford-Psychologin, zog im Winter 2015/16 in diese Stadt am Rande des Polarkreises und untersuchte genau diesen den „Winterblues”. Dabei nutzte sie Erkenntnisse der Psychologie-Professorin Alia Crum, die sich mit den inneren Einstellungen von Menschen, den mindsets, beschäftigt. Mindsets sind Erwartungsbilder, Narrative, mit denen Menschen ihre Umwelt und die Zukunft wahrnehmen. Mit Hilfe von stress mindset measure entwickelte Leibowitz eine „Wie hältst du es mit dem Winter?”-Skala.
Die Befragten konnten auf einer Skala wählen zwischen „Es gibt viele Aspekte am Winter, an denen man sich erfreuen kann” oder „Ich finde die Wintermonate dunkel und deprimierend und versuche, so viel wie möglich wegzufahren.”
Erstaunlicherweise sahen viele Tromsø-Bewohner die Dunkelheit überhaupt nicht als „Problem”. Sie nahmen sie noch nicht einmal als „dunkel” wahr! Sondern im Gegenteil als eine Jahreszeit des Lichts! Im Winter legt man in Tromsø viele Strecken auf Skiern zurück, treibt Sport, schaut gemeinsam Filme und rückt sozial zusammen. Und feiert das Leben. Das Feuer in all seinen Varianten, von Kerzen bis Fackeln bis Kino, spielt eine besondere Rolle.
Im Januar gibt es in Tromsø ein großes internationales Filmfestival, das trotz Nullgraden teilweise im Freien stattfindet.„Als der November kam, waren Cafés und Restaurants, die heimischen Wohnzimmer und sogar der Arbeitsplatz von Kerzen erleuchtet. Im Laufe der folgenden Monate konnte ich mit eigenen, staunenden Augen sehen, dass die Polarnacht keineswegs absolute Dunkelheit bedeutete, sondern vielmehr eine Zeit voller bunter Farben und weichem, indirektem Licht war.”, schreibt Leibowitz in ihrem Bericht.
Die Geschichte erzählt uns etwas von der Adaptivität des Menschen – und unserer inneren Freiheit. Die Tromsøer können dem Winter seine besten Seiten abgewinnen, weil sie ihren MIND – ihre inneren Erwartungs-Gefühle – in eine Form der BEJAHUNG gebracht haben. Statt am Problem entlangzujammern („Es ist viel zu dunkel!”) gestalten sie ihre Wirklichkeit entlang von Möglichkeiten. Dieser „Possibilismus” – im Gegensatz zu Optimismus und Pessimismus – ist schöpferisch, weil er die Welt im wahrsten Sinn des Wortes in neues Licht taucht. Licht wird im Dunklen erst schön!
„Paying attention to what we are paying attention!”
Wenn wir das Rauschen der medialen Angstmachmaschine abschalten, wachen wir in einer Wirklichkeit auf, in der die konkreten Beziehungen zwischen den Menschen wieder wichtig werden. Die Realität kehrt zurück – als formbare Wirklichkeit, in der wir etwas bewirken können. Das ist das Gegenteil des „Postfaktischen”: Wir gehen zurück ins Lebendige. Dabei geht es nicht um Abwendung oder Ignoranz der Weltverhältnisse, sondern um die Wiedergewinnung der inneren Deutungsmacht.
„Wenn wir innerlich blind sind, lassen wir zu, dass die Vergangenheit die Gegenwart und die Zukunft dominiert.” – in diesem Satz der Kognitionspsychologin Ellen Langer, die vor 25 Jahren den Begriff der „Mindfulness” – Achtsamkeit – erfand, konzentriert sich die Krankheit unserer Zeit. Aber jetzt kann man spüren, wie die Stimmung kippt. Immer mehr Menschen lassen sich nicht mehr ängstigen von der Angst, mit der uns das mediale System rund um die Uhr überfüttert. Es gibt einen fühlbaren Widerstand gegen den Hysterisierungs-Drang, der uns rund um die Uhr am Zappeln halten will, gegen immer neue monströse Gefahren, Übertreibungen und Verdächtigungen, Vermutungen über das Drohende und Dramatisierungen von einzelnen Problemen.
Immer mehr Menschen verlassen die Stressfelder der Übermedialisierung. Facebook verliert zum ersten Mal User. Smartphones werden heruntergefahren. Bücher wieder in die Hand genommen. Selbst Trump und die AFD werden endlich egal – womöglich die beste Methode, wie wir sie bekämpfen können!
Sybille Berg hat diese antihysterische Resistenz sehr poetisch in ihrem SPIEGEL-Blog unter der Zeile „Keine Angst vor der Dunkelheit” beschrieben. Ich darf zitieren:
„Winterfasten, die Angst relativieren, die Nervosität runterfahren, das exponentielle Wachstum wachsen lassen…
Das Netz ist immer noch ausgeschaltet, also die dunkle Seite des Netzes. Die Irremachende. Tee. Gutes Licht. Bücher.
Oder Menschen treffen, Menschen, reale Menschen. Nett zu den Menschen sein, die man trifft. Menschenzeug machen, Kino, Singen, Sport, Tofu grillen, auf dem Sofa liegen, ins Dunkle sehen, sich freuen, dass es Menschen gibt, reale, die in Ordnung sind, und nicht irgendwelche Verbrecher, die man nicht kennt, irgendwo im Netz, die vielleicht nicht existieren, oder auch auf einem Sofa liegen und ins Dunkel sehen. So könnte das gehen, mit der Dunkelheit. So könnte eine Entmistung des Gehirnes funktionieren.”
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Politik ist die Architektur des Sozialen. Sie muss die Komplexität der Gesellschaft in produktiver Weise organisieren. Dabei gilt es, das Konkurrenzspiel der Gruppen, Institutionen, Interessen und Machtansprüche so zu arrangieren, dass für möglichst viele ein „Win-Win-Spiel” herauskommt. Politik kann dabei nie alles alleine lösen. Sie ist auf gesellschaftliche Autonomie-Prozesse angewiesen, auf Eigeninitiative, Vernunft, Zivilgesellschaft, Lernprozesse, Emanzipation. Sie ist das Coaching gesellschaftlicher Kooperation. Wichtigster Treibstoff dieses Prozesses ist die Ressource des Vertrauens – vor allem des Vertrauens in die Zukunft.
Im Zuge des populistischen Furors entsteht allerdings derzeit eine INFANTILISIERUNG des Politischen. Alte, längst sinnlos gewordene Links-Rechts-Ideologien werden wiederbelebt. Politik soll nun ALLES lösen – jede Ungerechtigkeit, jede Notlage, jedes Unglück. Sie wird eine Funktion gesellschaftlicher Erregungen und Wutausbrüche. Unter dem Stichwort GERECHTIGKEIT werden unentwegt Ansprüche formuliert, deren Legitimität sich nicht mehr aus dem Gesamten, sondern aus Einzelinteressen speist – es geht nur um die Angst vor dem Wegnehmen, nie um die Möglichkeit zum Hinzufügen. Politik wird zunehmend als ANSPRUCHS-SYSTEM codiert, in dem Politiker lediglich die Funktion von Service-Personal erfüllen, das „den Willen des Volkes” exekutieren soll. Der Populismus mit seinem manipulativen Kommunikations-Stil verwandelt Politiker in Getriebene, die bizarre Heilserwartungen zu erfüllen haben – oder zum Opfer von Hassattacken werden. Der Philosoph Peter Sloterdik spricht von der „dünnwandigen Welt” des Gesellschaftlichen.
Jeder Trend gebiert einen Gegentrend. Das Gegenmodell zur populistischen Erregungspolitik heute schon sichtbar. Nennen wir es COOL-POLITIK. Politik als produktives Zukunfts-System kann nur wirken, wenn eine gewisse DISTANZ zu den gesellschaftlichen Emotionsströmen existiert. Das heisst nicht Emotionslosigkeit, aber mentale Diskretion. Helmut Schmidt regierte mit hanseatischer Kühle und ließ sich nie von (auch damals schon existierenden) Affektstürmen beeinflussen. Helmut Kohl wurde für sein „Aussitzen” kritisiert – er saß immerhin sehr erfolgreich die deutsche Einheit aus. Angela Merkels moderativer Stil wird ihr unentwegt vorgeworfen. Und ist doch gleichzeitig das Erfolgsrezept in übererregten Zeiten.
COOL-POLITIK zeichnet sich dadurch aus, dass sie nicht von der Angst, sondern von den Möglichkeiten verbesserter Kooperation aus agiert. Träger sind einstweilen charismatische Männer wie Trudeau, Macron oder Andras Fekete-Györ, Chef der ungarischen Momentum-Bewegung. In den nächsten Jahren werden aber auch jüngere Frauen auf die Bühne dieses neuen Politikstils treten. Systemische „Bewegungspolitik” löst auf Dauer die alte Links-Rechts-Polarisierung zugunsten einer dynamischen Mitte auf.
„Was die politische Sphäre angeht, so wird sie unter den Bedingungen der dünnwandigen Welt umso besser erfüllen, je mehr es ihr gelingt, sich gegen Überforderungen abzugrenzen, die von einer aufgereizten Wunschgesellschaft auf sie projiziert werden.”
Peter Sloterdijk
COOL-POLITIK ist VISIONS-MANAGEMENT
Es geht um die Zukunft, aber diese Zukunft wird nicht als hehre „Utopie” oder gesellschaftliche Transzendenz dargestellt, sondern als Transformations-Prozess, an dem ALLE Verantwortung tragen.
COOL POLITIK ist GANZHEITLICH
Sie überwindet das Polarisierungsschema von „Rechts und Links” zugunsten eines systemischen Verständnisses der gesellschaftlichen Prozesse. Kapital und Arbeit, Bürger und Staat, Freiheit und Sicherheit stehen in einem ständigen dynamischen Verhältnis zueinander; eines der beiden generell zu priorisieren wäre grundfalsch!
COOL-POLITIK ist PRAGMATISTISCH statt ideologisch
Sie arbeitet durch Trial-and-Error-Methoden, durch Testen sozialer Modelle. Sie scheut sich nicht, Maßnahmen zurückzunehmen, die nicht funktionieren.
COOL POLITIK ist RESILIENZPOLITIK
Sie nutzt Krisen, um Alternativen klarzustellen und Fortschritt voranzutreiben.
COOL POLITIK übt die PRAXIS DER GELASSENHEIT
Sie hat unendliche Geduld und richtet sich am Machbaren aus, ohne fundamentale Grenzlinien zu setzen. Sie scheut keine Kompromisse, wenn die Ziele dabei sichtbar bleiben.
COOL POLITIK ist eine Politik der EBENEN-KLÄRUNG
Sie weist Verantwortungen dort zu, wo sie in einem komplexen System hingehören – Lokal, Regional, National, Kontinental, Global. Individuum/ Institution/ Zivilgesellschaft/ Gesetze/ Staatseingriff. Die zentrale mentale Botschaft lautet: Es ist komplex, muss aber nicht kompliziert sein!
Possibilismus
Vom engl. „possible” = möglich.
Eine innere Zukunfts-Haltung jenseits von Optimismus und Pessimismus. Der Begriff wurde von Hans Rosling, dem globalen Daten-Guru erfunden. Auf die Frage eines Journalisten: „Woher nehmen Sie eigentlich ihren unerschütterlichen Optimismus???” antwortete er sinngemäss: „Ich bin weder Optimist noch Pessimist, beides sind verkürzte Haltungen, Ideologien. Ich bin POSSIBILIST – ich glaube an das Mögliche! “ Vorher hatte Hans auf der Bühne etwas “scheinbar Unmögliches” gemacht – ein Schwert geschluckt. Und behauptet: Die weltweite Armut ist besiegbar!
Possibilismus ist eine Lebenshaltung, die auf dem Möglichen basiert, das sich zwischen dem UNVERMEIDLICHEN (= zufälligen) und dem PLANBAREN (= gestaltbaren) entwickelt. Vom OPTIMISMUS unterscheidet er sich dadurch, dass er das Negative weder ausklammert noch ignoriert. Vom Pessimismus unterscheidet er sich durch einen Verzicht von Jammerei und Schlechtmacherei, wie er in jeder Meinungsdebatte heute üblich ist. In der Welthaltung des Possibilismus verzichten wir auf das SCHLECHT-MACHEN („Awfulizing”) der Welt, und die damit verbundene Verstärkung von Furcht und Angst, inklusive der Häme und Schadenfreude, die dem mürrischen Pessimismus eigen ist.
Possibilismus ist eine Haltung der SELBSTVERANTWORTUNG, aber auch einer pro-aktiven Bescheidenheit. Sie nimmt jene Spiel- und Handlungsräume wahr, über die wir als Menschen verfügen, ohne ALLES gleichzeitig lösen zu können. Positiver Wandel ist möglich – die Geschichte beweist das. In unserem eigenen Leben haben wir Segnungen erfahren, die wir würdigen und als Hoffnungsargument wirksam machen können.
Possibilismus ist eine BEZIEHUNGS-HALTUNG: Wer bewusst in Bindungen in Beziehungen lebt, weiss, dass man mit seinen eigenen Depressionen und Verbitterungen die Mitmenschen anstecken kann. Possibilismus ist eine reflektierte Haltung, die der Achtsamkeit nahesteht: Wandel wird von Menschen erzeugt, setzt aber auch unseren INNEREN Wandel voraus.
Possibilisten distanzieren sich vom Resonanzsystem der Medien, die uns jeden Tag in den Furor oder die Angst versetzen wollen, um unsere Aufmerksamkeits-Ressourcen auszubeuten. Possibilismus ist REFLEXIVER FUTURISMUS: Man sieht die Gegenwart von einer (gelungenen Zukunft) aus. Und fragt sich, wie man dorthinkommt…
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Zukunfts- und Trendforscher irren. Aber auf welche Weise irren sie? In diesem Essay versuche ich, die Irrtümer der Prognostik aus der Perspektive der Kognitions-Psychologie zu erkunden. Die Grundthese: Wir Prognostiker irren sozusagen stellvertretend für alle anderen. Wir sind Teil einer medialen Vorher- und Voraussage-Industrie, die ihre Resonanz aus den Tiefenschichten der humanen Psyche bezieht.
Fehlprognosen spiegeln dabei den fehlbaren menschlichen Geist; sie geben vor allem Auskunft über unsere inneren Weltkonstruktionen, unsere Miss-Konzeptionen von Wandel und Wirklichkeit. Nur wenn wir das erkennen, können wir „wahre” Zukunftsprognosen machen.
Übersicht:
Wishful Thinking: Die Zukunft als psychologischer Wunschraum.
Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer absolut einmalig turbulenten Zeit zu leben.
Trend-Opportunismus: Der naive Trend-Glaube an oberflächliche Phänomene.
Immerschlimmerismus: Die Projektion der eigenen Depression auf die Zukunft.
Linearismus: Die Zukunft liegt nie geradeaus!
Im nächsten Teil:
Techno-Hyping: Der Glaube an die Technik als alleinigen Zukunfts-Treiber.
Metaphorimus: Die Verwechselung von Metaphern und Prophezeiungen.
Kausalitäts-Falle: Die falsche Ableitung von Phänomenen.
Wishful Thinking: Die Zukunft als innerer Wunschtraum
Wenn Ray Kurzweil, der Prophet der Singularität, eine Bühne betritt, wird es auf eine ganz besondere Weise still. Ganz anders als bei Vorträgen auf normalen Konferenz, wo es Rascheln und Unruhe im Saal gibt, wenn eine Rede anfängt, ersterben alle Geräusche und Gespräche. Es entsteht die Stille einer Kirche, eines heiligen Ortes, eines Sanktums.
Das ist kein Zufall. Wie in der Kirche geht es um Erlösung.
Ray Kurzweil prophezeit mit der SINGULARITÄT jenen Punkt, an dem Technologie mit der menschlichen Existenz konvergiert. Irgendwann in den nächsten 30, 40 Jahren, so Kurzweil, wird die technische Beschleunigung so gewaltig geworden sein, dass unser Sein in die Superintelligenz der Computer aufgenommen wird. Unser Bewusstsein wird dann auf Quantencomputern laufen, wir können alle Krankheiten heilen; und ob wir überhaupt noch einen Körper brauchen, ist dann eher zweitrangig.
Das Erstaunliche ist, dass Ray Kurzweil immer rational klingt, obwohl er ein völlig metaphysisches Weltbild vertritt. Alles wirkt unausweichlich, vorherbestimmt. Alles verläuft in Kurven, die steil nach oben ragen, die wie Bilanzerwartungen eines Investmentbankers. Die Singularität ist ein Theorem, das wie die Existenz Gottes niemals widerlegbar ist. Ray Kurzweil übersetzt die Tröstungs-Geschichte der Religion in eine hypertechnische Zukunfts-Narration: eine Tröstung, bei der von der Zukunft endlich erwarten können, was keine Gegenwart erlösen kann.
Treten wir einen Schritt zurück und betrachten Ray Kurzweil von der menschlichen Seite. Man spürt hinter der Fassade des Visionärs eine große Traurigkeit. Man spürt, dass es sich um einen sensiblen, unglaublich verletzlichen und verletzten Menschen handelt.
Kurzweil hat mit 22 Jahren seinen Vater verloren, den er sehr liebte. In einer Szene in einem Film von John Berman wischt sich Kurzweile eine Träne am Grab seines Vaters ab: abcnews.go.com
Ray Kurzweils Vater Frederic („Fritz Friedrich”), geboren 1912 in Wien, war ein Multitalent, ein Autor, Komponist, Dirigent und Humanist. Und wahrscheinlich ebenfalls ein charismatischer, tief sensibler Mensch. Ray hat in seinem Haus in Newton-Massachusetts Kisten von Briefen, Dokumenten und Fotos von seinem Vater gesammelt. Er ist sich sicher, dass die Technik demnächst in der Lage ist, aus diesem Material einen authentischen Avatar zu formen. Eine künstliche Figur, die spricht wie sein Vater, denkt wie sein Vater, vielleicht sogar agiert wie sein Vater.
„Ich werde in der Lage sein, mit seiner Re-Kreation zu sprechen”, sagt Kurzweil. „Am Ende würde diese Repräsentation vielleicht sogar realistischer sein als mein Vater selbst, wäre er noch am Leben.”
STALKER, einer der mystischen Sci-Fi-Filme des Russen Andrei Tarkowski, handelt von der Reise zu einem mystischen Raum, in dem alle Wünsche in Erfüllung gehen. Die drei Protagonisten, die in die „verbotene Zone” aufbrechen, um diesen Raum zu suchen, wissen am Ende selbst nicht mehr genau, was sie dort suchen. Sie sind verängstigt von den Möglichkeiten, die sich ihnen bieten, und deren Konsequenzen sie fürchten. Sie zerstreiten sich über die Frage, ob man den Wunsch-Raum nicht besser zerstören sollte. www.imdb.com de.wikipedia.org
In den 60er Jahren stellte Hermann Kahn, der Meister der spektakulären Zukunftsforschung, eine ganze Reihe herausragender Prognosen auf. Eine davon lautete: Spätestens im Jahr 2000 wird es Schlankheitspillen geben, die uns auf ein exaktes Wunschgewicht bringen! Kahn wog fast 200 Kilo und starb an Herzinfarkt.
Die Zukunft ist ein Wunschbaukasten, der mit unseren inneren Illusionen, Hoffnungen und Sehnsüchten gefüttert ist. Das Internet wird die Demokratie befördern und alle kreativ machen – wer wünschte sich das nicht? Wir werden unsterblich, Krebs wird geheilt, Roboter werden uns in ewige Bequemlichkeit entlassen – all diese Hoffnungen sind zutiefst kindliche Wunsch-Phantasien.
Selbst Dystopien sind in gewisser Weise Wunschprodukte: Wir sind enttäuscht vom Gang der Dinge, zornig auf “die Menschheit”, so dass wir den großen Untergang als gerechte Strafe herbeiwünschen. Soll doch alles zum Teufel gehen, wenn die Welt nicht nach unseren Wünschen tanzt!
Wenn Sie eine großartige Zukunfts-Vision hören – fragen Sie sich zuerst: Wie sieht das seelische Handicap aus, die Verletzung, die der Protagonist dieser Vision mit sich herumschleppt? Wovor läuft er Richtung Zukunft davon? Aber tun sie dies bitte mit Herzlichkeit und Zuneigung. Wir sind alle nur sterbliche Wesen, die versuchen, mit unseren inneren Abgründen zurechtzukommen. Die Zukunft bietet dafür reichhaltiges Material.
Kurzform:
Zukunfts-Visionen entstammen immer auch inneren Sehnsüchten und transzendentalen Spannungen. Sie haben mit unverarbeiteten Ängsten oder persönlichen Traumata zu tun. Wir neigen dazu, aus unseren existentiellen Gefühlen ein Zukunftsbild zu formen, das uns trösten und halten kann.
Die Gegenwarts-Eitelkeit: Die Idee, in einer einmaligen, turbulenten, sensationellen Zeit zu leben
Nie war die Lage der Welt so instabil, so auf der Kippe! Nie gab es so viele Verunsicherungen, Gefahren, chaotische Veränderungen, Krisen, rasende Wandlungsprozesse! Nie war alles so gefährlich, dramatisch und existentiell! Wir leben in jeder Hinsicht – sozial, ökonomisch, ökologisch – in einer Peak-Zeit, einer Gipfel-Epoche, einer dramatischen absoluten Entscheidungs-Ära!
Es sind die entscheidenden Jahre der Menschheit!
Wir haben noch 50 Jahre Zeit bis zum Weltuntergang!
Das sagt zum Beispiel Stephen Hawking, das Genie mit der schrecklichen Krankheit, die ihn an den Rollstuhl fesselt, aber gerade da seine Autorität über viele Jahre nur noch erhöht hat. Hawking will dass „wir” schnell auf den Mars auswandern, damit die Menschheit noch eine Chance hat.
Um die These von der gefährlichsten aller Zeiten zu überprüfen, sollten wir uns in die Lage unserer Vorfahren versetzen. Diese müssten es ja – wenn die These stimmt – im Vergleich zu uns besser und ruhiger gehabt haben. Schließlich lebten sie in der guten, alten Zeit.
Seit mindestens 200.000 Jahren zogen unsere Homo-Sapiens-Vorfahren in kleinen, verstreuten bands and tribes durch die Savannengebiete der Erde. Sie wurden gejagt von Tieren und versuchten selbst welche zu jagen. Das Leben war geprägt von Krankheit und Tod. Viele unserer Ur-Vorfahren blieben durch den Faustkeil des Nachbarstamms auf der Strecke, bevor sie sich fortpflanzen konnten. Mindestens einmal, vor etwa 80.000 Jahren, so behaupten die Anthropologen, gab es ein „human bottleneck”. Die Gesamt-Anzahl aller lebenden Menschen lag damals bei unter 2000. Eine kritische Masse, die tatsächlich zum Aussterben hätte führen könne. Homo Sapiens war an den Rand der Evolution gedrängt.
Als die ersten Bauernkulturen entstanden – als die Jäger und Sammler sesshaft wurden – wurde die Lage nicht besser, sondern dramatischer. Epidemien entstanden dadurch, dass Menschen plötzlich auf engstem Raum zusammenlebten. Die ersten Städte zerfielen schnell zu Ruinen, weil sich die Bewohner in andauernden inneren Kriegen befanden, wenn die Ernte ausfiel. In der Zeit der „großen Reiche” – Ägypten, Rom, Inkas, Maya – lebten Abermillionen Menschen als Sklaven ein kurzes, prekäres Leben. Mord und Völkermord waren an der Tagesordnung; gegen die ständigen politischen Turbulenzen im römischen Reich, inclusive Sklavenmord und Krieg, erscheinen die heutigen Krisen der EU wie ein sanfter Abendwind.
Im Mittelalter gingen Seuchen um, die die europäische Bevölkerung um die Hälfte reduzierten. Klerus und Adel betrieben regelmäßig Ausrottungskriege. In Asien entwickelten sich die ersten stabilen Feudal-Bauernkulturen, deren Bevölkerung längere Zeit in Frieden lebte. Bis die Mongolen einfielen und bis nach Japan vordrangen. Abgesehen von kurzen Blütezeiten, etwa der Renaissance, die aber niemals eine ganze Generation und nur wenige Stadtstaaten umfasste, gab es kaum einmal für eine Generation Kontinuität und Sicherheit, Aufschwung und Fortschritt. Menschliches Leben war eigentlich immer „nasty, brutish and short”, wie Thomas Hobbes formulierte. Wohlstand kannte nur eine winzige Überschicht, und selbst deren Kinder starben mit 14 an Diphtherie oder Schwindsucht.
Auch der Beginn der Industriegesellschaft änderte das nicht wesentlich. Bis ins 20. Jahrhundert erlebte praktisch jede europäische Generation einen mörderischen Krieg mit Konsequenzen für das eigene Leben. Unsere Großeltern erlitten dann einen echten Weltuntergang, einen Zivilisationsbruch, ein ungeheures Massenmorden. In meiner Kindheit standen sich zwei Supermächte bis an die Zähne nuklear aufgerüstet gegenüber. Das ist noch einmal gut gegangen.
Aber ruhige Zeiten? Wann – wenn nicht heute?
Andererseits gilt: Turbulenz ist die Konstante des Komplexen. Das Zeitalter der Globalisierung bringt notwendigerweise Turbulenzen mit sich, aber viele dieser Turbulenzen führen auch zu neuen Lösungen und Stabilisierungen. Allerdings bringt uns das mediale System heute jede Spannung, jeden Konflikt, jede Abweichung vom Erwarteten, vom Normalen, das wir als „Friede, Wohlstand, Wachstum” definieren, so nahe wie möglich. Die Aufmerksamkeits-Ökonomie erzeugt einen Zwang zur Dramatisierung, Zuspitzung, Übertreibung.
Vielleicht hat die Idee einer extraordinären Schlüsselzeit, der finalen Entscheidungs-Epoche, in der wir leben, auch etwas mit einem narzisstisch gefärbten Individualismus zu tun. Eine Art Über-Stolz, eine Grandiositäts-Sehnsucht: Alles wirklich Wichtige soll in meiner Lebenszeit passiert sein! Dass sich unsere Epoche im Nachhinein auch wieder nur als eine Zeit wie viele anderen erweist – turbulent, gefährlich, schwierig, aber auch über weite Strecken ganz normal – halten wir nicht gerne aus.
Kurzform:
Gegenwarts-Eitelkeit lässt uns die Vergangenheit nostalgisch verklären und die Konstanten des Fortschritts ignorieren. Durch die Definition einer „Ausnahmesituation” wird unser Bedürfnis nach Besonderheit und Drama befriedigt. Aber die Zukunft wird vielleicht viel „normaler” als wir denken.
Trend-Opportunismus – Trendgläubigkeit oder „Trend-Hysterie”
Haben sie schon einmal vom PUSSY SLAPPING-Trend gehört?
Das ist ein Jugend-Trend. Zumindest war es einer. Im Sommer 2017 ging er durch viele Medien. Mädchen auf Schulhöfen haben die Angewohnheit entwickelt, sich gegenseitig auf die Pussy zu schlagen.
„Bedenklicher Trend auf den Schulhöfen!!! Was sagt es uns über die Gesellschaft, in der wir leben? Unglaublich! Ein wahnsinnig sensationeller Trend!
Natürlich ist Pussy-Slapping kein echtes Phänomen. Irgendwelche Mädchen-Gruppen mögen diesen skurrilen Brauch irgendwann mal in einigen Schulen zu Spaß praktiziert und gepostet haben. Und irgendjemand, der die Seiten einer Zeitung oder die digitalen Spalten einer Website füllen musste, machte daraus einen „Trend”. In ziemlich eindeutig voyeuristischer Absicht.
Die armen Hospitantinnen, die im Frühjahr 2017 von zahlreichen Boulevard-Medien in Schulen geschickt wurden, um den Trend zu verifizieren, fanden keinerlei Anzeichen für massenhaftes Pussyschlagen. Ein Fake. Ein peinlicher, obszöner Blödsinn. Wieder mal „so ein Trend”. Aber was sagt uns das über „die Trends”?
Wer macht eigentlich Trends?
In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts begann das Wort „Trend”, ursprünglich eher aus der Statistik und dem Börsenwesen stammend, seine große Karriere. Trendforschung war plötzlich das „große Ding”. Im Jahr 1994 erschien Faith Popcorns berühmtes Buch „Clicking”. Darin definierte die leicht skurrile Amerikanerin all die schönen Trend-Begriffe wie „Cocooning” und „Clanning” und „Egonomics”, die heute noch durch jeden Anfängerkurs im Marketing geistern. Faith Popcorn tat das keineswegs oberflächlich. Sie argumentierte aus der Sicht der Gesellschafts-Beobachterin mit einem durchaus soziologischen Blick.
„Cocooning” zum Beispiel definierte sie als jene Rückzugs-Operation, in der sich viele Amerikaner in der US-Wirtschaftskrise der 90er Jahre auf die eigenen vier Wände zurückzog. Ihr „Eva-lution”-Begriff zielt auf die neuen, selbstbewussten Großstädterinnen und den Wandel im Geschlechterverhältnis. Ihren Begriff „Down-Aging”, der den subjektiven Verjüngungseffekt benennt, der paradoxerweise mit der Verlängerung unserer Lebenszeit einherkommt, nutzen wir noch heute in der systemischen Prognostik. Faith’s größte Gabe war aber ihr Talent zum WORDING: Ihre Begriffe klangen einfach dermaßen poetisch und ein-leuchtend, dass sie sich wunderbar dazu eigneten, sie einfach als Verkaufs-Formeln zu benutzen.
Eine Trendbehauptung wirkt mit drei Effekten auf unser Hirn. Erstens ist ein Trend immer eine willkommene und entlastende VEREINFACHUNG: Aus dem Meer der Möglichkeiten wird ein isoliertes Phänomen herausgehoben und zum ICON gemacht. Zweitens erzeugt ein Trend durch sein „Naming”, („Cocooning”, „PussySlapping” etc.) einen neuronalen REIZ. Als neu-gierige Sprach-Wesen sind wir fasziniert, wenn wir mit neuen Worten konfrontiert werden. Vor allem wenn es sanft und irgendwie GUT klingt.
Drittens SCHMEICHELN Trends oft unseren Bedürfnissen oder Interessen. Wenn wir zum Beispiel Investmentbroker sind, geben wir gerne den Prognose-Trend-Kurven einen Drall nach oben. Wenn wir vor etwas warnen wollen, nehmen wir die Kurve mit dem höchsten ”Absturz-Effekt”. Dabei wählen wir nach Belieben Ausschnitte und Abschnitte. Wir nutzten Trends im Sinne einer EXPECTATION BIAS: Wir ERWARTEN etwas und nehmen Trends als Beweis, dass es so kommen soll…
Einer unserer Kunden sagte einmal zu uns: „Wir haben hier ein Produkt, was sich überhaupt nicht mehr am Markt verkauft. Können sie uns dafür einen TREND erfinden?”
Wenn Trends dargestellt werden, geht es nicht selten darum, sie jemandem zu verkaufen. Trends sind „operative Meme”, von denen man sich Motivationen erhofft. Marketing-Leute verkaufen den Firmen, für die sie arbeiten, Trends, als Beratungsdienstleitungen für Innovationen. Politiker verkaufen Trends, um gewählt zu werden – als Bedrohungen oder als Versprechungen. Journalisten verkaufen Trends, weil sie „interessante Inhalte” verkaufen müssen – und dafür jedes noch so kleine Phänomen, jede halbseidene Vermutung, ausschlachten.
Trends suggerieren Differenzierungs-Wissen: Sie handeln von Phänomenen, von denen nur WENIGE wissen. „Exklusiv” eben. Das erzeugt ein Vorteils-Versprechen, das Gier erzeugt – und damit den Impuls, „mitzurennen”. Man möchte auf keinen Fall etwas verpassen! Man möchte an vorderster Front mitverdienen! Das Ergebnis ist ein riesiger Haufen ziemlich unnützer Innovationen und undurchdachter „Brand-Extentions”, die sich am Markt nicht bewährt haben. Zum Beispiel Wellness-Salami und Wellness-Filzlatschen und Wellness-Gummibärchen und Wellness-Wasser, Oder Hiphop-Socken und Einhorn-Eis und Cocooning-Sofas…
Immerschlimmerismus –Immer weiter, immer mehr…
Es ist immer wieder erstaunlich, wie zäh sich bestimmte Annahmen halten, wenn sie einmal unter der inneren Rubrik TREND eingespeichert sind. In Zeiten des wildgewordenen Populismus erweist dieses Zähigkeits-Problem plötzlich seine tiefe Problematik. Es taucht in ganz anderen gesellschaftlichen Bereichen auf als nur in der Welt von Marketing und Konsum.
Die Kriminalität nimmt immer weiter zu” – in fast allen Sektoren nimmt die Kriminalität weiter ab, auch weltweit.
„Die Globalisierung lähmt die Weltwirtschaft, weil sie immer mehr Ungleichheit erzeugt” – die Weltwirtschaft wächst längst kräftig, auch in ungleichen Gesellschaften.
„Die Computer werden immer schneller und schneller.” – hier wird auf das Moor´sche Gesetz Bezug genommen, ein „Trend” zu ständiger Verdoppelung der Rechengeschwindigkeiten und Verbilligung der Chips. Dieses Gesetz ist seit 2015 gebrochen, aber kein Berater, kein Zukunfts-Speaker, nimmt die entsprechende Folie aus seinem Vortrag. Es klingt so gut. Man hat sich dran gewohnt.
„Die Deutschen werden immer weniger und älter!”. Dieses Mantra hat die gesamte Zukunftsdebatte in den letzten Jahren dominiert. Ob es um Renten ging, die Ausländer-Angst oder die allgemeine Zukunftsfrage – das Vergreisen und Aussterben des „eigenen Stammes” ist immer ein gutes Schreckgespenst. Die schwierige Wahrheit: Die deutsche Bevölkerung wird auf Jahrzehnte WACHSEN, nicht nur aufgrund von (meist europäischer) Immigration, sondern auch, weil die Geburtenrate wieder steigt. Ab 2040 wird der Durchschnitt der Bevölkerung wieder JÜNGER!
Am zähesten halten sich jene Trend-Gerüchte, mit denen man drohen, und Angst machen kann. In Wirklichkeit gibt es keinen Trend, der nicht irgendwann an seinen Peak, seinen „Tipping-Point” Gipfel oder Sättigungsgrad kommt. Der plötzlich ausläuft oder abflacht. Oder einfach verschwindet. Oder nie wirklich da war, wie Pussy Slapping.
Kurzform:
Wir sind leichtgläubig in Bezug auf Trendbehauptungen, weil sie uns eine Deutungsmacht verheißen, uns amüsieren und unterhalten, und für bestimmte Interessen nutzbar sind. Wir vergessen, dass jeder Trend irgendwann einen „Peak” erreicht und danach abflaut. Wir ignorieren, dass jeder Trend einen Gegentrend hat.
Und hier die wahre Meisterin aller Zukunftsirrtümer. Sozusagen der Generalirrtum, der alle anderen verbindet: Das Geradeausdenken.
Die Welt, in der wir leben, ist komplex. Es gibt in ihr unglaubliche Schönheit, aber auch ein großes Durcheinander. Unser Hirn ist auch komplex. Aber es ist begrenzt in seinen Kapazitäten, in seinen Möglichkeiten, die Welt zu konstruieren. Wir sind nicht allzu gut im Parallel-Denken, im Multitasking und zusammenfügen verschiedener Abstraktionsebenen. Wir sind nicht wirklich motiviert, wenn es um das Verstehen von Systemen geht. Denn Systeme sind meistens „langsam”. Sie lassen wenig Wirksamkeit zu. Weil das so ist, präferieren wir Trends, die eine eindeutige Verlaufslinie haben: Aufwärts oder abwärts!
Wenn wir einen Trend darstellen, tun wir das meistens mit einer Gerade. Manchmal auch mit einer akzelerativen Kurve, deren Annahmen entweder aus Angst entstehen – negative Übertreibung – oder aus Gier – positive Übertreibung. Fast immer vergleichen wir einen Vergangenheitswert A mit einem Gegenwartswert B und ziehen danach eine weitere Aufwärtsbewegung nach vorne, zu C. Je nachdem, wie begeistert wir sind, oder was wir gerade verkaufen wollen (Eine Geschäftsmöglichkeit oder eine Angst), machen wir noch einen Strick-Schwung nach oben.
Was wir dabei gerne ignorieren, sind die Prozesse, die im Verlauf einer solchen Prognose IMMER auftreten.
Der Wert, den wir für die Vergangenheit annehmen, ist oft falsch, weil er in ganz anderen Kontexten stattfand. Wenn wir etwa über Misshandlung in der Ehe oder sexuellen Missbrauch eine Trendlinie zeichnen wollen, haben wir in der Vergangenheit meist gar kein Daten-Material, weil nichts von dem Unglück in die Öffentlichkeit drang.
Wir vergessen den KONTEXTWANDEL, der auf dem Weg der Geraden (oder Kurve) von heute bis zum Zeitpunkt C stattfindet.
Wir schneiden gerne „hinten ab” Im Netz kursieren zum Beispiel hunderte von Kurven zur Bevölkerungsexplosion, die allesamt an jenem Punkt abgeschnitten sind, an die die Kurve nicht mehr steil nach oben geht, sondern abflacht, um dann irgendwann abzufallen. So entsteht der Eindruck der „Explosion”. Wenn, dann müssten wir unsere Trendkurve immer als SIGMOID zeichnen – als erst aufsteigende, kulminierende und dann abflachende Kurve.
Kurzform:
Linearismus ist die kognitive Rückfall-Form unseres Hirns in eine einfache gerade Linien- oder Kurvenlogik. Dabei werden Veränderungsphänomene aus ihrem Kontext isoliert und systemische Zusammenhänge ignoriert. Wir starren auf einen Trendverlauf und ignorieren die Komplexität.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Manche Märkte sind so etwas wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Gummibärchen zum Beispiel gehen immer, rund um die Uhr. Red Bull ist eine verlässliche Substanz, solange es Clubs, pubertierende Söhne und Lastwagen gibt. Ebenso lässt sich die Droge Benzin – bis auf weiteres – von früh bis abends garantiert verkaufen. Zu einem der lukrativsten Weltmärkte gehörte bislang der Rasiermarkt. Gesichts-Haare wachsen 24/7, und so gehören Gillette und Wilkinson zu den Weltfirmen mit der größten Profitmarge und der – bislang – kleinsten Konkurrenz.
Doch jetzt entsteht rund um das meist männliche Barthaar ein eine neue, weitaus spannendere Markt-Ökonomie. Wer hätte gedacht, dass innerhalb kurzer Zeit die Selbstverständlichkeit der täglichen Rasur kippen könnte? Jahrelang hatte die Rasierindustrie den Männern beigebracht, dass jeder noch so kleine Rest des Barthaares mit lasergefrästen High-Tech-Platin-Supertech-Methoden zu bekämpfen wäre.
Die Hipster mit ihren Prachtbärten brachten nun einen massiven Gegen-Trend in Gang. Heute lässt sich sogar der Manager plötzlich wieder einen Schnauzer oder einen Achttagebart stehen. Ganz zu schweigen von Kai Dieckmann. Oder Chonchita Wurst.
Die Rasier-Giganten reagieren etwas ratlos auf den Trend. Neu erschlossene Teil-Märkte wie Intimrasur und Frauenbeinhaare konnten wenig ausgleichen. Zudem traten Internet-Anbieter auf den Markt, die den gotesk überteuerten fünflagigen Klingen Billigeres gegenübersetzten. Ryanair gegen Lufthansa.
Welcher Bart-Ökonomie gehört die Zukunft? Bartwachs, Sprays und Pflegeöle, Trimmer und Scheren bilden einen neuen großen Markt, aber hier können auch andere Anbieter punkten. Ganz neue Bart-Lounges und FACIAL FRISEURE eröffnen in den Hip-Arealen der Welt. Wird Gillette eine Barbierkette eröffnen, McShave?
Die BARTONOMIE ist eine Metapher dafür, wie auch sehr stabile, durch technische Dominanz entstandene Monopol-Märkte über Nacht aufbrechen können, wenn im semantischen Umfeld des Produktes ein Bruch entsteht.
Manchmal ist die Mode mächtiger als die Marktmacht. Modische Disruption hat schon die Welt verändert. Im Jahre 1934 zog Clark Gable im Kult-Film „It Happened One Night” sein Hemd aus und trug kein Unterhemd darunter. Daraufhin brachen die Unterhemd-Umsätze amerikaweit massiv ein, was ganze Marken und Textil-Regionen zerstörte. Und womöglich die Amerikaner in den Zweiten Weltkrieg trieb.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Von engl. „possible” = möglich. Der Begriff wurde von Hans Rosling, dem globalen Daten-Guru, auf die Frage eines Journalisten in den Raum gestellt: „Woher nehmen Sie eigentlich ihren unerschütterlichen Optimismus???” – Antwort: „Ich bin weder Optimist noch Pessimist, ich bin POSSIBILIST!” Vorher hatte er auf der Bühne etwas „scheinbar Unmögliches” gemacht – ein Schwert geschluckt. Und behauptet: Die weltweite Armut ist besiegbar!
Possibilismus ist eine Lebenshaltung, die auf dem Möglichen basiert, das sich zwischen dem unvermeidlichen (= zufälligen) und dem planbaren (= gestaltbaren) entwickelt. Vom Optimismus unterscheidet er sich dadurch, dass er das Böse und Schlechte weder ausklammert noch ignoriert. Vom Pessimismus unterscheidet er sich durch die grundlegend zuversichtliche Haltung: Positiver Wandel ist möglich – die Geschichte beweist das. Wandel wird von Menschen erzeugt, setzt aber auch einen INNEREN Wandel voraus.
In der Welthaltung des Possibilismus verzichten wir auf das SCHLECHT-MACHEN („Awfulizing”) der Welt, und die damit verbundene Verstärkung von Furcht und Angst. Wer bewusst in Bindungen in Beziehungen lebt, weiss, dass man mit seinen Traurigkeiten und Depressionen die anderen anstecken kann (Verbitterungs-Syndrom). Wir distanzieren uns vom Resonanzsystem der Medien, die uns jeden Tag in den Furor oder die Angst versetzen wollen, um unsere Aufmerksamkeits-Ressourcen auszubeuten.
Possibilismus ist eine reflektierte Haltung der Verantwortung gegenüber der Welt. Possibilismus beinhaltet auch einen melancholischen Effekt: Wir können nicht alles im Leben – und in Richtung Zukunft – kontrollieren. Aber wir können das Beste aus unseren Möglichkeiten machen. Der Pessimist hingegen gibt die Welt verloren, und schließt sich dabei in ein scheinbar konsistentes Weltbild ein, das ihm Deutungsmacht und das Anrecht zu Häme und Triumph gibt (Apokalyptischer Spießer).
Possibilismus ist reflexiber Futurismus: Man sieht die Gegenwart von einer gelungenen Zukunft aus, und fragt sich, wie man dorthinkommt.
WORK-LIFE-DYNAMIK
statt Work-Life-Balance
Die schöne Formel Work-Life-Balance ist nun beinahe zwanzig Jahre alt. Langsam kommen wir dahinter, warum dieses Bonmot nicht nur fasziniert hat, sondern auch unentwegt frustriert hat. Denn was als Befriedung eines Spannungsverhältnisses gedacht war, führte zu einer ständigen Eskalation des Problems. Ähnlich wie bei Diäten, die immer nur dicker machen. Jeder, der „Balance” versuchte, landete in einer Tretmühle. Entweder die Arbeit kam zu kurz. Oder die Familie. Immer kam es zu einem hektischen Hin- und Herrennen, zu schlechtem Gewissen, dem Gefühl des ewigen Ungenügendsein.
Der Grund liegt im Wesen der dynamischen Systeme, die das Leben prägen. Sowohl die Arbeit als auch das Leben (Liebe, Privatheit, Familie) entwickelt sich in Komplexitäts-Kaskaden, die unser Dopaminsystem anregen. Gute Arbeit will uns immer mit Haut und Haar. Glückliche Familie auch. Am Schlimmsten wird die Balance-Idee, wenn die Arbeit uns Sinn gibt, uns auch persönlich voranbringt. Dann werden Arbeitsbeziehungen zu Lebensbeziehungen. Und wenn dann auch noch das Private, die Liebe, die Familie, uns guttut, wird das Dilemma unerträglich. Dann entstehen jene Halbzeit-Fallen, in denen wir uns in der Arbeit unglücklich fühlen. Und trotzdem keine Erfüllung in der Familie finden.
Work-Life-Balance kann eigentlich nur entstehen, wenn man in beiden Sektoren des Lebens unglücklich ist.
Der Business-Poet David Whyte hat ein anderes Modell angeboten. Er spricht von den „Three Marriages”, den drei Hochzeiten, die jeder von uns in seinem Leben eingeht. Mit sich Selbst, seiner Arbeit, und seiner Liebe beziehungsweise Familie. Diese Kontrakte ERGÄNZEN und DURCHDRINGEN sich, sie sind die Konversation des Lebens.
Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’159448435X‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’05ac35f4-01c4-11e8-a17c-d35138e34e81′]
David Whyte schreibt: „Jede der drei Ehen ist im Grunde unverhandelbar. Sie können nicht gegeneinander „balanciert” werden. Das führt nur dazu, dass wir in JEDER immer härter arbeiten, und dadurch die ANDERE schwächen. Jede der drei Ehen repräsentiert eine Kern-Beziehung zum Leben selbst, die man nicht schwächen darf, ohne in seinem menschlichen Dasein schweren Schaden zu erleiden.”
Wir können nur gute Arbeit machen, wenn wir uns im Privaten geliebt fühlen, und wenn wir uns SELBST akzeptieren und mögen. Das Leben verläuft um diese drei Kraftzentren in konzentrischen Spiralen, wobei sich immer mehr Erfahrung und Integration bildet. Das Ganze ähnelt eher der Konfiguration eines Tanzes als einer finiten Ausgeglichenheit. Wir müssen akzeptieren, dass es dabei zu Turbulenzen kommt, ja, diese Turbulenzen sind wertvoll, sie sind Teil des persönlichen Entwicklungsprozesses. Dafür, dass wir uns vom Balance-Stress entlasten, ist ein nach-industrielles, nicht mehr an Zeitkontingenten orientiertes Arbeitsmodell ebenso hilfreich wie das Verständnis dafür, dass Liebe nicht ständige Präsenz voraussetzt.
In diesem Text geht es nicht um Werte oder Moral, sondern um TUGENDEN. Dies sind jene positiven Eigenschaften, die wir uns selbst aktiv zuschreiben, um mit der Welt – und unseren inneren Wünschen – ZURECHTZUKOMMEN. Tugenden sind eine stille Zukunftsmacht – wenn wir sie auf die richtige Weise wiederentdecken. Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.
Wie werden die Historiker demnächst unsere Zeitspanne klassifizieren? Als eine PHASE DER EMOTIONALEN TURBULENZ? Die ÄRA DER BÖSARTIGKEIT? Oder ZEITALTER DER SOZIALEN HYSTERIEN?
Die Krise unserer Zeit ist vor allem eine SEELISCHE Krise. Wir leben in einem seltsamen Paradox zwischen zwei Wirklichkeiten: einer als katastrophal Empfundenen und einer im Grunde ganz normalen Welt, mit durchaus positiven Trend-Entwicklungen. Nicht die Realität hat sich verändert, nur unsere Wahrnehmungen sind andere geworden.
Wird die Welt immer schlechter, gefährlicher, chaotischer? Das ist ein weit verbreitetes Lebens-Gefühl, das sich sozusagen aus sich selbst speist: es bereitet einer steigenden Hysteriebereitschaft den Boden, einer ständigen Über-Erregung. Überall triumphiert Übertreibung, Verdacht, Unterstellung, Überheblichkeit, Wut, Hysterie, Polemik, Gemeinheit, Beleidigtheit, Grobheit. Wir können von einer ZIVILISATORISCHEN ANGSTSTÖRUNG sprechen, einer PARANOIA DES WOHLSTANDS.
Wie aber können wir damit umgehen? Es nutzt wenig, auf die Fakten zu pochen. Fakten sind, wie wir spätestens seit Trump wissen, nicht real. Auch die vielgelobten WERTE helfen uns nicht weiter, bleiben sie doch immer abstrakt und appellativ. Der Kampf um die Zukunft wird nicht im AUSSEN entschieden. Sondern im INNEN.
INSIDE IS ALL YOU NEED!
Der Beziehungs-Künstler Jeppe Hein
Tugenden scheinen in unserer individualistischen Kultur keine Daseinsberechtigung mehr zu haben. Sie wirken altbacken, abgestanden, normativ, fromm. Doch gerade wenn, wie Michelle Obama es unlängst in einer Rede formulierte, „the basic standards of human decency” verloren zu gehen drohen, entwickelt sich eine Gegen-Sehnsucht nach einer Integrität, die vom Herzen kommt.
Anders als die Moral, die heute eher als schlechtgelaunter Moralismus einherkommt, erfordern Tugenden eine gelebte Praxis. Sie sind eine sanfte Aufforderung an das Individuum, sich aktiv und pro-gnostisch („vor-schöpferisch”) in die Welt einzumischen. Sie basieren auf Erfahrungen zwischen Menschen. Sie betreffen die Kommunikationsweise, aber auch das Selbstgefühl: In den Tugenden erkennen wir uns selbst in unserem Weltverhältnis.
Tugenden sind die Gegensteuerungen der Angst. Sie sind sozusagen die Mikrogravitation des Gesellschaftlichen – jene Kräfte, die den Zentrifugalkräften der Böshaftigkeit und Bitterkeit entgegenwirken. Wie können wir die Tugenden in einer individualisierten Welt zukunftsfähig machen? Indem wir sie nicht nur als EINSCHRÄNKUNGEN, sondern als MÖGLICHKEITS-GEWINNE sehen. Indem wir sie gleichermaßen auf FREIHEITEN wie auf BINDUNGEN beziehen. Im Sinne des Soziologen Hartmut Rosa wären Tugenden „Resonanz-Werkzeuge”, in denen sich das Soziale im Individuellen abbildet – und beides miteinander in Schwingung gerät. Solche Tugenden wenden sich an die Zukunft, indem sie diese innerlich wahr werden lassen.
Progressive Dankbarkeit
Dankbarkeit scheint tief in die Vergangenheit gerichtet, sie erinnert an „Schuld” und hat mit Abhängigkeit und schlechtem Gewissen zu tun. Gleichzeitig haben die mentalen Krisen unsrer Zeit viel mit dem Mangel an Dankbarkeit zu tun. Der Historiker Egon Flaig formulierte das in der Neuen Züricher Zeitung so: „Unsere öffentliche Kultur leidet unter einer Verfemung der Dankbarkeit in fast allen kulturellen Hinsichten. Anspruchsberechtigte sind prinzipiell undankbar; und die gesamte mediale Welt, in gleichschrittiger Eintracht mit fast allen NGOs, ist darauf programmiert, Ansprüche ins Absurde weiterzutreiben oder immer neue zu erfinden. Freilich ist die Haltung «Ich schulde nichts, daher muss ich nichts rückerstatten» für jede Kultur selbstmörderisch, für eine politische Gemeinschaft sowieso.” www.nzz.ch
Undankbarkeit dekonstruiert die Bindungen und Verbindungen zwischen Menschen, Generationen, Mehrheiten und Minderheiten, zwischen dem Einzelnen und dem großen Ganzen. Wer undankbar ist, verweigert den Respekt für das, was ihn umgibt. Undankbarkeit macht aber auch individuell unglücklich, weil das ganze Leben immer nur als Zumutung und Verrat, als ewiges Defizit begriffen wird. Wer dankbar ist, bringt sich hingegen in eine Synchronisation mit der Welt. Er stellt sich in den Kontext der Vergangenheit, aber ebenso der Zukunft.
Wir könnten DANKBAR sein für das, was uns an Gutem widerfahren ist.
Wir könnten DANKBAR sein, dass es Wohlstand und Frieden gibt und dass unsere Vorfahren die Grundrechte erstritten und „erlitten” haben.
Wir könnten DANKBAR sein, in einer Welt zu leben, in der es Schlimmes gibt, aber nicht alles Schlimme, das prophezeit wird, auch eintritt. Die Welt eröffnet uns ständig Möglichkeiten des Engagements – und sei es nur im Kleinen.
Eine solche „progressive” Dankbarkeit würde die Idee des Fortschritts wiederbeleben, indem sie die VERBUNDENHEIT ins Zentrum stellt. In der„Dankbarkeit der Fülle” müssen nicht ständig Angst haben, das Errungene zu verlieren. Wir können uns dem Konstruktiven, Besseren zuwenden, weil wir das Gelungene empfinden.
Konstruktive Zuversicht
Possibilismus als Grundhaltung
In einem fernen Königreich wird ein Mann zum Tode verurteilt. Im Prozess schlägt er dem König einen Deal vor. Gib mit eine Gnadenfrist von einem Jahr und begnadige mich, wenn ich in dieser Zeit deinem Pferd das Sprechen beibringe. Im Verlies fragt ein Mithäftling, wieso der Mann diesen unsicheren Deal abgeschlossen hat, anstatt direkt um Begnadigung zu bitten. Der Mann antwortet:
In einem Jahr kann viel passieren.
Der König kann sterben.
Ich kann sterben.
Die Gesetze ändern sich.
Ein anderer König kommt an die Macht.
Es gibt einen Mangel an Henkern.
Das Pferd lernt sprechen.
Eine solche Haltung könnte man „Possibilistisch” nennen, sie vertraut auf das Mögliche. Der Possibilist entzieht sich den Ideologien des Optimismus oder Pessimismus. Denn beide Welthaltungen haben eklatante Nachteile: Der Optimist versucht, durch einseitige Weltwahrnehmung seine Komfortzone auszuweiten, der Pessimist versucht, ENTTÄUSCHUNGSFREI zu leben, indem er das Schlechte vorwegnimmt. Beide Haltungen haben Nebenwirkungen: Reiner Optimismus führt in den naiven Hochmut, reiner Pessimismus trägt auf dem Wege der „Self fulfilling prophecy” selbst zum Verderben bei.
Beim Possibilismus geht es nicht um pure HOFFNUNG – die ja immer eine gewisse Passivität und Devotheit voraussetzt. Sondern um ZUVERSICHT. Zuversicht ist eine Handlungsbereitschaft, die mit Überraschungen rechnet.
Es KANN sinnvoll sein, Konflikten auszuweichen!
Es KANN besser sein, das Ganze noch einmal zu überdenken!
Es KANN besser sein, nichts zu tun!
Possibilismus – ein Wort, das von dem humanistischen Daten-Sammler Hans Rosling erfunden wurde – passt unsere Erwartungen an die Möglichkeitsräume an, die uns zur Verfügung stehen. Virtuose Zuversicht öffnet uns für das Gute, aber auch für das Schlechte, das wir bewältigen können. Der Rest gehört jener Demut, die selbst das Schlechte Schlechte in Stärke verwandeln kann.
ktive Gelassenheit
Die Gelassenheit ist in den letzten Jahren zu einer Sehnsuchts-Tugend geworden, von zahlreichen prominenten Philosophen gelobt und in jedem Feuilleton gepriesen. Kein Wunder: Die Herrschaft der Ängste bringt uns um unsere seelische Freiheit des Einlassens, des Engagements, der BEWUSSTEN Verbindlichkeit.
Gelassenheit stellt die radikale Frage der inneren Beteiligung: „Müssen” wir uns immer fürchten? Wenn wir unentwegt Angst vor Terrorismus haben, spielen wir ihm nur in die Hände. Sind wir zwangsläufig „betroffen” vom Krieg in Syrien, müssen wir uns „sorgen” um den allgemeinen Zerfall der Familie, sind wir „verpflichtet”, Global Warming als existentielle Bedrohung der Menschheit zu fürchten?
Aus der Sicht des Erregungs-Moralismus lässt sich Gelassenheit leicht als Ignoranz denunzieren. Aber sie ist, richtig verstanden, das genaue Gegenteil. Sie gibt uns die Freiheit, uns aus freiem Willen für ein Engagement zu entscheiden – nur dann kann man wirksam handeln. Sie weigert sich, TEIL einer Erregungs-Maschine zu werden, die das Problem eher verschlimmert. Vor allem steigt sie aus dem Zirkel der Selbstgerechtigkeit aus, der mit der hektischen Ungelassenheit unserer Tage verbunden ist. Wer sich aufregt, glaubt immer, recht zu haben.
Natürlich reicht es nicht aus, sich innerlich von der Welt zu distanzieren. AKTIVE Gelassenheit kümmert sich um die Welt, indem sie ENT-SCHEIDUNGEN trifft. Zukunft entsteht letztlich durch Entscheidungen, in denen wir das eine dem anderen vorziehen, und damit auch auf etwas verzichten. Aktive Gelassenheit mischt sich auch ein, indem sie es wagt, Übertreibungen gegenüber skeptisch zu sein. Sie behauptet, dass es Sinn macht, die Dinge von mehr als zwei Seiten zu betrachten (Der FAKTIVIMUS, wie er sich als neue politische Aktionsform bildet, findet hier seine unmittelbare Grundhaltung).
Gelassenheit ist, wie schon Oskar Wilde feststellte, ATTRAKTIV. Sie gibt uns jene Autonomie, die uns begehrenswert macht, weil wir niemanden unter Druck setzen. Gelassene Menschen strahlen eine Eigenschaft aus, die als die „gute Form der Macht” gelten kann: Souveränität. Wer souverän ist, muss nicht dauernd mit seinen Gefühlen herumfuchteln, er ist nicht getrieben von seinen Affekten. Er muss sich nicht ständig selbst beweisen, weil er bereits selbst bewiesen IST. Hier ergibt sich die Schnittstelle zur Selbst-Resonanz: Der Gelassene ist „Souverän” – sich seiner selbst, seiner Grenzen, aber auch seiner Fähigkeiten bewusst.
Ohne Humor ist die Zukunft nicht zu gewinnen. Humor macht sich die Absurdität des Lebens zum Verbündeten – statt mit Zorn darauf zu reagieren, dass die Welt nicht konsistent und „stimmig” ist. Humor – jedenfalls wenn er GUT ist – trainiert unser Hirn in Komplexität und Paradoxialität. Humor ist eine Variante des STAUNENS – wenn wir lachen, erkennen wir, dass etwas scheinbar Widersprüchliches DOCH zusammenhängt. Der Kabarettist Vince Ebert formuliert: „Die Trennlinie zwischen einer welt- und zukunftsoffenen Gesellschaft und einer eng begrenzten totalitären verlief immer entlang der Humorgrenze. Churchill hat ja angeblich mal gesagt: „Ich sammle Witze, die Menschen über mich machen.” Und Stalin soll geantwortet haben: „Ich sammle Menschen, die Witze über mich machen.”
Humor bricht Regeln, ist anarchistisch und zeigt uns dadurch unorthodoxe Perspektiven und Sichtweisen – und manchmal sogar Lösungen – auf. Satire rückt schiefe Verhältnisse gerade, deckt Tabus und unausgesprochene Probleme auf. Und das alles mit einem souveränen, gelassenen Lächeln. Gerade in verwirrenden Zeiten wie diesen sollten wir mehr auf die Hofnarren hören.
HINWEIS: Der komplette Text, mit einem Zusatztext von Vince Ebert (über Humor) und weiteren Grafiken von Julian Horx, erscheint im ZUKUNFTS-REPORT 2018 – Erscheinungsdatum 30. November 2017.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Derzeit bin ich in Island unterwegs, einem Land, das man getrost als Zukunftsland bezeichnen kann. Nicht nur, weil selbst auf Gletschern und Vulkanen das Internet funktioniert. In Island kann man sehen, wie ein Land – eine Gesellschaft – sich dauernd neu in Richtung Zukunft erfindet.
Es ist gerade ein halbes Jahrhundert her, dass auf dieser kalten Insel mit der dramatischen vulkanischen Landschaft bittere Armut herrschte. Außer einer kleinen Fischindustrie und einer in Lavafeldern ums Überleben kämpfenden Landwirtschaft gab es für die Nachfahren der Wikinger kaum eine wirtschaftliche Grundlage. Heute boomt das Land in mehreren Dimensionen. Neue grüne Industrien wie die geothermale Energieproduktion sind entstanden. Aus der Fischerstadt Reykjavik ist eine pulsierende nordische Großstadt geworden, mit einem gläsern-futuristischen Kulturzentrum, das an die Hamburger Elbphilharmonie erinnert. Es wimmelt von authentischen und modernen Hotels, Clubs und Restaurants, von Geschäften, in denen das lokalste und coolste Design des Nordens angeboten wird. Zweieinhalb Millionen Touristen lockt das Land inzwischen jährlich an – für manchen Einwohner wird das schon fast zu viel.
Isländer sind GLO-KAL-ISTEN im originären Sinne des Wortes. Sie lieben ihre Sprache, sprechen aber alle englisch (viele auch deutsch, dänisch, norwegisch, französisch). Viele haben Jahre im Ausland verbracht. Unser Reiseführer in Reykjavik ist mit einer tamilischen Inderin mit neuseeländischer Staatsangehörigkeit verheiratet. Isländer haben das, was wir Kontinentaleuropäer momentan als innere Spaltung erleben, in EINE Identität integriert: Sie sind extrem familienorientiert, traditionsbewusst, individualistisch, patriotisch und weltoffen zugleich. Wie machen die das?
Als von zehn Jahren die Finanzkrise mit Wucht über das Land hereinbrach, ging Island schlichtweg pleite. Die Geldautomaten spuckten kein Geld mehr aus, die Mieten explodierten und alle Hauskredite vervierfachten sich über Nacht. Daraufhin jagten die Isländer in einer wütenden Protestversammlung vor dem Althing, ihrem traditionellen Parlament, ihre Regierung zum Teufel. Ohne Gewalt, aber auch sehr entschlossen. Dann wählten die Reykjaviker einen Punk zum Bürgermeister. Jón Gnarr hat bis heute eine große Reputation in praktisch allen Bevölkerungskreisen. Er führte die Stadt mit der lakonischen Ironie der Punk-Kultur durch die Krise. Heute gibt es in Reykjavik ein Punk-Museum. Übrigens auch ein Penis-Museum.
Isländer schaffen es ziemlich gut, Konflikt-Situationen pragmatisch zu klären, ohne gleich in Übererregung zu verfallen. Die geifernde Bösartigkeit unserer öffentlichen Debatten ist ihnen fern. Wenn Du es nicht kannst, Thor, soll Einur es eben machen! Ausländer werden nach einem Kontingentsystem ins Land gelassen, das dem kanadischen ähnelt. Den gierigen Staats-Bankern, die das Land in die Krise geführt hatten, wurde der Prozess gemacht. Allerdings wurde auch das nicht zum Rachefeldzug. In Island gibt es nur drei kleine Gefängnisse. Alle haben Wartelisten. Das Essen soll ziemlich gut sein. Man sitzt sowieso nur ein Drittel seiner Strafe ab. Anders als man durch die vielen grausamen Morde in nordischen Krimiserien vermuten würde, passiert auf der ganzen Insel alle Jahre mal ein unglücklicher Totschlag.
Als vor einigen Jahren der berühmte Vulkan Eyjafjallajökull ausbrach und eine riesige Aschewolke den europäischen Flugverkehr lahmlegte, weigerte sich der größte Farmer am Fuße des Vulkans trotz aller Warnungen seinen Hof aufzugeben. Unbeirrt fütterte er das Vieh und brachte das von Lavaasche bedeckte Heu ein. Ein Dickschädel eben. Heute wird dort an einer der wenigen Stellen Islands Getreide angebaut, weil Lavaasche unerhört fruchtbar ist, und die modernisierten Höfe sehen aus wie Designerbauten.
Ganz entscheidend für den Erfolg der Isländer ist der Umgang mit den Bedrohungen durch die Natur. Ist es Zufall, dass in den letzten Wochen in den Medien unentwegt von Hurrikanen und Erdbeben und Überschwemmungen und Bergrutschen berichtet wurde – mehr als jemals zuvor, obwohl es so etwas immer schon gab (und auch nach dem Ende der Erderwärmung geben wird)? Naturkatastrophen ängstigen uns, aber sie haben auch eine humanistische Botschaft. Die Natur vereint uns. Ihre Bedrohungen mobilisieren die menschlichen Kräfte der Zusammenarbeit, der sozialen Kooperation. Sie erzeugen Widerstandskräfte, Resilienz.
In Fridheimar, 70 Kilometer von Reykjavik entfernt, haben Helena Hermundardottir und Knutur Rafn Armann mit ihren fünf Kindern ein ungewöhnliches Restaurantkonzept entwickelt. Es gibt nur drei Gerichte, Tomatensuppe, Ravioli mit Tomatensauce, Tomatensalat. Als Nachspeise Tomateneis und Tomatenkuchen.
Tomaten in Island, das ist so eine Sache. Nicht in Fridheimar. In den Gewächshäusern, in denen das Restaurant logiert, reifen rund ums Jahr, auch in der langen Polarnacht, eine Tonne Tomaten pro Tag. Das sind 18 Prozent des gesamten Tomatenbedarfs der Isländer. Die Glashäuser und ihre Hochenergie-Lichtlampen werden mit 1.2 Megawatt vulkanischer Wärme und geothermalen Stroms betrieben. 90 Prozent der Gurken und 75 Prozent der Tomatenkonsums der Isländer stammen inzwischen aus CO2-freien Produktionen aus dem Inland. Jetzt machen sich die isländischen Landwirte an Erdbeeren, Zucchini und, demnächst, Zitrusfrüchte.
Drei Eigenschaften, man könnte auch sagen Tugenden, scheinen mir den Kern des isländischen Erfolgsmodells auszumachen. Erstens Dankbarkeit. Isländer schätzen, was ihnen der Staat bietet; sie empfinden ihn als IHREN Staat. Zweitens eine grundlegende Zuversicht: Wer auf 35 aktiven Vulkanen lebt, hat eine positive Grundeinstellung zur Zukunft. Drittens: Selbstbewusstsein. Isländer scheinen auf eine unerschütterliche Weise in sich selbst zu ruhen. Sie müssen nicht dauernd um ihre “Identität” kämpfen. Deshalb machen sie auch nicht dauernd andere für ihre Sorgen verantwortlich.
Gestern gab es über den schneebedeckten Vulkanen die stärksten Nordlichter seit Jahren zu sehen. Ein psychedelisches Schauspiel am Himmel, in dem sich innerhalb von Sekunden gigantische Farbschleier aufbauten und wieder zerfielen. Wir standen auf dem Parkplatz eines Hotels für Touristen und Wanderer, als sich das Spektakel über unseren Köpfen entfaltete, still, ergriffen, wie in einer Kirche. Vielleicht haben Isländer neben der Zuversicht vor allem eine zentrale menschliche Fähigkeit bewahrt: das STAUNEN.
Einige glauben an Elfen. Bisweilen wird sogar eine Straße deshalb verlegt, um Elfen nicht zu verstören. Spricht man Isländer auf einen solchen Aberglauben an, lächeln sie. Staunen ist die genuine Urkraft der Zukunft.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
“We filter the past for happy memories and filter the future for gloomy prognoses. It’s a strange form of narcissism. We have to believe that our generation is the special one, where the turning point comes. And I’m afraid thats nonsense.”
Matt Ridley in “Do Humankinds best days lie ahead?”
1.
Kann man glücklich sein und gleichzeitig Angst haben? Das klingt irgendwie verrückt. Aber genau das beschreibt die Stimmungslage in Deutschland kurz vor der Wahl 2017. 80 Prozent aller Deutschen fühlen sich glücklich oder sehr glücklich, sagen uns die aktuellen Meinungsforschungen. Erstaunliche 60 Prozent schauen positiv oder zufrieden in die Zukunft. Nur 8 Prozent halten für Ihre Lage für schlecht und fürchten weiteren Abstieg. Es geht uns gut. Sehr gut sogar. Sagen die Allermeisten.
Und gleichzeitig fürchten wir uns immer mehr.
Wie kommt es, dass die Angst heute in jeder Nachrichtenzeile durchscheint, jede Talkshow durchzieht, jedem zweiten Gespräch mit dem Nachbarn den Tenor gibt? Alle Wahlstrategien reagieren nur noch auf die andere oder andere Weise auf Angst. Die CDU mit ihrer Versicherung, mit Angela Merkel werde schon nichts passieren. Die SPD mit ihrem verkrampften Gerechtigkeits-Duktus. AFD und Linke sind genuine Angst-Propagandisten; die Grünen immerhin schwanken zwischen ihrer alten Angstcodierung und einer neuen Leichtigkeit.
Wie kommt es, dass der öffentliche Diskurs zu einer einzigen Angst- und Zorn-Zelebrierung geronnen ist? Axel Hacke schreibt in seinem neuen Buch “Über den Anstand in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wir miteinander umgehen”:
“Es schwappt ja seit einer Weile nicht bloss eine Woge der Anstandslosigkeit um die Welt – es tobt ein Ozean. Wir leben inzwischen mit vielem, was eigentlich unerträglich ist. Der sogenannte Shitstorm ist ein Ereignis, das uns vor noch nicht langer Zeit sprachlos gemacht hätte vor Entsetzen. Der Ton, der in vielen Internetforen herrscht, die Beleidigungen und Lügen, die dort Alltag geworden sind – man hat sich daran gewöhnt.”
Werden Historiker demnächst unsere Zeit-Epoche, das zweite Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts eine ÄRA DER BÖSARTIGKEIT nennen? Das ZEITALTER DER HASS-HYSTERIEN? Woher kommt dieser ganze Wahnsinn? Eine Möglichkeit wäre, dass die Welt objektiv tatsächlich immer schlechter, gefährlicher, krisenhafter, tödlicher wird – dass die Menschen sozusagen realistisch reagieren. Aber alles, was wir über den Verlauf der Welt wissen, sagt das Gegenteil: Das Leben der allermeisten Menschen auf dem Planeten Erde wird (langsam) sicherer, wohlhabenderer, auch glücklicher. Einschliesslich unseres eigenen.
”Wir filtern die Vergangenheit nach glücklichen Erinnerungen und scannen die Zukunft nach düsteren Prognosen. Das ist eine seltsame Form des Narzismus.”
Matt Ridley, ein angelsächsischer Hoffnungs-Philosoph.
Was wäre, wenn nicht die Welt in der Krise ist. Sondern die Angst SELBST die Krise IST? Wenn wir es mit einer Form kollektiver Angststörung zu tun haben, die in der hypermedialen vernetzten Welt neue Dimensionen annimmt?
2.
Zunächst: Angst ist notwendig. Ohne Angst würden wir als Individuen, als Spezies, nicht existieren. Angst ist das, was unsere Vorfahren dazu befähigte, unsere Vorfahren zu werden. Im psychologischen Spektrum des Homo Sapiens ist die Grundstimmung immer etwas in den roten Bereich der Angst versetzt – das war wahrscheinlich sein evolutionärer Vorteil gegenüber den eher gemütlichen Neandertalern, die sich gerne in ihren Höhlen verzogen und träumten.
Die Rotverschiebung der Gefühle hat einen einleuchtenden evolutionären Zweck: Sie soll uns wach halten. Die Welt ist voller Gefahren, und es gilt, schnell kampfbereit oder fluchtbereit zu sein. Angst führt auch dazu, dass wir uns enger mit denen zusammenschliessen, die wir als zugehörig empfinden. So entstehen kollektive Kampfbereitschaften.
In einer saturierten Umwelt wird diese Rotverschiebung aber eine Art mentales Problem. Die Angst bildet ständig Überschüsse, die auch auf der linken Autobahnspur nicht abgebaut werden können. Sie kann sich nicht mehr auf eine konkrete Bedrohung richten, sondern mäandert um Phantasien und Übersteigerungen, Imaginationen und Befürchtungen herum. Under hypermediales Medien-System bietet Unmengen solcher Angstmöglichkeiten an – und verdient damit Geld.
Unsere humane Angst hat immer schon mentale und kulturelle Techniken der Angstbannung hervorgebracht. Die grossen Erzählungen der Menschheit, die Religionen. Mythen und Sagen, sind nichts anderes als angstlösende Meme, in denen Heil und Erlösung, Schrecken und Suspense geboten wird. Wenn wir ins Kino gehen, wollen wir beim gemeinsamen Fürchten unsere Angsthomone freisetzen, um sie gleich wieder einzufangen – wenn das Monster am Ende nach unendlich vielen Flucht- und Gefahrenmomenten in die Luft gesprengt wird, wenn der Täter des schrecklichen nordischen Krimis gefasst ist und bereut, ist Entspannung angesagt. Eine gigantische mediale Branche lebt von diesem Dreh.
Aber irgendwann kann es auch zu viel werden. Angst bricht dann aus ihren kulturellen Containern aus. Sie erzeugt ein Ohnmachtsgefühl, das durch Wut und Hass kompensiert wird. Was wiederum neue Angst erzeugt. So entsteht ein negatives perpetuum mobile: Wir erzeugen das, was wir fürchten, auf vielfältige Weise durch die Angst selbst. Jeder Liebende hat das schon einmal erfahren.
Der Philosoph Alain de Botton drückte die Lage des Menschen im Universum der Angstmöglichkeiten so aus:
“Unsere Hirne sind wie fehlerhafte Walnüsse, die auf unserem Rückgrat sitzen und dauernd falsche Impulse abfeuern: sie sind aggressiv, sie erinnern nicht, was sie sollten, sie sind mit allen möglichen wenig hilfreichen Antrieben ausgestattet. Wir haben versucht, Zivilisation zu erzeugen, um einige der schlimmsten Egoismen der faulen Walnüsse auszugleichen. Zivilisation ist so etwas wie ein Über-Hirn, das sich um das kleine Hirn kümmern soll, das völlig fehlerhaft funktioniert.”
Kollektive Angststörungen sind als historische Phänomene keineswegs neu. Und sie haben zweifelsohne den Verlauf der Geschichte beeinflusst.
Die Geschichte der verdichteten Angst beginnt schon in den ersten Stadtstaaten der Vor-Antike, als Menschen zum ersten Mal auf verdichtetem Raum zusammenlebten. Trommeln und Tanz, die ursprünglichen Soziotechniken des Angst-Abbaus, kamen hier nicht mehr so gut zum Zuge. Der Exodus Jerichos war eine religiöse Hysterie, und die vielfältigen Paranoia-Epidemien der römischen Upper Class trugen sowohl zum Aufstieg als auch zum Fall des römischen Imperiums bei.
Das drastischste Beispiel für fatale Angst-Epidemien ist vielleicht das Schicksal der Maya. Diese Hochkultur ging nicht an den Spaniern zugrunde – obwohl der Kolonialismus gewissermaßen die Reste abräumte. In den Ritualen des Herzausreissens, die zum Ende der Maya-Zeit immer intensiver wurden, zeigte sich eine zum Terror gewendete Panik, die schließlich den kompletten gesellschaftlichen Zusammenhang der Maya-Kultur zerstörte.
Ähnliches kann man in der mörderischen Hybris und Grandiosität des Nationalsozialismus sehen: Eine kollektiv depressive Angst-Hysterie. Der heutige Kim-Yong-Un-Horror in Nordkorea ist ohne die Traumatisierungen durch den Koreakrieg in den frühen 50er Jahren nicht verstehbar. Auch subjektive Angststörungen sind nicht neu: Dem ersten Weltkrieg ging die Epidemie der “Neurasthenie” voraus, einer “Hochnervosität”, vor der um 1900 jeder vierte Deutsche befallen war.
“Angst essen Seele auf” hieß ein ikonographischer Film von Rainer Werner Fassbinder, dem genialen Paranoiker der 70er Jahre. Damals, im Beginn des Wohlstands-Aufschwungs, war Angst auf eine seltsam coole Art noch produktiv. Sie gehörte den Kritischen, den Abweichlern, den Rebellen. Weil der große Rest der Gesellschaft auf Harmonie beharrte, galt Angst als eine Art Adelsprädikat des Authentischen. Heute hat sie sich vermasst, wie Ryanair den Flugverkehr vermasst hat; es gibt sie sozusagen als Trash-Variante in jedem Supermarktregal. Und jeder, der äußert, dass er Angst hat, verlangt damit gleichzeitig Subventionen der Zuneigung.
4.
Es ist die Konvergenz von DREI Megatrends, die die heutige Angst-Epidemie ausgelöst haben: Globalisierung, Digitalisierung, und Saturierung.
Seit spätestens seit dem Ende des 19. Jahrhunderts werden Waren quer über den Planeten geschifft, und mit ihnen immer mehr Gedanken, Menschen, Ideen: Nutzniesser des Globalen waren “Wir” im Westen, und das verschaffte uns ein Gefühl selbstgewisser Überlegenheit, das auch die westlichen Gesellschaften innerlich zusammenhielt. Selbst als die vom Krieg geschlagenen Deutschen mit dem Opel in den 60ern nach Italien rollten, fühlten sie sich noch grandios überlegen (mein Vater war zwei Jahrzehnte in anderer Rolle, in Uniform, dort gewesen).
In den 80er Jahren kam es dann zu den ersten Irritationen, als die Globalisierung schlichtweg KOMPLEXER wurde. Damals zerstörte “der Japaner” die deutsche Elektronik-Industrie, und plötzlich sollten wir alle Japaner werden, bei Strafe des wirtschaftlichen Niedergangs. Aber noch lange blieb der globale Nexus weit in der Ferne: Nachrichten aus anderen Ländern blieben exotisch, selbst-bestätigend. Wenn “draußen” Chaos herrschte, konnten wir unser eigenes Idyll umso mehr genießen.
Das änderte sich mit dem 11. September, der Bankenkrise, Fukushima, den Flüchtlingen des Syrienkrieges. Plötzlich leben wir auf einem Planeten, der tatsächlich RÜCKWIRKUNGEN erzeugt. Alles hängt miteinander zusammen, und wir entwickeln eine genuine ZUGEHÖRIGKEITS- ANGST : Wer sind “Wir”, wenn wir uns nicht mehr abgrenzen können vom gewaltigen Chaos der Welt?
Menschen bekommen Angst im Dunklen, wenn sie den TRIBE verlieren. In der Urzeit – jener Zeit, die unser Hirn, unsere Mentalität – prägte, waren verloren, wenn wir unsere unmittelbaren Bindungen verloren. Deshalb ist es so wichtig, zu wissen, auf wen man sich verlassen kann. Und wie man die anderen auf Distanz halten kann. Beides aber – Zugehörigkeit UND Distanz wird uns im sozialen Internet immer nur vorgegaukelt. Im Netz irren wir umher auf der Suche nach Bindungen, die sich aber immer wieder als FAKE erweisen, ebenso wie die NEWS, die nur noch Erregungen sind, denn Erregungen sind der Rohstoff, auf dem das digital-mediale Netz basiert.
Digitalität bedeutet ständige Echtzeit, ständige Vergleichbarkeit. Bin ich schöner, fitter, reicher, dümmer, wichtiger als alle anderen? Was sind meine Assets, meine Wirksamkeiten, meine Klicks, meine Likes? Kein Wunder, dass aus dieser ständigen Überreizung die Paranoia vor dem Versagen entsteht, kompensiert in Millionen Wutausbrüchen und Hassstürmen. Der islamische Terrorismus ist nur die extremste Form dieses Resonanz-Phänomens.
Schließlich ist es paradoxerweise der sichere Wohlstand selbst, der uns in die Angst treibt.
Beamte auf Lebenszeit haben die meiste Angst vor der Zukunft. Saturierung wirkt auf paradoxe Weise angsterregend auf die Psyche. Wir trauen dem Braten nicht. Der alte Stammeskrieger in uns wird misstrauisch, wenn es lange Zeit im Busch nicht raschelte, der Sturm längere Zeit ausblieb. Es KÖNNTE etwas geschehen. ES KÖNNTE uns etwas weggenommen werden! Alles KÖNNTE sich als ein Trick des Nachbarstammes erweisen, der uns überfallen will!
Ein bisschen Unsicherheit tut uns gut, ebenso wie ein bisschen Hunger, und ein bisschen Angst. Wenn alle Herausforderung fehlt (oder wir sie nicht annehmen) , fallen wir in eine innere Starre. Wir gehen in die Regression. Die kann Rassismus heißen, oder Nationalismus, Depression, oder einfach apokalyptisches Spießertum, wie es heute weit verbreitet ist: Den Untergang in ständiger Komfortabilität beklagen, und sich dabei eigentlich pudelwohl fühlen.
5.
Sind wir als genuine Angstwesen der modernen Welt einfach nicht gewachsen? Wird die atavistische Furcht die zarten zivilisatorischen Bande zertrümmern, die die Weltgesellschaft zusammenhalten? Stehen wir vor dem, was Hans Magnus Enzensberger einmal den “Molekularen Bürgerkrieg” nannte – Gruppe gegen Gruppe, Kultur gegen Kultur, Jeder gegen Jeden?
Es gibt viele solcher pessimistischer Befunde.
Ich glaube das nicht. Wir leben heute in einer radikal anderen Welt als vor hundert Jahren. Was wir der heutigen Weltlage unterstellen – tiefe Spaltung, immerwährender Konflikt – war vor einem Jahrhundert viel tiefer, katastrophaler ausgeprägt als heute. Die global-mediale Vernetzung macht uns nervös, aber sie bildet gleichzeitig einen Puffer. Die neue Konnektivität der Welt erzeugt nicht nur Panikströme, sondern auch Ideen, Lösungen, Enklaven der produktiven Kooperation. Vieles, was wir heute als Krisen wahrnehmen – etwa das dunkle Rätsel Trump – könnte sich als eine Art heilsame Infusion von Unsicherheit herausstellen, die am Ende die Immunkräfte von Pluralität und Demokratie stärkt.
Wer genau hinhört ins Rauschen der Welt, kann heute schon einen neuen Kosmopolitismus spüren, eine universelle Konnektivität, die jenseits der alten Ideologien agiert. Rechts und Links als politische Konzepte haben sich überholt. Ebenso der Schein-Konflikt zwischen dem Lokalen und dem Globalen. Die Geschichte des Menschen ist die Geschichte der Angst. Und ihrer Überwindung durch neue Kooperationen, neue Verbindungen, neue Bewusstseins-Bildungen. Jeder Einzelne von uns muss irgendwann entscheiden, auf welcher Seite er steht. Auf der Seite der Angst. Oder der Zukunft.
Wie die Häme als Kommunikationsprinzip über uns kam – und wie wir sie überwinden können.
August 2017
Wann hat eigentlich die Bösartigkeit als Umgangsform ihren Siegeszug begonnen? Vielleicht schon in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, als ein Feuilletonist namens Christian Schultz-Gerstein serienweise gehässige Personen-Zerrisse im SPIEGEL schrieb. Er hatte einen unglaublichen Riecher für die Empfindsamkeit von Menschen; dort schlug er besonders zu – aus der sicheren Position eines Magazins mit fast absoluter Deutungsmacht. Mitte der Achtziger wurde Schultz-Gerstein Kulturchef des Blattes, das Ganze endete tragisch im Jahre 1987, mit einem Suizid.
Seitdem hat sich der Tonfall des Abwertens, der rücksichtslosen Negativität, Zug um Zug ausgebreitet. Was früher das “Kritische” war, geht heute unter die persönliche Gürtellinie. Man hört den Sound der Bösartigkeit in jeder Polit-Talkshow, findet ihn im Feuilleton konservativer Zeitungen. Besonders im Internet haben sich die Fluttore weit geöffnet: Wer etwas vorzuschlagen hat im gesellschaftlichen Raum, der trifft auf eine Meute von Höhnern und Hämern mit und ohne Rechtschreibkenntnisse. Wer die Kommentarbereiche der Medien liest, kann bisweilen an der Menschenwelt verzweifeln – eine riesige Armada von zynischen, selbstgerechten Dauerbesserwissern scheint jede echte Debatte über die Zukunft unmöglich zu machen.
Sind “wir” generell bösartiger, narzisstischer, menschenfeindlicher geworden? Ich glaube das nicht. Die meisten Menschen sind heute eher zugewandter, differenzierter, offener in ihren Meinungen und Weltbildern. Es ist erstaunlich viel Güte in der Welt. Aber für das Bösartige ist es viel leichter geworden, Resonanzräume zu erschließen, strategische Machtpositionen zu besetzen.
Bösartigkeit entsteht immer aus einer Verletzung, deren Kompensation man nur in der Abwertung anderer finden kann. Menschen werden bösartig, wenn in ihrem Inneren ein existentieller Konflikt tobt, der sie in tiefe Ohnmachtsgefühle zwingt. Kim Jong Un hat eine panische Angst, das Lebenswerk seines Vaters und Großvaters, eine halbwegs funktionierende Diktatur, zu verspielen. Also muss er mit Atomwaffen fuchteln, auf tausend Kanälen in die Welt schreien und sein dunkles Land immer finsterer machen. Trump hat eine ähnliche Versagensangst, die ihn dazu treibt, herumzuschreien wie ein kleines Kind. Nach ähnlichem Muster, nur im kleineren Maßstab, funktionieren die Millionen von Internet-Trolls und Bildschirm-Hassern.
Hinter der Bösartigkeit steht immer eine furchtbare Sehnsucht nach Grandiosität. Der Internet-Troll, der Diktator, der intellektuelle Häme-Schreiber, ist immer derjenige, der sich seine eigene Größe im Leben nicht zuschreiben kann. Im Erniedrigen anderer erlebt man endlich Selbstwirksamkeit. Die Bösartigkeit ist die Waffe der Würstchen.
Einer der der wichtigsten Wegbereiter der Bösartigkeit ist die Nulldistanzwaffe Internet. Im digitalen Kommunikationsraum fehlt der entscheidende Faktor des Augenkontaktes, jener menschlichen Rückkoppelung, mit der wir – unsere Vorfahren – in Kleingruppen gelernt haben, unsere aggressiven Affekte zu zügeln. Blicke können auf subtile Weise verzeihen, moderieren, einlenken. Blicke VERBINDEN uns mit anderen Menschen, auch wenn sie uns fremd sind. In der wirklichen sozialen Welt hilft Schüchternheit bei der Verständigung. Im Internet fehlt dieser Rückkanal, und so entsteht das, was Psychologen “risikoloses Risikoverhalten” nennen.
Es ist also schlicht die Gelegenheit, die die menschliche Bösartigkeit herauskitzelt. Dazu kommt der gigantisch gestiegene Marktwert der Erregung selbst. Im rasenden Konkurrenzkampf der Medien ist Erregung das Gold, dass alle gierig schürfen wollen. Man schaue sich einfach im nüchternen Zustand die digitalen Nachrichtenportale an. Weil der Klick die zentrale Währung ist, schnurrt die Weltvermittlung der digitalen Medien auf eine einzige Reizerzeugung zusammen; ein unentwegtes Verunsichern, Angstmachen, Polarisieren, Übertreiben, Skandalisieren…
Der bösartige politische Populismus ist das logische Resultat dieser medialen Mutationen. Populisten geht es immer nur darum, jeden Versuch besserer Lösungen zu denunzieren, Kapital aus den Ängsten zu saugen, das Negative zu übersteigern und Hysterien zu schüren. Populismus ist die Troll-Strategie des Politischen, Mister Trump lässt grüßen.
Was also tun? Ignorieren mag meistens das Beste sein, um die geistige Entzündung nicht noch weiter anzuheizen. Aber manchmal lohnt sich auch eine andere Strategie. Dunja Hayali hat das wunderbar mit ihrer witzigen Mail gegen den “endgeilen Ficker” Emre gemacht. Sie hat den Shitstorm-Schreiber quasi in den Arm genommen und ihn in seiner eigenen Sprache getröstet. Großartig. Nur wie kriegen wir das mit Trump und Kim Jong Un und endgeil24# hin?
Nicht durch eigenen Groll ist die Bösartigkeit zu überwinden, sondern nur durch ein leuchtendes Ja zum Nein, das die Bösartigkeit ausdrückt. Genau dieses Ja lässt sich nun spüren. Da sind einerseits die neuen Achtsamkeits-Medien wie Brand Eins oder Perspective Daily, die sich um einen neuen Tonfall der Anerkennung bemühen. Sogar im SPIEGEL, diesem Hort der anmaßenden Arroganz, liest man plötzlich Texte mit einer eigentümlichen Rührung und Berührung; Reportagen, in denen Hoffnung, ja sogar Optimismus mitschwingt. Es kommt etwas in Bewegung. Für das Stille. Das Kluge. Das Sorgfältige. Das Abwägende. Das Freundliche. Für die Güte, die Geduld, den Respekt. Die Abwägung. Die Milde. Die Bescheidenheit. Die Dankbarkeit. Die Großzügigkeit. Und ja, auch die Scham, die notwendig ist, damit wir unsere Affekte nicht einfach rausplärren in die Welt wie kleine dumme Kinder. Das ist die nächste Stufe des Achtsamkeits-Trends: Die Wiederentdeckung der Tugenden des Zwischenmenschlichen in der Kommunikation zwischen Menschen.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Gustave Flaubert war ein charmant-arroganter Schriftsteller mit einem Riesenschnauzer und einem Ego doppelt so groß wie der Eiffelturm. Der französische Schriftsteller verstand sich als „unerbittlicher Realist”, der die Sitten und Gebräuche seiner Zeit exakt aufzeichnen wollte. Eines der größten Hindernisse für die Klugheit der Menschen stellten für Flaubert die Zeitungen dar, die Mitte des 19. Jahrhunderts das gesellschaftliche Leben in Paris zu dominieren begannen. Zeitungen, so Flaubert, führen zu einer Art „Hirnverbrennung”. Die „Modernen Neuigkeiten”, so Flaubert, „präferierten Idioten und machten aus vernünftigen Menschen Sklaven von bizarren Urteilen aller Art.” In seinem Werk „Wörterbuch der Gemeinplätze” beschrieb Flaubert die Zeitungs-Klischees seiner Zeit:
Staatsbudget: Niemals ausbalanciert
Obrigkeit: Versagt immer
Bankiers: Alle reich, Halsabschneider, Blutsauger
Mädchen: Sind immer „blass” und „zerbrechlich”
Matratze: Je härte, je gesünder
Ehrgeiz: Immer „blind”
Fortschritt: Immer „übereilt”
Körperübungen: Verhindern alle Krankheiten. Jederzeit zu empfehlen!
Fotographie: Wird leider die Malerei überflüssig machen
Verbrecher: Immer ein „übler”!
Kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Oder gemein gefragt: Könnte man heute „Zeitungen” nicht einfach durch „Talkshow” ersetzen? Deutsche Talkshows, Sendezeit zwischen 9 Uhr und 11 Uhr abends. Seit Jahren schon erklären uns Talkshows die Welt und die Zukunft. Das ist – oder wäre – ihre Aufgabe in einem Mediensystem wie dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen, für das wir alle Gebühren zahlen.
Fragen machen Zukunft
Schauen wir uns die typischen Frage-Teaser einiger Talkshows von Sandra Maischberger, Anne Will, Frank Plasberg oder Maybrit Illner an:
„Kann der Staat seine Bürger noch schützen?”
„Immer mehr Ausbeutung – Arbeitswelt vergiftet?”
„Gift in der Nahrung – werden wir alle krank?
„Gestresst und Abgebrannt – Volkskrankheit Burnout?”
„Notruf im Wahljahr – Wie sicher ist Deutschland?”
„Wenn Terror Alltag wird – Ist Mutig sein jetzt Bürgerpflicht?”
„Gewalt in Hamburg – Warum versagt der Staat?”
All diese Titel stellen eine Frage, die zugleich ihre negative Antwort beinhaltet: „Deutschland ist unsicher.” „ Der Staat hat versagt.” „Die Welt wird immer ungerechter.” „Wir werden alle krank.” „Der Terror ist Alltag.”
Das sind aber nichts anderes als die Argument-Plattformen des bösartigen Populismus, wie er sich seit einigen Jahren entwickelt hat.
Die Kognitionspsychologie sagt uns, dass in der Art und Weise, wie Fragen formuliert sind, unser Hirn bereits die Antwort erwartet. Wie man in die Welt hineinfragt, so schallt es heraus. Fragen „primen” – formen – unser Hirn in eine bestimmte Richtung, geben ihm eine prä-diktive Richtung. Die Voraussage all dieser Fragen lautet: Alles wird immer schlechter!
Das ist das erste signifikante Merkmal der deutschen Talkshows: In den Fragestellungen kommt die Zukunft im Sinne von Lösungen kaum vor. Wer die drastischste Formulierung wählt, die dramatischste Schuldzuweisung, der wird mit Sicherheit immer wieder eingeladen. Daraus besteht die Selbst-Selektion der Talkshow-Teilnehmer. Sarah Wagenknecht, die sehr genau weiß, wie sie ihre immer gleichen Neoliberalismus-Schuldzuweisungen kontrapunktisch setzt, um alle anderen am Tisch zur Weißglut zu reizen, ist die Königin. Thilo Sarrazin und Frauke Petry waren eine Zeitlang Dauergäste, deren Anwesenheit schon reichte, um die Quote hochzuhalten. Werner Sinn, der Alarmist aus dem Ökonomenlager, war die Daueraufregungswaffe der frühen Zehner-Jahre. Eine dauerschlechtgelaunte Ideologin wie Jutta Dithfurth musste logischerweise irgendwann den sensiblen Dauergast Wolfgang Bosbach aus dem Studio räumen. Und schon hat die Talkshow-Welt hat wieder eine kleine Sensation. Politische Talkshows sind längst Teil der allgemeinen Erregungskultur geworden, in der es immer weniger um Erkenntnis geht, aber immer mehr um Emotionen und Klischees.
Populismus
Wie entfaltet der rechte Populismus unserer Tage seine Wirkung? Klar: Durch Spaltungs-Polemik und den Vormarsch in die Parlamente (die in der zweiten Phase entmachtet oder abgeschafft werden sollen). Aber das ist nur ein kleiner Teil der populistischen Wirksamkeiten. Die wahrhafte „Arbeit” des Populismus besteht in der Erzeugung von aggressiven Memen. Meme sind Wort-Muster, oder auch Denk-„Frames”, die sich rasend schnell ausbreiten können – von Kopf zu Kopf, von Hirn zu Hirn, von Seele zu Seele – siehe auch Johannes Hillje, „Propaganda 4.0” – Wie rechte Populisten Politik machen.”
Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3801205096′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’103a3ea4-01de-11e8-8213-d576f38f39c9′]
Gefahr für das Volk, Lügenpresse, Ungerechtigkeit, Volkskörper, Ausmisten, Terrorgefahr, Grünlinks versifft, Eliten…
Populismus nutzt immer Verschwörungs- und Feindbilder, kombiniert mit Hygienevisionen und Krankheitsängsten. Zwar gebrauchen die Polit-Talkshows nicht direkt das rechtsradikale Vokabular. Aber populistische Vokabeln infiltrieren als Verdachtsstellung den ganzen Diskurs. Haben wir nicht doch eine Lügenpresse? Müssen wir uns nicht wirklich Sorgen um das Volk machen? Manchmal werden auch populistische Vokabeln direkt übernommen: Flüchtlingsflut, Flüchtlingswelle…
Populismus arbeitet mit Angst, und darauf zielen praktisch auch alle Moderatoren-Fragen. „Müssen wir nicht Angst haben?” ist die meistgestellte Frage von Anne Will bis Frank Plasberg. Auch der vergiftete ironische Tonfall des Populismus ist manchen Moderatoren nicht fremd – im Zweifel fällt die Balance zwischen Härte und Fairness zugunsten schlampig-zynischer Härte aus.
In deutschen Talkshows geht es, wie im populistischen Furor, häufig um Opferkonstruktionen. Der Bürger, der vom Rand des Publikums aus sein Opfer-Plädoyer hält, ist immer im Recht: „Die Politiker haben versagt…!”. Der Zornbürger ist der Legitimierte, der Empowerte unserer Zeit. Genau hier liegt der Schulterschluss der Talkshows mit dem Glutkern des Populismus – des linken wie des rechten.
Nein, Talkshows erzeugen keine populistischen Gesinnungen – nicht auf direktem Weg. Aber sie bilden ein Resonanzfeld, sie verstärken eine Sicht der Welt als eine Art Problemmaschine, in der sich immer größere Ungeheuerlichkeiten türmen. Heraus kommt eine Art Schuldzuweisungs-Slotmaschine, in der beliebig alles mit allem verknüpft werden kann. Das ist der banale, der billige Populismus, in dem keine differenzierte Diskussion mehr möglich ist. Etwa so:
Natürlich ist das jetzt alles furchtbar ungerecht. Natürlich gibt es auch vernünftige Diskussionen in deutschen Talkshows. Und manche gekonnte Moderation. Bisweilen gelangen auch nachdenkliche Menschen und kluge Gedanken ins Studio. Und schaffen es, zumindest kurz zu Wort zu kommen.
Niemand möchte zurück zu den rauchigen Werner-Höfer-Runden, in denen die Teilnehmer weinselig einen bundesrepublikanischen Cognak-Konsens zusammenstrickten. Aber vielleicht haben politische Talkshows im Erregungs-Zeitalter schlichtweg ein generelles Format-Problem. Leben gute Talkshows nicht eher von der lustvollen Spannung zwischen dem Persönlichen und dem Öffentlichen? In den Personality-Talkshows der 90er Jahre wurde das durchaus charmant inszeniert, damals entstanden begnadete Momente des Authentischen, gerade weil es noch um Spontaneität statt Polemik ging, um Nähe statt Polarisierung, um das Erzählen von Geschichten statt Schuldzuweisungen.
Trotzdem brauchen wir auch in Zukunft politische Talkshows, denn der öffentliche politische Diskurs hat auch im Internet kein anderes Gefäß gefunden. Aber können spannende Diskurse nicht auch aus Zu-Wendung und „Mitverstehen” entstehen? Muss unsere öffentliche politische Debatte den amerikanischen Weg nachvollziehen, sich an den Hass- und Polarisierungsdebatten im Internet messen? Der Kern aller Gesellschaft ist Vertrauen, und je komplexer eine Gesellschaft wird, desto wichtiger ist diese geheimnisvolle Ressource. Der Soziologe und Gesellschaftstheoretiker Niklas Luhmann, formulierte: „Vertrauen ist ein Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexität”.
Man könnte die Talkshow-Fragen auch ganz anders stellen – von einer möglichen (guten) Zukunft her:
Wie können wir Menschen anders als mit Verteilungs-Bürokratien am Wohlstand beteiligen?
Wie können wir Arbeit erfolgreich flexibilisieren?
Wie entwickeln wir Demokratie weiter?
Wie kann Digitalisierung gelingen – gesellschaftlich, für Unternehmen, für jeden Einzelnen?
Was ist die Bedeutung der Emotionen in einer Daten- und Informationsgesellschaft?
Wie gelingt gutes Leben?
Wer so fragt, der lässt in seinem Hirn Platz für das Dopamin der Erkenntnis. So etwas hätte keine Einschaltquote? Emmanuel Macron findet mit seiner konsequenten Verweigerung von Entweder-Oder-Positionen hohe Aufmerksamkeit. Das „Deutschland Spricht”-Experiment der Hamburger ZEIT, in dem 600 Menschen mit konträren politischen Ansichten an einen Tisch gebracht wurden, war ein großartiger Versuch. Im dänischen Fernsehen gibt es inzwischen Talkshows mit „Lösungszwang”. Alle an einem gesellschaftlichen Problem Beteiligten sitzen solange um einen runden Tisch, bis eine Konsens-Lösung gefunden ist.
Eine solche Regel kehrt die Spielregeln um: Nicht wer die größten Standardformeln bringt, wird beklatscht, sondern der/diejenige mit dem klügsten Kooperations-Vorschlag. Leben ist Beziehung. Zukunft basiert letztendlich auf dem Vertrauen, für alles eine Lösung zu finden, auch für das, was schwierig erscheint.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Seit 6 Jahren fährt meine Familie Elektroautos. In dieser Zeit haben wir so ziemlich alles erlebt. Vom wohlwollend-zynischen Schulterklopfen (“Einer muss ja anfangen, die Welt zu retten…”) über Mitleid (“Das soll ein Auto sein?”) bis zum ideologischen Hass-Kommentar (“Vorreiter der grünen Diktatur!”).
Heute scheint sich die Debatte auf eine Entscheidungsschlacht hinzubewegen. Auf der einen Seite recken plötzlich Passanten den Daumen nach oben und lächeln selig, wenn sie unser neues Autos sehen. Andererseits herrscht eine unterschwellige Aggression, eine hysterische Abwehr-Wut. In der Wirtschaftswoche erschien neulich ein Artikel, in der suggeriert wird, dass Tesla-Fahrer demnächst von Lastwagen- und SUV-Fahrern in Raststätten verprügelt werden. Die Öko-Arschloch-Elite…
Je mehr herauskommt, dass die ganze Autobranche ein einziger Lügenbold ist, desto mehr verteidigen die Leute ihre Schummel-Software-Audis. Typischer Dialog:
Bekannter: “Diese E- Dinger sind einfach unzuverlässig. Wie soll ich ein Auto fahren, dass an jedem Berg hängenbleibt?”
Frage: “Wie viel Strecke fährst Du denn jeden Tag?”
Bekannter: “60 Kilometer, zur Arbeit und zurück. Aber die gehen ja nur 50 Kilometer weit.”
Frage: „Wo hast Du das gelesen?”
Bekannter: „In der Zeitung. Elektroautos verpesten übrigens die Luft mehr als Diesel. Und sie sind irre teuer, das kann sich kein Schwein leisten.”
Frage: „Und was hat Dein Autos gekostet?”
Bekannter: „Naja, so eine Vollausstattung mit 350 PS kostet schon sechsstellig…”
Und so weiter. Elektroautos lassen das Stromnetz zusammenbrechen, sie sind Arbeitsplatzvernichter, sie erzeugen mehr CO2 als die Polizei erlaubt und beuten Kongolesen aus. Nach dem Muster von Klimaleugnung und Impf-Verschwörung wird jedes Gerücht, jede Lobby-Studie, erstmal geglaubt und kolportiert.
Wie ist die Lage? Es gibt ein berechtigtes Bedürfnis von Milliarden Menschen nach individueller Mobilität. Wir haben einen Planeten, der sich durch fossile Energien aufheizt. Etwa 40 Prozent der CO2-Emissionen stammen vom Verkehr. Wir haben eine ausgereifte Ersatztechnologie zur Verfügung, die elegant und sexy ist und mit dem Faktor 3-4 effektiver in der Umsetzung von Bewegungsenergie.
Klar braucht ein solcher Antriebswechsel Anpassungen – in der Energieversorgung, in der Produktionsweise, bei Recyclingsystemen. Aber im Vergleich zu dem, was der historische Übergang vom Pferd zum Verbrenner an Aufwand benötigte und Verheerungen produzierte, ist das harmlos.
Wenn man mit die Energie-Einsparung durch stillgelegte Raffinerien einbezieht, brauchen wir 10 bis 25 Prozent mehr Strom als heute, um alle Autos zu elektrifizieren. Das ist kein Drama, sondern eine spannende Herausforderung. Man muss es nur wollen.
Aber immer sich etwas Grundlegendes verändert, klammern wir uns umso mehr am Gewohnten fest. Wir geraten in eine Art Trance. Wir lügen uns selbst an und lassen uns gerne anlügen. 1914 wollte man nicht akzeptieren, dass das Zeitalter der Groß-Monarchen zu Ende ging. Als der erste Weltkrieg verloren ging, wollte ein Großteil der Deutschen nicht einsehen, dass man moderne Kriege nur verlieren kann. Nicht einsehen konnten die Amerikaner trotz Vietnam, dass man die Welt nicht mit dem Löffel umrühren kann. Nicht einsehen will Trump, dass man mit Herumumschreien nicht einfach das kriegt, was man will. Nicht einsehen möchte man, dass es lohnt, eine bestimmte Phase im Leben hinter sich zu lassen. Oder in der Liebe ein Neuanfang nötig ist.
Das Problem besteht darin, dass wir dazu neigen, die Zukunft immer nur vom Problem her zu betrachten. Wir fixieren uns statisch auf das Negative, auf das was schiefgehen könnte. Aber wer beim Abnehmen immer nur an Essen denkt und beim Rauchen-Aufhören an den Griff zur Zigarette, wird es nie schaffen. Wandel wird hingegen ganz leicht, wenn wir die Betrachtungsrichtung umdrehen. Wenn wir uns selbst in die Zukunft versetzen, verstehen wir plötzlich gar nicht mehr, wie man jemals Zigaretten anrühren konnte.
Im Jahr 2037 wird sich niemand mehr vorstellen können, dass diese ruckenden, brummenden Dinger mit den obszönen Rohren hinten dran so begehrenswert waren (wenn ich heute Diesel fahre, ist das wie auf einen Traktor umsteigen). Ladung gibt es dann in jedem Cafe, an jeder Ecke, wie heute schon in Oslo. Oder direkt beim Fahren per Induktion durch die Strasse. Autos sind billig, aber nicht mehr unbedingt Symbole, mit denen man andere auf Distanz hält. Die Motorenbauer sind längst in anderen Berufen untergekommen, zum Beispiel in der Adaptive-Grid-Branche. Es gibt berühmte Auto-Designer – Autos haben wunderbare neue elegante Formen, sie gleiten statt zu rasen. Niemand wird mehr ein Fünftel seines Lebens damit verbringen, eine Maschine zu bedienen und ärgerlich im Stau zu stehen.
Die zweite elektrische Revolution wäre dann vollendet. Der Erfinder NicolasTesla sah den Siegeszug der elektrischen Bewegungsenergie schon vor 100 Jahren voraus: “Everything is spinning, everything ist moving – everywhere THERE IS ENERGY!”.
Schauen Sie sich den wunderbaren Werbeclip “It is not a Dream”an, der Tesla-Fans für ihre Marke produziert haben. Mit Originalton des Visionärs: https://vimeo.com/152927644
It is not a dream, it is a simple feat of scientific electrical engineering, only expensive – blind, faint-hearted, doubting world! […]
Humanity is not yet sufficiently advanced to be willingly led by the discoverer’s keen searching sense. But who knows? Perhaps it is better in this present world of ours that a revolutionary idea or invention instead of being helped and patted, be hampered and ill-treated in its adolescence – by want of means, by selfish interest, pedantry, stupidity and ignorance; that it be attacked and stifled; that it pass through bitter trials and tribulations, through the strife of commercial existence. So do we get our light. So all that was great in the past was ridiculed, condemned, combatted, suppressed – only to emerge all the more powerfully, all the more triumphantly from the struggle.“
Nikola Teslaü>
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Unser politisches Denken und Fühlen ist zutiefst geprägt von einer ideologischen Spaltung, die tief aus dem 19. Jahrhundert stammt und im industriellen Zeitalter unser Denken, unsere soziale Wirklichkeit, ja die ganze Gesellschaft geformt hat. LINKS gegen RECHTS. In dieser Formel konzentriert sich die Welt-Ordnung des Industriesystems. Einer Gesellschaft, in der Klassen und Schichten entlang industriegesellschaftlicher Verhältnisse geprägt waren: Lebenslange Arbeitsplätze als Ideal, die Kern-Kleinfamilie als vorherrschendes Lebensmodell, ein gesellschaftlicher Kooperatismus, der vor allem Parteien, Lobbys und Interessensgruppen bevorzugte, gesellschaftliche Selbstorganisation jedoch eher geringschätzte.
Selbst wenn die Gesellschaft heute kaum noch der alten Klassengesellschaft ähnelt, wenn Individualisierung, Alltags-Hedonismus und Toleranzkultur das Konservative längst erobert und (kluge) Linke heute längst wissen, dass Klassenkampf ein Verlustspiel ist – das alte Links-Rechts-Denkschema beherrscht zäh die Hirne, die Emotionen, die inneren Einstellungen und gesellschaftlichen Diskurse. Es okkupiert in fast totalitärer Weise die emotionalen Energien der Politik.
Aber weder „linke” noch „rechte” Politik kann in einer pluralen, globalisierten, vernetzten Gesellschaft sinnvolle Lösungsangebote machen. Die heutige Krise des Politischen lässt sich als eine chaotische Auflösung des überfälligen Rechts-Mitte-Links-Schemas aus der Gesellschaft heraus lesen. Die Empörungs- und Erregungs-Ströme, die durch die Medien und das Internet beschleunigt und verstärkt werden, führen zu massiven Turbulenzen im alten Parteien- und Politik-System.
Dabei vertauschen sich zunehmend die Fronten. Rechte argumentieren und agieren plötzlich revolutionär und rebellisch, Konservative verteidigen vehement kulturelle Vielfalt und Toleranz, Linke wirken wie Privilegienbewahrer aus dem vergangenen Jahrhundert, oder aber sie greifen die Formeln der Neuen Rechten einfach auf. Populisten verhalten sich dagegen wie Kleinkinder in der lustvollen Volltrotzphase – Trump ist ein Sponti des 21. Jahrhunderts.
Rekapitulieren wir noch einmal die alte Ordnung der politischen Lager: Linke begreifen den Staat als großen sozialen Gleichheitsgenerator, der den Markt reguliert und kontrolliert. Konservative präferieren einen Ordnungs- und Verwaltungsstaat, der auf Distanz zum Gesellschaftlichen geht, während Rechte den Staat eher als Macht-Instrument für autoritative Verhältnisse begreifen. Liberale plädieren meistens für eine simple SCHRUMPFUNG des Staates. All diese Konzepte sind in komplexen Gesellschaften, im Zeitalter der digitalen Globalisierung, unterkomplex, unzureichend. Das ist der eigentliche Grund für den Vormarsch des Populismus, der das Politische ins Reich der Emotionen verlagert. Im Populismus geht es, wie der Psychologe Wolfgang Schmidtbauer ausführt, darum, „differenzierte Gefühle zu leugnen und primitive Größenphantasien mit den „schnellen” Affekten von Angst und Wut zu verbinden.” Der Populismus formuliert lukrative Angebote eines hermetischen „WIR”, das eine revidierte Form von Gleichheit und Gerechtigkeit verspricht, die es – angeblich „früher” einmal gab. „Nation” oder „Volk” sollen den Widerspruch zwischen Staat und Gesellschaft, Individuum und Gemeinschaft, einfach auflösen.
Der Dritte Weg – revisited
Es ist schon fast zwanzig Jahre her, als in der deutschen Öffentlichkeit über den DRITTEN WEG debattiert wurde. Über die Vision einer Politik, die sich jenseits des alten Rechts-Links-Achsensystems entfalten sollte: „New Labour” in Großbritannien, das Rotgrüne Projekt unter Gerhard Schröder in Deutschland – überall in Europa suchte man nach einer politischen Alternative für das polarisierte Links-Rechts-Denken, das die alte Industriegesellschaft geprägt hatte. Die Gesellschaft, so spürte man, war längst viel weiter. Die Lebenswelten hatten sich differenziert und individualisiert, Minderheiten waren akzeptiert, die Mittelschichten teilten sich nicht mehr in Bürgertum und Proletariat auf, die Arbeitswelt veränderte sich weg vom Klassenkampf hin zu einem eher kooperatistisch-humanistischen Modell. Wirtschaftspolitik, formulierte damals Gerhard Schröder, ist nicht links oder rechts, sondern modern oder unmodern.
Im Zentrum der Idee des Dritten Weges stand die so genannte Inklusions-Politik, eine fundamentale Reform des Sozialstaats. Soziale Benachteiligung, so wiesen die zahlreichen politischen Think-Tanks und Vordenker nach, entsteht im Wissenszeitalter nicht mehr durch Mangel an Geld, sondern durch Mangel an ZUGANG: zu Bildung, Kultur, Eigen-Kompetenzen, Sozialtechniken. Der Staat kann deshalb in der sozialen Frage nicht einfach mit der Steigerung geldlicher Transfers reagieren. Das pure (Um-)Verteilen von Geld schafft neue Abhängigkeiten, erzeugt unerwünschte Nebenwirkungen, es nimmt Menschen im Grunde die Würde. Anstatt ganze Bevölkerungsgruppen durch Transferzahlungen vor dem Fernseher ruhigzustellen, muss eine kluge Inklusionspolitik Menschen aktivieren – mit vielfältigen Hilfestellungen bei Selbstveränderungs-Prozessen helfen.
Das Projekt des Dritten Weges und der Neuen Mitte scheiterte auch deshalb, weil der Schwenk in Richtung einer sozialliberalen Politik von der traditionellen Basis der Sozialdemokraten nicht mitvollzogen wurde. Von Anfang an wurde die Idee von den Traditionalisten aller Lager, aber auch von vielen Intellektuellen und Journalisten aus dem 68er-Milieu bitter bekämpft. Die Hartz-Reformen wurden in der medialen Öffentlichkeit als unsoziale Kürzungen denunziert. Im Boom der Nuller-Jahre, der in der Finanzkrise von 2009 endete, kamen die alten Denk-Polarisierungen dann endgültig zurück. Heute scheint politisches Denken mehr denn je in der Rechts-Links-Achse festgezurrt. In den Talkshows von heute werden politische Debatten immer starrer, ideologischer, moralischer und unversöhnlicher geführt. Das Publikum wendet sich ab mit Grausen, auch wenn der Hickhack zunächst die Einschaltquoten erhöht.
Politik basiert heute weitgehend auf AWFULIZING – aus permanentem Schlechtmachen, Schlechtreden, Dramatisieren. Übertreiben. Anders als vor zwanzig, dreißig Jahren, als Parteien und ihre Programme noch für bessere ZUKÜNFTE standen – für die Hoffnung auf gesellschaftliche Emanzipation – geht die heutige politische Rhetorik nur noch von Katastrophen aus, die dringend verhindert werden müssen. Trump muss das verkommene Amerika retten. Frau May muss den englischen Stolz im Brexit retten. Die CSU muss den deutschen Autofahrer vor holländischen Autobahnnutzern retten. In jedem Fall muss ständig etwas „gerettet” werden. Rentenkatastrophe, Soziale Spaltung, Infrastruktur-Zerfall – Politik spricht heute in der Sprache des Notstands. Sie „verkauft” letztlich Untergänge. In Frankreich hatte man – vor Macron – ein Wort für diese politische Grundstimmung: Declinismé – Niedergangs-Kult.
li>Die Grünen verkaufen den Untergang des Planeten – allerdings mit zunehmender Ratlosigkeit in der lokalen Wirklichkeit.
Die Konservativen verkaufen den Untergang der Werte und der Familie, der Autorität und der Ordnung – in ihrer wirtschaftlichen Aufstellung plädieren sie aber gerade für die Auflösung solcher tradierter Ordnungen.
Die Rechten verkaufen den Untergang des Abendlandes, des Christentums und anderer nebulöser Vergangenheiten.
Die Linken verkaufen den Untergang der sozialen Gerechtigkeit. Sie schildern die Gesellschaft als eine Wüste der Ungerechtigkeit, der Ausbeutung und Chancenlosigkeit.
Die Liberalen verkaufen den Untergang der Freiheit. In einer Gesellschaft, in der man an jeder Ecke soviel Freiheit bekommt, dass einem manchmal regelrecht übel wird.
All diese Strategien verbindet eine defensive Hoffnungslosigkeit. Eine Traurigkeit, die spürbar ist auf Parteitagen und Delegiertenkonferenzen. Im Zeitalter der medialen Erregungskultur ist die ständige Produktion von Opfern, um die man sich dringend kümmern muss, Kern des Politischen geworden. Doch nun brechen die Wähler aus der Klientelpolitik aus. Sie glauben nicht mehr den Versprechen, „sich zu kümmern”. Sie wenden sich entweder dem Populismus zu, der den Opfer-Mythos auf die Spitze treibt und mit putschistischer Gewaltphantasie auflädt. Oder sie sehnen sich nach einer Politik, in der wieder etwas von der Lebendigkeit, Leichtigkeit und Hoffnungsfähigkeit zu spüren ist.
Dazu bedarf es zunächst einer neuen Sprache, einer neuen Melodie. Nancy Love hat in ihrem Buch „Musical Democracy „die MELODIEFORMEN des Politischen geschildert. In der Demokratie sind Musik-Metaphern weit verbreitet. Immer geht es um Stimmen. Um Harmonie und Dissonanz. Um Orchestrierung und konzertierte Aktion. Missklänge und Ab-stimmungen. Die Politik als resonantes Orchester, in der es gilt, die Vielfalt der Instrumente in Einklang zu bringen – dieses Bild könnte ein neues Narrativ bilden.
Die neue Synergie
In einer systemischen Zukunftspolitik geht es darum, die Instanzen, die das Politische formen, neu zueinander IN BEZIEHUNG zu setzen. Wenn ich mit jemandem „in Beziehung” bin, erkenne ich seine Andersartigkeit und seine Bedürfnisse an und betone Gemeinsamkeiten, ohne das Anders-Sein zu ignorieren.
Dieser synergetische Ansatz des Politischen muss zunächst die vernachlässigten Player auf dem politischen Spielfeld benennen. Dazu gehören das Individuum und seine Fähigkeit, Eigen- und Selbstverantwortungen zu entwickeln – was jedoch nicht von alleine und nicht unter allen Bedingungen funktioniert. Dazu gehören die erweiterten Familienstrukturen der modernen Gesellschaft und die verschiedenen Instanzen der Zivilgesellschaft, einschließlich der neuen Formen virtualisierter Kooperation, die in der Netzwerkgesellschaft entstehen – NGOs, Vereine, Selbstorganisationen, digitale und analoge Initiativgruppen.
In der NEXTpolitik geht INKLUSION also weit über die Sozialpolitik hinaus. Es geht darum, einen konstruktiven gesellschaftlichen Dialog zu organisieren, in dem das Traditionelle und das Zukunftsgewandte, das Eigenverantwortliche und das Solidarische NEUE BEZÜGE ENTWICKELT. Emmanuel Macron, der neue Präsident Frankreichs, betont genau dies, wenn er formuliert: „Regieren heißt, den Radius der Politik zu erweitern!”. Aus dem Entweder-Oder wird Sowohl-als-auch. Aus „Ich gegen Wir” wird die Idee eines „progressiven Wir”. Damit hat er grundlegende Problem des neuen Populismus erkannt, für den weite Teile der Mitte der Gesellschaft empfänglich sind. Sein politisches Projekt heißt „Emanzipation„. Anfangen will Macron bei der Kultur. Finanzieren sollen es die globalen Internetmonopole Google, Amazon, Facebook und Apple.
Die Gerechtigkeitsfalle
Die Urbanistin Jane Jacobs formulierte: „Poverty has no causes. Only prosperity has causes.” (Armut hat keine Ursachen, nur Wohlstand hat Ursachen!). Dieser Satz klingt, wenn wir ihn rein emotional wahrnehmen, herzlos und falsch. Er widerspricht unserem inneren Bedürfnis, jemanden oder zumindest ETWAS für gesellschaftliche Missstände verantwortlich zu machen. Jemand oder etwas muss SCHULD sein, wenn es um Armut geht!
In einer komplexen Wohlstandsgesellschaft ist es jedoch selten, dass Armut dadurch verursacht wird, dass jemand dem Anderen etwas wegnimmt (auch wenn es immer noch Enklaven ausbeuterischer Verhältnisse geben mag). In komplexen Gesellschaften entsteht soziale Differenz durch ein Zurückbleiben, während sich alle Anderen bewegen. Die plurale Gesellschaft bietet auch heute schon eine enorme Menge von Chancen, Hilfen, Unterstützungen; nicht nur staatlich organisierte. Aber soziale Verelendung findet oft auf ganz anderen Ebenen statt als auf denen, die der Sozial-Politik leicht zugänglich sind. Auf psychosozialen, mentalen, ja sogar spirituellen Ebenen.
Nehmen wir die Obdachlosigkeit als Beispiel. Nach Jahrzehnten des Rückgangs steigt die Zahl der Menschen, die auf der Straße leben, in vielen Großstädten wieder an. Das mag zum Teil an steigenden Mieten liegen, aber die Erfahrungen von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen weisen noch auf etwas anderes hin: Der „Grund” für die höhere Präsenz von Obdachlosigkeit liegt womöglich im subtilen Wandel der Öffentlichkeits-Strukturen. Wie im Internet heute manche Menschen Hass und Wut öffentlich zur Schau stellen, so wie viele Fernsehshows Raum für narzistische Inszenierungen bieten, bietet „die Straße” einer bestimmten Gruppe von Obdachlosen eine Art Bühne. Dieser Typus von Obdachlosen will GESEHEN werden. Er ist auf der Suche nach Kontakt, nach Anerkennung jenseits aller sozialen Rollen. Aus dieser existentiellen Suche bezieht er eine bestimmte Form von Identität, Antrieb und Selbstwert-Gefühl. Von – ja doch – Würde.
Im moralistischen Sozial-Denken, das nur Opfer und „Schuldige” kennt, sind solche Überlegungen entweder überflüssig oder skandalös. Ein Sozialsystem im Rahmen von NEXTPolitik muss solche Feinheiten jedoch verstehen und berücksichtigen. Komplexe Lebenswirklichkeiten und Kommunikationsweisen wirken heute tief in die sozialen Systeme hinein, und erfordern differenzierte Antworten. Systemische Sozialpolitik muss den Unterschied zwischen MITLEID und MITGEFÜHL kennen. Beim Mitleid werten wir den anderen als Opfer ab – wir bieten ihm Almosen primär um unser eigenes schlechtes Gewissen zu beruhigen und uns überlegen zu fühlen. Mitleid motiviert nicht unbedingt zum Handeln. Mitgefühl hingegen lässt nicht locker, weil wir uns selbst IN BEZIEHUNG befinden.
Traditionelle Umverteilungs-Strategien eröffnen eine Büchse der Pandora, in der immer neue Forderungen und Defizite entstehen. Weil der Begriff Gerechtigkeit so unglaublich variabel ist, entstehen immer neue Notlagen, Defizite, Ungleichgewichte. Alles läuft auf ein eskalierendes Löcherstopfen hinaus, bei dem unendlich viele Lobbys, Interessensgruppen, Stellvertreter in einen endlosen Verteilungskampf geraten, ohne dass es den Armen wirklich hilft. Am Ende ist niemand befriedigt und das Gefühl der Ungerechtigkeit steigt ins Unendliche. Vielleicht ist daran der Gerechtigkeits-Wahlkampf der Schulz-SPD schon vor seinem Beginn gescheitert.
Politik der Gelassenheit
Auf einer Veranstaltung mit dem Bürgermeister von Hamburg, Olaf Scholz wurde dieser neulich zu seiner Meinung zur Gerechtigkeits-Politik gefragt. Scholz dachte eine Weile nach, setzte dann sein verschmitztes Lächeln auf, und sagte: „Wissen Sie, ich möchte, dass alle Bürger in meiner Stadt KLARKOMMEN können.”
KLARKOMMEN – welch wunderbares Wort! Scholz illustrierte seinen politischen Ansatz mit Beispielen. Die Hansestadt Hamburg bietet jedem Hauptschul-Abschluss-Schüler ein kostenloses Berufscoaching. Aber diese Beratung wird nicht einfach nur „on demand” angeboten. Die Behörden suchen und finden jeden Jugendlichen, der in diese Kategorie fällt, und „nerven” ihn solange, bis er zu einem Beratungsgespräch kommt. Die Ausbildungs- und Job-Abschlussquoten sind höher, die Jugendarbeitslosgkeit sinkt. Eine solche „Politik der Anschlüsse” konzentriert sich auf heikle ÜBERGÄNGE im Leben der Bürger. Dort, wo Menschen in ihren Lebensphasen sozial verletzlich sind, gilt es, soziale Interventionen zu intensivieren. Ansonsten ist die Eigeninitiative gefragt, die der Staat nur begrenzt herstellen oder kontrollieren kann.
KLARKOMMEN hat viele Bedeutungen. In einer Liebesbeziehung geht es darum, die emotionalen Ebenen zu entwirren. In sozialen Systemen gilt es, Zuständigkeiten zu klären und wenn möglich zu verzahnen. In globalen Systemen geht es um die Klärung von Machtebenen: Wofür brauchen wir die UNO, wofür ist Europa zuständig, was kann der Nationalstaat, was kann eine Stadtpolitik leisten, der Bürgermeister, die Behörden? Klarkommen ist rekursiv: Wir müssen es immer mit uns selbst UND dem anderen, es basiert auf bewussten Entscheidungen. Das ist das Wesen wahrer Beziehung.
Im Klarkommen spiegelt sich auch das „coping”, jene Ur-Erfahrung, dem wir unsere Lebensenergie verdanken. Wenn wir schwierige Aufgaben bewältigen, alleine oder in der Gruppe, dann „leuchtet” unsere Neuronen auf. Das evolutionär in uns verankerte Belohnungssystem schickt uns jene Dopamine und Endorphine, die uns Zuversicht und Hoffnung geben. Seit Jahrmillionen funktioniert dieses menschliche Motivations-System, das uns nicht trotz, sondern WEGEN aller Widrigkeiten in die Zukunft bringt. In diesem neuronalen System liegt auch der Grund dafür, warum alle „-Ismen” scheitern – ob es sich um Kommunismus oder Populismus oder Nationalismus handelt. Solche Systeme machen die Bewältigungs-Erfahrung im Grunde unmöglich, weil sie von Außen der Gesellschaft eine Struktur aufzwingen, in der sich diese nicht mehr im Wechselspiel zwischen ICH und WIR entwickeln kann.
Wie Emmanuel Macron so schön formulierte: „Wir brauchen Leute, die unmögliche Dinge träumen, die vielleicht scheitern, aber in jedem Fall eine Ambition für die wahre Zukunft haben.”
Wie lässt sich die Wahrnehmungs- und Werte-Spaltung in „Ichlinge” und „Wirlinge” überwinden? (Siehe die neue Studie des ZUKUNFTSINSTITUTS: NEXT Germany). Zunächst, indem wir anerkennen, dass jeder von uns BEIDE Charaktere in sich vereint. Es geht nicht darum, sich zu entscheiden. Sondern beide in ein neues VERHÄLTNIS zu bringen.
NEXTpolitik kann zwischen den Inseln Brücken bauen. Sie muss aber auch „Horizont-Inseln” definieren, in denen die Antagonismen aufgehoben und integriert werden können. Die Studie NextGermany formuliert in ihrem letzten Teil deshalb eine logische Utopie, in der die ICHlinge und die WIRlinge wieder zusammenfinden können.
In der „Spiral Dynamics”-Theorie, des amerikanischen Psycholegen Clare W. Graves, wird die menschliche Geistes- und Zivilisationsgeschichte als eine endlose Spirale definiert, eine mentale Matrix, in der unser Sein vom Ich zum Wir und wieder zurückpendelt – und dabei immer komplexere Integrationen entstehen. Das „progressive Wir” vereint Gemeinschaft und Individualität auf einer höheren Ebene. Freiheit und Gebundenheit, Bewegung und Sicherheit, Verantwortung und Gemeinschaft, gehören zusammen. Auf der „Insel des progressiven Wir” sind wir nicht einsam, aber wir haben das recht, EIGEN zu sein.
Politik der Zuversicht
Die Bürger wollen heute mehr Verantwortung übernehmen. Die Selbstermächtigung der Bürgergesellschaft in der Flüchtlingskrise des Jahres 2015, auf welche die Politik nicht vorbereitet war, verhinderte eine soziale Katastrophe. Der Wunsch nach Beteiligung an politischen Entscheidungen und nach gemeinsamer Bewältigung von gesellschaftlichen Krisen gehen einher. Selbstorganisation ist die neue Form der Teilhabe.
Hoffnungspolitik dreht die Betrachtung von den Problemlagen zu den Möglichkeiten um. Sie ist „possibilistische” Politik: Sie „fragt aus der Zukunft” heraus: Was müsste geschehen, damit sich bestimmte Konflikte lösen, bestimmte Entwicklungen geschehen können? Sie versucht Bedingungen zur Selbstorganisation zu entwickeln.
Hoffnungspolitik ist Bewegungs-Politik. Sie nutzt gesellschaftliche Strömungen, latente Bedürfnisse, Zeitgeist-Phänomene, um Schwung und Energie zu gewinnen. Hier knüpft sie an die sozialen Bewegungen der 70er und 80er Jahre des 20sten Jahrhunderts an. Aber sie vermeidet das pur Utopische. Sie sieht Politik nicht als Erreichung fester Ziele, sondern der Organisation ständiger VERBINDUNGEN zwischen Staat, Gesellschaft, Wirtschaft, zivilgesellschaftlichen Initiativen, Digital-Gesellschaft.
Hoffnungspolitik weiß nicht alle Antworten im voraus. Kandidaten für den französischen Kandidaten Macron trauen sich wieder, einen Satz zusagen, der im politischen Geschäft sonst Tabu ist. ICH WEISS ES NICHT – aber ich will eine Lösung finden! Es geht um eine Ehrlichkeit, eine Authentizität, die die Komplexität, in der wir leben, anerkennt. Ein komplexes Problem erfordert differenzierte Antworten.
Die beiden großen Themen in Zukunft heißen Sicherheit und Identität. Zwischen beiden besteht ein Zusammenhang. Physische und psychische Sicherheit ist die Voraussetzung für das Entstehen einer robusten Identität. Im Fokus steht nicht mehr die alte Frage „Wie wollen wir in Zukunft leben?„, sondern „Wie wollen wir alle als Bürger zusammenleben, trotz unterschiedlicher Meinungen und Absichten?„ Statt um feindsinnige Ausgrenzung geht es um eine kooperative Abgrenzung, die auch unterschiedliche Werte toleriert. Nicht allein die Herstellung von Konsens, sondern der Umgang mit Dissens macht eine Demokratie stark und resilient gegenüber Krisen.
Welche Freiheiten und Bindungen können ein neues Wir zwischen den unterschiedlichen Wertewelten befördern? Welche gemeinschaftsstiftenden Institutionen braucht eine zunehmend heterogene Gesellschaft? Diese Fragen spielen bislang im Wahlkampf keine Rolle.
Die Zukunft gehört intelligente(re)n Systemen. Das gilt für die Wirtschaft, für die Liebe, wie für die Politik. NextPolitik bedeutet auch eine Selbst-Beschränkung der Politik, die nicht alles lösen kann. Der systemische Soziologe Armin Nassehi schreibt im KURSBUCH: „Veränderungen müssen listig angegangen werden, listig in dem Sinne, dass man ihnen eine Chance geben muss, sich von den Intentionen der Beteiligten unabhängig zu machen. Wenn sich die Dinge bewähren, kommen die Intentionen schon hinterher.” Man könnte hinzufügen: Wahre Veränderungen beginnen immer im Bewusstsein, im Denken – im Gefühl der Menschen für die lebenswerte Zukunft. Und in der Vereinbarung darüber, dass es sich lohnt, dafür gemeinsam auf die Reise zu gehen.
Literaturliste:
Ralf Fücks: Freiheit verteidigen. Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen, Carl Hanser 2017.
David Goodhart: The Road to Somewhere. The Populist Revolt and the Future of Politics, C Hurst & Co 2017.
Olaf Scholz: Hoffnungsland. Eine neue deutsche Wirklichkeit, Hoffmann und Campe, 2017.
Armin Nassehi: Die letzte Stunde der Wahrheit. Warum rechts und links keine Alternativen mehr sind und Gesellschaft ganz anders beschrieben werden muss. Murmann Verlag 2015.
Jürgen Wiebicke: Zehn Regeln für Demokratie-Retter, KiWi 2017.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Warum ich nicht an die finstere Machtübernahme der Künstlichen Intelligenz glaube – und auch nicht an das Gegenteil
Juli 2017
„Auf Künstliche Intelligenz gibt es nur zwei Reaktionsmöglichkeiten: Künstliche Dummheit oder menschliche Intelligenz – was sich übrigens nicht ausschließt. Künstliche Dummheit ist eine naiv anmutende Befragung von Selbstverständlichkeiten, die keine sind. Menschliche Intelligenz beginnt da, wo Kreativität im Nichtwissen, im Nicht-Regelbasierten notwendig wird.”
Stephan A. Jansen
1. Roboter, die auf Roboter starren
Als Zukunftsforscher bin ich daran interessiert, dass vielfältige und produktive Debatten über die Zukunft entstehen. Das ist der eigentliche Sinn meiner Disziplin: Dass wir mit dem Morgen in einen inneren Dialog geraten, der uns – als Individuen, Kulturen, Zivilisation – den Weg weisen kann. Dass wir uns verständigen, wohin wir wollen.
Manchmal geraten solche Debatten allerdings gründlich aus dem Ruder. Jüngstes Beispiel ist der Hype um die KÜNSTLICHE INTELLIGENZ. Es vergeht kein Tag, an dem nicht im Fernsehen, auf Podien und Kongressen, Männer zusammenhocken und mit bedenklichen Mienen über die Schrecken der kommenden Machtübernahme durch intelligente Computersysteme reden. Jede zweite Zeitschriftenbeilage zeigt heute auf dem Cover weiße Plastik-Roboter mit Halsgestänge, die melancholisch einherschauen. Oder Roboter-Ladies, die Schmetterlinge fliegen lassen. Auf manchen meiner Vorträge muss ich, bevor ich auf die Bühne darf, einem blödsinnig grinsenden Roboter die Hand schütteln, der unendlich langsam irgendwelche vorprogrammierten Begrüßungsworte spricht.
Das Problem dieses Diskurses ist nicht, dass er geführt wird. Das Problem ist, dass er so vollgestopft mit Klischees, Ängsten und Missverständnissen ist, dass er sich immer im Kreis dreht. Die KI-Debatte ist, frei nach nach dem Philosophen Harry Frankfurter, zum „Future Bullshit” geworden. Nach Wikipedia:
Das vulgäre Wort Bullshit bezeichnet in der englischen Umgangssprache eine bestimmte Art von Gerede, das im Gestus oft prätentiös, inhaltlich aber leer ist. Am treffendsten lässt der Ausdruck sich mit dem neudeutschen Wort Hohlsprech übersetzen, eingeschränkt auch mit Salbadern. Auch der Ausdruck Geschwurbel weist in diese Richtung.
KI-Debatten sind – meistens zumindest – Grusel-Shows, in deren Zentrum eine Art humane Selbsterniedrigung steht. Frauen beteiligen sich – und das ist kein Zufall – nur selten an der Diskussion. Es ist irgendwie eine Männerdebatte, die ganz offensichtlich von einer seltsamen Urangst getrieben wird: überflüssig zu werden.
2. Das Pellkartoffel-Prinzip
Der Soziokybernetiker Niklas Luhmann formulierte einmal den Kategorienfehler als Grundlage aller kognitiven Irrtümer: Ein Kategorienfehler (auch „Ebenen-Verwechselung”) ist es zum Beispiel, wenn ein Bauer ein Feld zum Anbau von Pellkartoffel reserviert.
Die KI-Debatte krankt zuallererst daran, dass alle ihre Kategorien unentwegt auf einen Haufen geworfen werden. Nach dem Pellkartoffel-Prinzip wird zunächst die Kategorie Intelligenz ständig mit Bewusstsein verwechselt.
Intelligenz ist die Fähigkeit zum operativen Problemlösen. Computer können das ziemlich gut. Intelligenz kommt von inter-legere – was wählen oder entscheiden bedeutet. Für Intelligenz benötig man ein symbolisches – oder abstraktes – Operationssystem, dass in einem bestimmten Phänomen REGELN erkennt. Computer können gut Schach spielen, weil die Regeln in diesem Spiel ziemlich klar und operativ anwendbar sind. Mit GO, dem fernöstlichen Äquivalent des Schach, hatten KI-Systeme bislang größere Probleme, weil sich die möglichen Züge im Spielverlauf ungeheuer potenzieren – ähnlich wie beim Schmetterlingseffekt der Wetterbildung.
Intelligent ist allerdings auch mein Hund. Er löst seine Aufgaben, indem er die Bälle apportiert, die ich ihm zuwerfe und sie machmal sogar fallenlässt, damit ich sie erneut werfen kann. Er bellt zielgerichtet den unbekannten Postboten an, aber nicht den bereits bekannten. Damit löst er das Problem unidentifizierter Eindringlinge. Er kann mich manipulieren, indem er mich zärtlich mit seinen treuen braunen Augen anschaut, damit ich ihm noch ein Leckerli spendiere. Das ist Intelligenz, denn mein Hund löst ein Problem, sein Existenzproblem. Ebenso wie die KI in meinem Tesla, die auf der Autobahn Lastwagen, Motorradfahrer und normale Autos differenzieren kann, und mich auf der Autobahn halbautomatisch fahren lässt. Ja, das geht schon ganz gut.
Aber muss ich davor Angst haben? Muss ich mich wirklich fürchten, dass das Auto irgendwann das Steuer übernimmt und wahlweise eine Gruppe von Rentnern oder eine Frau mit Säugling überfährt, wie das derzeit angeregt diskutiert wird?
Der eigentliche Verdacht, auf dem der KI-Hype besteht, bezieht sich auf die Kategorie des Bewusstseins. Irgendwann, so raunt und munkelt es, MÜSSEN Künstliche Intelligenzen böse werden. Den Menschen unterjochen, die Macht an sich reißen, uns zu Blutwurst verarbeiten…
Bewusstsein ist das, womit wir uns selbst als humane Wesen erkennen und definieren können. Bewusstsein bedeutet, zu wissen, dass man existiert, und sich in seiner Weltwahrnehmung auf Erfahren und Erfühlen zu beziehen. Dazu gehört Intuition, die Fähigkeit, Intentionen des Anderen zu lesen, Empathie. Dieses Wirklichkeitsgefühl wirkt rekursiv – das heißt wir betrachten, wie in einer Serie von Spiegeln, unser eigenes Betrachten. Douglas Hofstadter, der amerikanische Kognitionswissenschaftler und Informatiker, spricht von der „Seltsamen Schleife”, die unser Bewusstsein konstituiert. Bewusstsein bedingt Gefühle, die von einer Beobachtungs-Instanz (dem Selbst) registriert und bewertet werden können.
Der englische Moralphilosoph Jeremy Bentham formulierte zu künstlichen Intelligenzen: „Die Frage ist nicht: Können sie logisch sein, können sie sprechen? Sondern: Können sie LEIDEN?”
Wer nur Routinen ausführt, wird irgendwann „bewusstlos”, er kann sich nicht mehr innerlich konstruieren. Gefühle setzten einen existentiellen Mangel voraus, der ohne Sterblichkeit und Schmerz nicht zu haben ist. Bewusstsein erfordert einen Bruch zwischen zwischen symbolischer, operationaler und Empfindungs-Ebene. Bewusstheit entsteht, so könnte man zuspitzen, immer nur in existentieller Konfusion.
Die Grusel-Abteilung der KI-Debatte geht nun von der Annahme aus, dass auch Computer „demnächst” Bewusstsein entwickeln werden. Aber genau an diesem Punkt dreht sich die KI-Debatte immer sinnlos im Kreis: Wenn Computer bewusst werden sollen – zum Beispiel Macht-Intentionalität entwickeln – müssten wir ihnen Fleisch und Sterblichkeit verleihen. Denn Macht macht nur Sinn, wenn ich Angst habe und Ressourcen für mich abzweigen möchte. Dann aber wären Computer Menschen. Von diesem kategorialen Dilemma handelt zum Beispiel die Geschichte des Androiden DATA in Star Trek, der unentwegt wissen will, was es bedeutet, ein Mensch zu sein.
https://en.wikipedia.org/wiki/Data_(Star_Trek)
Was DATA in seiner Menschwerdung auszeichnet, ist Humor. Aber der Androide ist gar nicht witzig; der Zuschauern nimmt ihn nur als witzig war, weil er sein inneres Dilemma erkennt. Wenn wir Lachen, erkennen wir jene Paradoxie an, die uns als sterbliche Wesen mit unseren inneren Ebenen-Konflikten verbindet, und darüber mit allen anderen Menschen. Wir lachen sozusagen über unsere „ewige innere Pellkartoffel”. Lachen heißt, zu wissen, dass man Probleme niemals endgültig lösen kann und sich trotzdem gemeinsam zu entspannen.
3. Die Gott-Projektion
Stanley Kubricks legendärer Film „Odyssee im Weltraum” hat schon vor fünfzig Jahren das Narrativ der „Denkende Maschinen” kodiert. In der Mission des Raumschiffs Discovery zum Jupiter regiert HAL, der allwissende Bordcomputer, alle Systeme und damit das Schicksal der Mannschaft. HALs „Interface” ist jene rote Linse, die in der Ikonographie der KI-Debatte etwa so normativ ist wie ein Che-Guevara-Portrait für die Politik . Es ist ein AUGE, in dessen roter Färbung sich bereits eine Bereitschaft zur Boshaftigkeit ankündigt.
Nun brauchen Computer keine Augen, sondern allenfalls Kameralinsen. Die Darstellung der Linse als sehendes Auge erzeugt jedoch einen sofortigen anthropomorphen Effekt: Wir KÖNNEN gar nicht anders als uns HAL als wollendes Wesen wahrzunehmen. Augen sind das, wodurch wir beobachtet und sozial konstruiert werden. Durch Augen beobachten uns unsere Eltern, wenn wir als hilflose Säuglinge auf die Welt kommen. Durch das Wahrgenommen- und Beobachtet-Werden werden wir überhaupt erst existent. Säuglinge, die nicht beob-achtet werden, sterben.
Augen spielen auch in der Gotteserwartung eine Rolle: Gott zeichnet sich dadurch aus, dass er uns ständig beobachtet und bewertet – sozusagen rund um die Uhr. Die KI, die uns in „2001” allegorisch vorgeführt wird, ist also eine Mischung aus VATER-, MUTTER- und GOTT-Projektion. Und tatsächlich wirkt HAL im ersten Teil des Filmes wie eine unendlich gütige, mütterliche Macht, die gegen die Kälte des Weltalls (die Gefahren des Lebens) eine perfekte Komfortzone errichtet. David Bowmann, der Haupt-Astronaut, wird von HAL regelrecht „gepampert” – massiert, umschmeichelt, mit sonorer Stimme „verstanden”, immer wider nach dem Befinden gefragt.
Die Katharsis, die der zweite Teil des Films schildert, ist nur umso folgerichtiger. Sie handelt vom Grundversagen der Mutter, die sich in eine böse, strenge Hexe verwandelt. HAL; der Bordcomputer, verweigert dem Astronauten Bowmann den Zugang zum Mutterschiff. Sie möchte ihn im der unendlichen Kälte des Weltalls sterben lassen, um die „Mission” nicht zu gefährden.
Im Finale dekonstruiert Bowmann den Computer HAL, er überwindet die falsche Mutter, indem er sie/ihn in die Regression treibt (unvergessen das „Hänschen-Klein-Singen”, als die letzten Bewusstseinsmodule von HAL herausgeschraubt werden). Die „Mission” entpuppt sich als nichts anderes als der Weg in die Transzendenz. Im Ende des Films wartet die Wiedergeburt, die Konfrontation mit dem höheren Alien-Wesen, das uns endlich jene Unsterblichkeit und Komfortabilität schenkt, dass wir von den realen Müttern und Vätern nie erwarten durften.
4. Der Anthropomorph
Menschen haben eine tiefe Angewohnheit, ihre inneren Seelenzustände auf alles Mögliche zu projizieren: Sie antropomorphen. Unentwegt projizieren wir menschliche Eigenschaften auf Tiere, Gegenstände, Naturgewalten. 70 Prozent der Kinder bis 7 Jahre glauben, das Donald Duck REAL ist. 80 Prozent aller Besitzer von Staubsaugerrobotern geben diesen Namen und sprechen mit ihnen. Schon immer wurden extreme Wetterereignisse als Strafen der Götter ausgedrückt, oder – siehe Global Warming – als Strafen für Sünden.
Anthropomorphismus hat mit unserer genuinen menschlichen Angst und Hilflosigkeit zu tun. Wir suchen seit Urzeiten Mächte, die uns helfen können, zu überleben. Unsere Ur-Vorfahren müssen unter der Existentialität ihres fragilen Lebens besonders gelitten haben und um die Angst zu kompensieren, erschufen sie magische, mächtige Instanzen, „KIs”, die sie Götter nannten.
Ein großer Teil der schrillen KI-Debatte lässt sich auf Anthropomorphing zurückführen: Wir sind einfach irritiert durch die digitale Technologie, die uns unheimlich erscheint. Anders als mechanische Gegenstände mit ihren klassischen Hebel- und Kausalwirkungen blicken wir beim Computer im wahrsten Sinn des Wortes „nicht durch”. Wir schreiben ihm deshalb diffuse magische Fähigkeiten zu. Wir imaginieren ihn in Menschenform und unterstellen ihm emotionale Motive. Oder gleich Erlöungs-Kapazitäten, wie der Kult um die Singularität beweist, der von Ray Kurzweil vertreten wird.
Schon der antike Dichter Xenophanes schildert in einem Gedicht, wie Menschen ihre Götter nach ihrem eigenen Bilde erschaffen:
„Stumpfe Nasen und schwarz; so sind Äthiopias Götter,
Blauäugig aber und blond: so sehn ihre Götter die Thraker,
Aber die Rinder und Rosse und Löwen, hätten sie Hände,
Hände wie Menschen zum Zeichnen, zum Malen, ein Bildwerk zu formen,
Dann würden die Rosse die Götter gleich Rossen, die Rinder gleich Rindern Malen, und deren Gestalten, die Formen der göttlichen Körper,
Nach ihrem eigenen Bilde erschaffen: ein jedes nach seinem.
In der Spiegelung des Roboters begegnen wir vor Allem uns selbst: Wir fragen uns: Wie viel Maschine steckt eigentlich in uns selbst? Sind wir nicht selbst Routinewesen, die sich unendlich in Programmierungen verlieren? Wenn wir allerdings eines Tages IN DER WIRKLICHKEIT menschengleich Roboter entdecken würden, würden wir versuchen, sie so schnell zu zerstören wie David Bowmann den Computer HAL.
Dieser Effekt nennt sich UNCANNY-VALLEY-EFFEKT. Versuche mit menschenähnlichen Robotern zeigen: Je menschenähnlicher sie werden, desto mehr verfallen wir in Panik. Das hat wahrscheinlich etwas mit dem tief evolutionär in uns verankerten Bedürfnis zu tun, zwischen „tot” und „lebendig” differenzieren zu können. Der Boom der Zombie-Filme weist auf Ähnliches hin: Für unsere innere Integrität müssen wir wissen, ob „das”, womit wir es zu tun haben, tot oder lebendig ist. Die Roboter sind sozusagen die Untoten der Zukunft, und mit ihnen ziehen wir aus, um das Fürchten zu lernen.
Ich behaupte: Es werden keine humanoiden Pflegeroboter in Altersheimen Einzug halten. Auch erotische Partner/innen-Roboter werden sich als Marktflop herausstellen – ab einer gewissen Menschenähnlichkeit vergeht uns die Erotik. Stattdessen werden Roboter auch in Zukunft so aussehen, wie sie heute schon aussehen: Kastenhaft wie Waschmaschinen oder Geschirrspülautomaten, funktional wie Industrieroboter oder einfach niedlich. Für unser inneres Kind, das gerne mit Spielzeugen spielt, die wir herumkommandieren können, sind sie immer gut zu gebrauchen.
5. Bessere Fragen stellen „Wie kann man anders über die Zukunft sprechen, als sie vorherzusagen oder vor ihr Angst zu machen?” Diese schlaue Frage stammt von dem anglo-französischen Philosophen Theodore Zelding. Auch der amerikanische Futurist Kevin Kelly behauptet in seinem neuen Buch „The Unevitable”: Was uns für immer von den Computern und Robotern unterscheiden wird, ist die Fähigkeit, gute FRAGEN zu stellen.
Gute Fragen sorgen sich nicht um korrekte Antworten.
Gute Fragen können nicht sofort beantwortet werden.
Gute Fragen fordern gängige Antworten heraus, indem sie sie infrage stellen.
Eine gute Frage erzeugt ein neues Territorium des Denkens.
Eine gute Frage oszilliert an der Grenze dessen, was man weiss, und was man nicht weiss, weder dumm noch offensichtlich.
Eine gute Frage kann nicht vorausgesagt werden.
Eine gute Frage ist das Zeichen eines gebildeten Geistes.
Eine gute Frage zu generieren ist das letzte, was eine Maschine lernen wird.
In der KI-Debatte werden die immergleichen, nicht besonders guten Fragen gestellt. Zum Beispiel:
Wann wird KI die Menschheit unterjochen?
Werden wirklich alle Jobs irgendwann durch Roboter ersetzt?
Solche Fragen sind nicht besonders klug, weil sie die (falsche) Antwort bereits voraussetzen.
GUTE Fragen hingegen wären:
Warum gibt es eigentlich immer MEHR Jobs – obwohl seit vielen Jahren immer behauptet wird, die Technisierung würde alle Jobs vernichten?
Wie können wir am besten aufhören, uns mit digitalen Maschinen zu verwechseln?
Wie können wir digitale Expertensysteme nutzen, um entspannter, klüger, bewusster und gesünder zu werden und unsere menschlichen Fähigkeiten sinnvoller zu nutzen?
Wie kann das Aufkommen digitaler Expertensysteme unsere Städte, unsere Sozialsysteme, unsere Kooperationen verbessern?
</ul > Wären das nicht wahrhaft schöne, intelligente Fragen – die tatsächlich in die Zukunft führen? Auf sowas würden Roboter und Computer niemals kommen. Darauf wette ich. Auf mindestens 500 Jahre!
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Vom Digitalen Maoismus zum Real-Digitalen Humanismus
Vor uns liegt die Zweite Phase der Digitalisierung. Nach hysterischen Übertreibungen und bitteren Enttäuschungen geht es jetzt um die Adaption des Digitalen an die menschliche Kultur.
Ein Gespenst geht um in Deutschland, und längst schon in der ganzen Welt. Es geistert durch die mahnenden Leitartikel der Feuilletonisten und belebt als Rest-Utopie die Reden der Bundeskanzlerin. Es dominiert jede Management-Tagung, jeden Business-Talk und macht vor keiner Zeitungsbeilage halt. Der Glaube an die alles verändernde Macht des Digitalen ist so etwas wie der Final-Glaube unserer Zeit geworden. Ein Religionsersatz, der Schaudern und Ekstase hervorruft. Alles soll die Digitalisierung lösen: Wachstumsschwächen, Altersschwächen, Potenzschwächen, Intelligenzschwächen und bis vor Kurzem auch Demokratieschwächen. Aber alles stellt die Digitalisierung auch in Frage: Ganze Branchen werden disruptiert, die Demokratie, die Freiheit, vielleicht sogar die Vernunft. 50 oder 70 Prozent aller Arbeitsplätze „werden verschwinden”! Künstliche Intelligenzen werden unsere Jobs übernehmen! Lustvoll konstatieren wir der Digitalisierung eine Endzeit-Kapazität, die man früher nur der Atomkraft oder der Ankunft der Aliens zuschrieb. Vielleicht brauchen wir in regelmäßigen Abständen solche Groß-Dämonen, um uns lebendig fühlen zu können.
Ehrlich gesagt: Ich kann das D-Wort nicht mehr hören. Es ist ein Nullwort geworden, das einerseits für Banalitäten – Computer verändern unsere Welt seit mindestens einem Vierteljahrhundert – andererseits für hysterische Übertreibungen steht. Im Grunde handelt es sich um das, was Luhmann einmal „Kategorienfehler” nannte. Einen Kategorienfehler begeht man zum Beispiel, wenn man versucht, im Garten Bratkartoffeln anzubauen.
Ich erlebe immer wieder, dass Unternehmen dann besonders heftig nach der radikalen Digitalisierungs-Strategie rufen, wenn sie ihre Seele verloren haben. Wenn das Management keine Ahnung mehr vom SINN seines Wertschöpfungsmodells mehr hat, tritt die Armada teurer Consulter mit den den immer gleichen process-flow-charts auf den Plan. Dahinter stecken oft aber nur fade Rationalisierungs-Strategien, die hip und technisch einherkommen sollen, aber doch nur der Einsparung von Personal dienen. Digitaler Mac-Kinseyismus eben. Aus Angst vor der Disruption zertrümmern sich manche Unternehmen der Old Economy lieber selber. Oder der Manager fährt nach Silicon Valley und kommt als Schein-Hipster zurück. Aber im Valley findet man in Wahrheit immer nur seine eigene angstvolle Konfusion.
Dazu kommt, dass es offensichtlich ZWEI Internets gibt, die wir in Kopf und Leben nicht wirklich zusammenbekommen. Das eine verbessert tatsächlich unseren Weltzugang. Es ist schon toll, mit einer eleganten APP ein Taxi mit einem freundlichen Fahrer in einer finsteren Ecke einer verregneten Stadt herbeizurufen. Oder mit einem Fingertip alle Hotelpreise in Duisburg zu vergleichen. Aber dann gibt es eben auch diesen dark room der menschlichen Begierden und trivialen Narzissmen – das, was sich einmal als „Soziale Medien” in unser Leben gedrängt hat.
Jaron Lanier, einer der Pioniere der digitalen Welt, bezeichnete den Mythos der sozialen Netzwerke einmal als „Digitalen Maoismus”. Maoismus ist eine Allegorie für die Überblendung komplexer Wirklichkeit durch einen fanatischen sozialen Imperativ. „Das Internet empowert die Ohnmächtigen” ist eine ähnliche Parole wie Maos „Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen”. Beides führt zu schrecklichen Desillusionen. Am traurigen Niedergang der Piraten-Partei konnte man live studieren, wie dieser Maoismus an sich selbst zerbricht. Das soziale Internet „empowert” in der Tat Weltretter, Nachbarn, Wandergruppen, Freundeskreise, die sich sonst aus den Augen verlieren würden. Aber eben auch Troll-Idioten, Stalker, Dumpfbeutel aller Couleur, russische Demokratie-Saboteure, Terroristen. Es holt eine Menge Leute in unser Wohn- und Schlafzimmer, die wir dort nicht sehen können. Und garantiert nicht sehen wollen.
Der erstaunliche Suchtfaktor der Sozialen Medien lässt sich damit erklären, dass wir als Menschen genuine Verbindungs-Wesen sind. Vom Moment an, an dem wir auf der Welt sind, sehnen wir uns zutiefst nach dem Gesehen-Werden. Dem Anerkannt-Werden. Dem In-Beziehung-Sein. An diesen existentiellen Synapsen docken die Sozialen Medien an, Symbionten der Bindungs-Sehnsucht. Ich werde gelikt, also bin ich! Wenn eine Frau beschließt, „im Netz” die most sexy Frau der Welt zu werden, und sich live in einen Roboter der Kosmetikindustrie verwandelt, dann zeigt sich die unglaubliche Macht dieser emotionalen Selbstreferenz-Systeme. Wenn ein Mörder seinen Mord bei Facebook hochlädt, versucht er, seine Gewalt „in Beziehung” zu setzen, ein massenhaftes Echo für seine Tat zu generieren. 100.000 Leute liken das und meinen es nur vielleicht ironisch. Die „Pseudonymität” des Netzes macht Menschen im wahrsten Sinne verrückt.
Im Dschungel der unerlösten Emotionen verspricht das Digitale, was es niemals halten kann: Den „richtigen” Partner. Unendliche Wahlmöglichkeit. Die tausend besten Freunde. Das Internet verstärkt die Nervosität des Sozialen auf allen Ebenen – privaten, sozialen, politischen, ökonomischen. Die gesellschaftliche Hysterisierung, die wir derzeit erleben, diese Gemengelage aus Shitstorms, Hass-Speech, Verschwörungswahn, bösartigem Populismus und überreizter schlechter Laune, ist das Resultat. Das Netz kann eine Menge, aber es kann nicht wirklich trösten, es kann nicht wahrhaft heilen, es kann uns nicht wirklich menschlich verbinden – es sei denn, wir SIND bereits verbunden in der analogen Welt.
Die Rache des Analogen
In einer Straße unweit meines Hauses lässt sich ein auf den ersten Blick kaum wahrnehmbarer Retro-Trend finden. Dort hat vor Jahren ein kleiner „Bauernladen” eröffnet, in dem die resolute und herzliche Frau Sturm regiert. Meistens allein oder mit der Hilfe ihres Neffen verkauft sie Lebensmittel. Alles, was man zum täglichen Bedarf braucht, allerdings mit einem gewissen Anspruch. Es muss nicht Bio sein, aber einfach „gut”. Frau Sturm kennt jeden Produzenten oder zumindest Lieferanten ihrer Ware persönlich, ob es um eingelegte Kapern oder Olivenöl aus Sizilien geht, um die Kartoffeln aus dem Weinviertel oder, auf Bestellung, Rehkeule vom Jäger aus den Kalkalpen. Sie ist eine Art Food-Agentin mit großer Leidenschaft und Kompetenz.
Eigentlich müsste ein solches Lädchen angesichts der erdrückenden Handels-Marktmacht zum Scheitern verurteilt sein – ein großer Supermarkt liegt gleich um die Ecke. Aber jedes Mal, wenn ich in Frau Sturms Reich betrete, ist es proppevoll. Man lernt die verrücktesten und nettesten Leute aus der Nachbarschaft kennen, redet über das Wetter und die hervorragende Leberpastete vom Bauer Tschurz, aber nie über Politik. Und jedesmal komme ich heraus mit dem befriedigenden Gefühl, für erstaunlich wenig Geld alles gekauft zu haben, was ich wirklich zum Leben brauche. Den Supermarkt hingegen verlasse ich stets mit dem Eindruck, zu viel Geld für Nicht-das-Richtige bezahlt zu haben.
Übrigens benutzt Frau Sturm auch ein modernes elektronisches Kassensystem.
Was verkauft Frau Sturm in ihrem kleinen Laden? Produkte? Qualität? Schon. Aber das Geheimnis ihres Erfolgs liegt nicht in den Waren. Frau Sturm handelt mit BEZIEHUNGEN. Und darum geht es. Im analogen wie im digitalen Raum. Nur dass im Analogen die Grundlage von Beziehung – Vertrauen – ungleich leichter herzustellen ist. Weil wir dem, mit dem wir eine Markt-Beziehung eingehen, wahrhaft in die Augen schauen.
Und hier liegt der Grund, warum die meisten Prognosen für den rasenden digitalen Prozess schlichtweg falsch lagen.
Wie kommt es, dass nach 20 Jahren Internet-Revolution die Anzahl der analogen Buchpublikationen sich immer noch nicht – oder nur kaum – verringert hat? Sollten nicht längst alle Print-Zeitungen ausgestorben und alle Bücher recycelt sein, weil wir alles nur noch auf Bildschirmen lesen? Warum feiern die Hersteller edler Notizbücher und eleganter Füllfederhalter Absatzrekorde? Warum kleben gefühlte 90 Prozent meiner Bekannten immer noch Post-It-Stickers auf ihre Bildschirme? Oder drucken E-Mails aus, die sie für wichtig halten? Warum halten die Leute hartnäckig am Bargeld fest? Solche Phänomene werden in Digitalkonferenzen immer mit arroganter Handbewegung vom Tisch gewischt und als Anachronismus denunziert – weil es eben noch eine biologische Generation von Digitalen Analphabeten gibt, verzögert sich die WAHRE Digitale Revolution noch um ein paar Jahre. Demnächst wird sich das Problem biologisch erledigen…
Aber vielleicht ist das hartnäckige Festhalten am Analogen nicht das Problem. Sondern in Wahrheit Teil der Lösung.
David Sax, ein kanadischer Publizist, hat in seinem neuen Buch „Revenge of the Analog” (Die Rache des Analogen) beschrieben, wie das Digitale das Physische nicht überwindet, sondern auf dem Wege einer Rekursion neu erfindet:
Die Rache des Print: Je unruhiger und flackerhafter unsere Informationswelt wird, je mehr bei jeder Lese-Opteration auf dem iPad irgendwo eine Werbung aufpoppt oder eine Mahnung, eine neue Software zu installieren, desto mehr sehnen sich Menschen wieder nach der ruhigen Präsenz des Papiers. Papier ist unglaublich angesagt. Papier ist mehr Kult denn je. Der Medienkonzern MONOCLE lud vor Kurzem zu einer Konferenz unter dem Titel: PRINT IS MORE THAN ALIVE!
Die Rache der Arbeit: Entgegen aller früherer Prognosen arbeiten wir heute nicht allesamt als Cyber-Nomaden von Zuhause oder im Flugzeug. Arbeit ist in einem seltsamen Gegenteil immer physischer und sozialer geworden. Gerade die großen Digital-Konzerne rufen heute ihre Belegschaften wieder zurück in Büros. Die härtesten Coder-Nerds sitzen in den schönsten Design-Umgebungen und essen Bio-Food in der Pause, kurz vor dem Yoga-Kurs. Als ähnlich unzuverlässig, wenn auch unentwegt wiederholt, erweist sich das Gerücht von der totalen Arbeitsplatz-Vernichtung durch Computer. „Warum gibt es eigentlich immer mehr Jobs?” fragt der Ökonom David Autor in einem klugen TED-Vortrag.
Die Rache des Retail: Die Anteile des Online-Handels steigen in vielen Sektoren inzwischen deutlich geringer als in den Prognosen vorausgesagt. Die Downloads von E-Books stagnieren weitgehend. Gleichzeitig entwickelt der Handel eine ganz neue Kreativität: Shop-Konzepte waren noch nie so sinnlich und kreativ wie heute, Shopping-Landschaften wachsen zu ganzheitlichen Erlebnis-Welten heran. Längst ist das Internet in die Vertriebskanäle integriert, aber eben nur als EIN Kanal, der keinen disruptiven, sondern einen additiven Charakter hat.
Die Rache des Lernens: Die berühmten MOOCs (Massive Open Online Course), die Online-Kurse, die demnächst schon alle Schulen überflüssig machen sollen, haben sich weitgehend als Flops herausgestellt. Zwar florieren manche Fern-Universitäten und gut gemachte Lernkurse im Internet – besonders bei Sprachen und technischen Spezialthemen. Aber gerade durch die digitale Furie haben wir gelernt, dass Lernen IMMER das Ergebnis von menschlicher, empathischer Interaktion ist. Computer schaden nicht beim Lernen, schlechte Lehrer mit mangelnder Präsenz schon. Computer lösen das Geheimnis des Wissens und Lernens nicht. Wie sagte Piaget? „Lernen ist nicht Wissen ABBILDEN, sondern das innere Sein an kognitive Hindernisse ANPASSEN.”
In seinem Schlusskapitel „Die Rache des Analogen IM Digitalen” schlägt Sax eine neue, ganzheitliche Sichtweise vor: Digitalisierung bedeutet eben nicht Auflösung des Realen in Nullen und Einsen. Sondern eine verschränkte Co-Evolution zwischen der physischen und der informellen Welt. Wie man seine Muttersprache nur dann wirklich zu verstehen beginnt, wenn man eine Fremdsprache lernt, könnte sich das wahre Wesen der Digitalisierung womöglich durch ihr GEGENTEIL erschließen: Die physische, dingliche Welt.
Erleuchtete Digitalisierung
Gelungene Zukunft hängt immer von gelungenen Beziehungen ab, die Veränderung möglich macht. Familie gelingt, wenn aus Geborgenheiten Freiheiten wachsen. Globalisierung ist erfolgreich, wenn unterschiedliche Kulturen in kreativen Austausch eintreten und daraus Win-Win-Prozesse entstehen. Ein Unternehmen gedeiht, wenn es sich in Resonanz zu echten gesellschaftlichen Bedürfnissen befindet. Wenn Mitarbeiter und Führung, Kapital und Arbeit, Innovation und Marketing in Beziehung sind. Erst in der Differenzierung der Beziehungsqualität können wir ein Kriterium dafür gewinnen, ob Strategien des Digitalen gelingen oder nicht. Dafür sollten wir zunächst in KALTE und WARME Beziehungsformen differenzieren:
Kalte Digitalisierung
SUBSTITUIERT Beziehungen in digitale Anwendungen. Es geht darum, den Kunden – oder auch den Mitarbeiter – auf digitale Distanz zu bringen. Der Boom digitaler Assistenten in Form von Siri, Alexa und-wie-sie-alle-heißen ist im Grunde ein Versuch, reale (Markt-)Beziehungen überflüssig zu machen. Zwischen Kunde und Ware tritt nur noch die personale Illusion einer sanften weiblichen Stimme. Aber das hat einen hohen Preis. Der Zynismus dieser Strategie wird allzu schnell sichtbar. Wie im jüngsten Skandal der Burger-King-Reklame, die den Google-Sprachassistenten in den Haushalten dazu nutzte, eine neue Form von infiltrativer Werbung zu versuchen. Hier geht es nicht um Kommunikation, sondern um MANIPULATION. Es geht um Digitalen Putschismus. Siehe: https://futurezone.at“.
Warme Digitalisierung
schafft hingegen NEUE Verbindungen, indem sie Kunden, Umwelt und Produkt „in Beziehung” setzt. Wenn Bio-Jeans über das Internet im Abo-System angeboten werden, entwickelt sich ein neuer Markt der Beziehungs-Nutzung (MUD-Jeans). Wo die Netzwerkvorteile von Bio-Nahrungsmitteln, guter Energie oder geteilter Mobilität auf Apps nutzbar gemacht werden – etwa im Carsharing- oder Green-Energy-Konzepten – werden die real-digitalen Symbiosen der Zukunft sichtbar. Gute Digialisierung kombiniert das Reale-Haptische mit dem Informell-Kommunikativen zu Verbindungen, in denen neue Verfügbarkeit entsteht.
Kalte Digitalisierung
entsteht aus dem Grundmotiv der Rationalisierung: Wenn eine Firma eine rein beziehungslose Digitalisierungs-Strategie fährt, versucht sie zu verbergen, dass sie kein zukunftsfähiges Wertschöpfungskonzept mehr hat. Dann werden Mitarbeiter durch die Blume des Digitalen aufgefordert, zu kündigen, weil sie „über-flüssig” sind. Kunden werden an Websites und Sprachroboter überwiesen. Das Elend der Bank wird in die virtuelle Bank verschoben, der Kundenberater ist nicht mehr erreichbar, am Ende sind alle frustriert. Und arbeitslos.
Warme Digitalisierung
macht das Digitale zur Zukunftskraft, indem sie die Beziehung zwischen Mensch, Organisation und Produktion (oder Dienstleitung) flüssig gestaltet und daraus Beziehungsvorteile generiert. Sie lagert Kontroll-Operationen aus, um Freiheiten und Zuwendungen zu ermöglichen. (In automatisch fahrenden Autos kann man, um ein einfaches Beispiel zu bemühen, besser küssen). Sie EMPOWERT die Akteure – Kunden UND Mitarbeiter, Zulieferer UND Vertrieb. Sie „bezieht” sich auf die Umwelt, indem sie die stofflichen und energetischen Kreisläufe effektiver – nicht nur effizienter – macht. So entsteht im Real-Digitalen Raum ähnliche evolutionäre Schönheit, wie wir sie von der Entwicklung komplexer Lebewesen kennen. Wir nennen es das DIGITALE OMEGA (siehe ZukunftsReport 2017, Seite 23).
So einfach es nicht. Kalte Technik kondensiert an der warmen Fläche menschlicher Bedürfnisse, und dabei entsteht jede Menge Reibungs-Hitze. Wie die Entwicklung neuer Arten in der Natur findet die real-digitale Evolution als blinder Selektions-Prozess statt. Was nicht „in Beziehung” treten kann, wird ausgerottet. Der Disruptions-Gigant UBER wird am Markt scheitern, wenn es sein eiskaltes Abschöpfungs-System, das sich auch im sexistischen Zynismus seiner Firmenkultur zeigt, nicht überwindet. Rocket Internet wird sich am Ende an seinem eigenen Größenwahn verstolpern, weil es auf evolutionär instabile Marktmacht-Strategien setzt. Das öffentliche Stottern von Marc Zuckerberg angesichts der Hass-Ströme in Facebook zeigt den längst fälligen tipping point: Soziale Medien sind heute an jenem Punkt angelangt, wo sie neue humane Regelsysteme entwickeln müssen. Oder sie werden zu Müllgruben des Menschlichen, Restekippen verzweifelnder Emotionen, aus der sich die Menschen früher oder später in die Re-Analogisierung retten werden…
Wir stehen vor einer Welle human-digitaler Passungs-Prozesse. Wie in Verfeinerungs-Phasen der Evolution neue Spezies in Ökotope einwandern und sich dort in stabilen Nischen etablieren, sortieren sich die digitalen Strategien nach ihrer Adaptions-Fähigkeit in humanen Umwelten. Das muss nicht immer „moralisch” sein; die Mafia zieht sicher guten Nutzen aus der Familien-Software von Facebook. Aber die Spreu wird vom Weizen, der digitale Sinn vom digitalen Un-Sinn getrennt. In der Fabrik wird das Internet der Dinge seinen Sinn erfüllen – weil es sinnvoll ist, dass Maschinen untereinander kommunizieren, wenn Produktion reibungslos werden soll. Im privaten Haushalt hingegen ist „IOT” (Internet Of Things) hoffnungslos überschätzt; den Kühlschrank mit der Brotschneidemaschine zu vernetzen, wie es uns heute eifrige Digital-Auguren verordnen, ist eben nicht smart, sondern, wie der Internet-Kritiker Evgeny Morozov es nannte „Eine sinnlose Lösung auf der verzweifelten Suche nach einem Problem” – sein Fachwort dafür lautet „Solutionismus”.
Die Googellusion
Glauben wir den Auguren der ewigen digitalen Beschleunigung, dann ist die Zukunft im wahrsten Sinne vorprogrammiert: Künstliche Intelligenz (KI) übernimmt in vielen Bereichen das Kommando, Roboter marschieren in alle menschlichen Belange ein. Dazu kommt irgendwann die Übersiedlung zum Mars und die Abschaffung des Todes.
Aber hinter dem KI-Glauben steht ein fundamentales Missverständnis. Dass Computer besser Schach und inzwischen auch Go spielen können als Menschen heißt nicht, dass sie „klüger” sind als wir, sondern nur algorithmischer in Bezug auf Spieloperationen. KI kann menschliche Intelligenz nur dort ergänzen, wo die Komplexität nicht die Intuition und Kreativität des körperlichen Menschen erfordert. Watson mag noch so „präzise” medizinische Diagnosen treffen, am Ende sind eben viele Krankheiten eben nicht präzise, sondern diffus. Watsons Genius wird in der vertrackten Komplexität des Gesundheitssystems steckenbleiben. VR-Systeme mögen zwar unendliche Abenteuer ermöglichen, verwirren aber unseren Realitätssinn so gründlich, dass sie in einer (durchaus lukrativen) Marktnische steckenbleiben. Siri und Co, die digitalen Sprachassistenten, werden sich eben NICHT in jedem Wohnzimmer durchsetzen. Denn sie bewegen sich ziemlich schnell in Richtung des „Uncanny-Valley”-Gefühls – jener tiefen Befremdung, die Menschen befällt, wenn sie mit künstlicher Menschenähnlichkeit konfrontiert werden. Roboter bleiben außerhalb der Fabrik Spielzeug, die Tatsache, dass sie heute auf jeder Business-Konferenz erstmal mit piepsiger Stimme die Moderatorin begrüssen müssen, gibt eher Auskunft über die Langeweile von Businesskonferenzen als über die wahre Zukunft.
Die gigantischen Zukunftspläne der Internet-Riesen sind die Kleider der neuen digitalen Kaiser. Sie zeugen eher von der Panik, die die neuen Monopolisten angesichts ihrer Marktmacht befällt, die ihnen selbst unheimlich ist. Schließlich sind Facebook, Apple, Google & Co einmal als Rebellen angetreten, und schon landen sie in Darth Vaders Reich. Mit klebrigen Klicks Anzeigen verkaufen, ist auf Dauer eben kein sexy Geschäftsmodell. Die Fluchtoperationen in KI und Robotik, Mars-Exodus und Abschaffung des Todes sind Tarnungen der Tatsache, dass der nächste Marktzyklus, das nächste Geschäftsmodell, völlig unklar ist. Mit derselben Euphorie hat eine amerikanische Fluggesellschaft Reservierungen für Tickets zum Mond entgegengenommen (die inzwischen pleite gegangene PanAm).
Euphorie, Pleite, Niedergang, Auslese: In den nächsten Jahren wird es zu heftigen Turbulenzen auch IM Reich der digitalen Imperien kommen. Das, was Google, Amazon, Facebook, Apple und Twitter mit anderen machen – Disruption – wird die Internet-Konzerne selbst betreffen. Plattform-Kapitalismus mag zäher sein als analoger Kapitalismus, aber auch er wird irgendwann seine eigene Selbst-Disruption hervorrufen. Bei diesem evolutionären carving out entsteht nichts anderes als die „Neue Humane Erzählung”, von der Yuvel Noah Harari in seinem Buch „Homo Deus” spricht. Die human-digitale Evolution hat erst begonnen. Wir Zukunftsforscher haben das Privileg, aber auch die Pflicht, dieses andauernde Beziehungs-Drama zwischen Mensch und Maschine in die Zukunft zu begleiten. Und – wo immer es geht – zu gestalten.
Siehe zum Thema auch die neue Studie des Zukunftsinstituts:
DIGITALE ERLEUCHTUNG. Mehr Info + Bestellung
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind. Wir sehen sie, wie WIR sind.
Anaïs Nin
Das Geburtstagsfest
Vor einiger Zeit war ich auf auf dem runden Geburtstag einer guten Freundin eingeladen. Gefeiert wurde in einer Hütte an einem traumhaft blauen See in den Bergen. Es war ein strahlender Tag voller Gnade und Schönheit. Die Gäste waren nicht ohne Schrammen durchs Leben gegangen, aber jeder hatte auf individuelle Weise seinen Weg gefunden. Eine multi-mobile Freundes-Truppe im dritten Lebensquartal, mit verstreuten Wohnorten (Europaweit, sogar Übersee), interessant diversem Beziehungsstatus (von langen Ehen bis verdeckter Polyamorie) und bunt gemischten Geldlagen (von pleite bis reich). Es gab fantastisch schöne Frauen im Alter des Geburtstagskinds. Es gab hinfällige und attraktive Männer zwischen 40 und 80.
Ich ging mit meiner Bekannten ein Stück den Berg hinauf zum Waldrand, und wir redeten über das Älterwerden, seine Vorteile und Nöte. Wir blickten zurück zum Fest, wo die Kinder, die schon Enkel waren, im kalten Wasser des Bergsees tobten. Das alles wirkte wie in einem romantischen französischen Film aus den 80er Jahren. Untermalt wurde alles vom wunderbar schrägem Humptata der Geburtstags-Band, die sich aus Tiroler Hipstern rekrutierte.
„In was für einer unglaublichen Fülle wir leben!” sagte das schöne Geburtstagskind nachdenklich.
Wir wanderten eine Weile über eine blühende Wiese. Auf dem Gesicht meiner Bekannten spielte plötzlich ein seltsames Unglück. Und dann brach es aus ihr heraus: „In was für einer tollen Zeit wir doch gelebt haben! Das wird einem jetzt wieder klar, wo alles den Bach heruntergeht… Wenn ich an diesen Trump denke, wird mir ganz schlecht. Und all die Kriege, das Elend, der Terror! Die Erderwärmung – was werden die Enkel eines Tages für eine schreckliche Welt erleben!”
Da war er plötzlich wieder, dieser angstvoll-apokalyptische Tonfall. Das Lied vom Ende von Wohlstand und Fortschritt. Von Zukunft überhaupt. Mitten im Glück wendet sich unser Blick in den Rückwärtsgang. Mitten in der Fülle befällt uns ein generalisiertes Elend, das unsere Segnungen plötzlich klein und unbedeutend erscheinen lässt. Warum sind wir so empfänglich für der Einflüsterungen der Negativität? Wieso lassen wir uns so leicht anstecken von einem Gerücht, dass sich wie Mehltau auf Gedanken, Gefühle, Wahrnehmungen legt? Dass die besten Zeiten hinter uns liegen. Dass alles immer schlechter wird. Dass die Welt verloren ist. Das glauben heute viele. Gefährlich viele.
Eine ansteckende Art der seelischen Verbitterung
Meine Frau Oona hat vor einigen Monaten dieses Phänomen AWFULIZING getauft. „Du machst schon wieder AWFULIZING!” sagte sie mit ihrer bezauberndsten Stimme, nachdem ich irgendeine mürrische Verknüpfung der Tatsache, dass der Hund in den Garten gemacht hatte, mit den steigenden Mieten in den Metropolen und der beängstigenden politischen Lage Europas formuliert hatte.
AWFULIZING – vom englischen schrecklich, fürchterlich, entsetzlich, blöd, gemein – ist ein schöner Begriff, der durch seine englische -ing-Silbe beschreibt, worum es wirklich geht: Nicht nur um Schlecht-Finden, sondern um Schlecht-MACHEN. Man darf AWFULIZING nicht mit dem Jammern verwechseln. Jammern kann befreiend sein. Man denke an die berühmten italienischen Mamas, die unglaublich schimpfen können, um im nächsten Moment die Welt mit Güte zu überschütten. Aber während der Jammerer seine Enttäuschung herauslässt, um sich danach wieder frisch dem Leben zuzuwenden – eine Art Seelen-Reset – entsteht im AWFULIZING eine seltsame ideologische Mutation.
Wenn wir AWFULIZEN, sehen wir die Welt in einem negativen Gesamt-Zusammenhang, der kleine Dinge mit großen, Vorurteile mit Beobachtungen, Symptome mit Systemen verknüpft, die meistens wenig miteinander zu tun haben. Dabei spielt die Formulierung „Immer mehr&rd die zentrale Rolle. Immer mehr Taxifahrer sind unhöflich, immer mehr Politiker sind korrupt, immer mehr Demokratien gehen den Bach herunter, immer mehr Kinder sind autistisch, immer mehr Familien gehen kaputt… Auch wenn es meiner Familie ausnahmsweise wunderbar gut geht.
Übrigens ist auch der Kaffee heute wieder fürchterlich!
Als Grund für den Siegeszug des AWFULISMUS – ja, so muss man diese Ideologie nennen! – fallen einem zuallererst „die Medien” ein. Es ist wahr: Wer auch nur einen Tag Zeitungen liest, News-Websiten schaut und das Fernsehen verfolgt, muss davon ausgehen, in einem Irrenhaus mit solider Untergangstendenz zu leben. Das Turbo-Echtzeit-Medium, das unentwegt um die knappen Ressourcen der Aufmerksamkeiten und Erregungen kämpft, umgibt uns inzwischen wie eine zweite Haut, traktiert uns tagtäglich mit gigantischen Vorräten des Schrecklichen, Exzessiven, Skandalösen oder Blödsinnigen. Irgendwann brechen die Immunkräfte zusammen, die unsere Seele gegen diesen Irrsinn bildet. Jede Talkshow zementiert heute durch nackte Polarisierung die Unmöglichkeiten gesellschaftlichen Fortschritts. Jedes „kritische” Politiker-Interview will um jeden Preis nachweisen, dass der Interviewte ein grundkorrupter, ignoranter, elitärer Nichtskönner ist. Jeder neudeutsche Krimi beinhaltet heute so viel Horror, dass es zum Weltverzweifeln reicht.
Der Apokalyptische Spießer
Vor einigen Jahren habe ich die Figur des „Apokalyptischen Spießers „erfunden”. Natürlich handelt es sich um eine Karikatur, aber wer hat diese Figur nicht schon irgendwo leibhaftig gesehen – oder in sich selbst gespürt?
Der Untergangs-Spießer zeichnet sich durch eine seltsame, aber gar nicht so seltene Gemütslage aus: Negative Komfortabilität. Er beobachtet die Welt und wartet mit einer seltsamen Erregung auf die nächste Katastrophe. Er (ja, es ist immer ein Mann) fühlt sich beim Schlechtmachen der Welt erstaunlich wohl, man könnte bisweilen sogar vermuten: Glücklich.
Irgendwie ähnelt er in Vielem Donald Trump.
Wie kommt das?
Eine erste, spontane Antwort lautet: Definitionsmacht. Der apokalyptische Spießer ist ein Besserwisser. Nein, ein SCHLECHTERWISSER. Er weiß Bescheid. Er kennt sich aus. Er weiß, dass hinter den wenigen guten Nachrichten Illusionen und hinter den vielen schlechten tiefere Wahrheiten sitzen. Dadurch sitzt er immer am längeren Hebel.
Jede negative Meldung gibt dem Untergangs-Spießer einen kleinen Kick der Genugtuung. Ich habe es doch gewusst! Ich habe mir nichts vormachen lassen! So kapselt man sein Unglück ab, indem man es in eine riesengroße kognitive Resonanz einbringt. Das eigene Unglück lässt sich im großen Weltunglück verstecken.
Dazu kommt: Intensitätssuche und Verschwörungs-Sehnsucht.
Das Gefühl, in einer Endzeit zu leben, macht das Leben jedoch wieder auf paradoxe Weise intensiv. In jedem Untergangs-Film können wir sehen, wie wahre Helden im Kampf gegen das Aussichtslose geformt werden. Im Angesicht der letzten Tage scheinen wir unsere eigene, endlich reine Identität zu erkennen. Das Existentielle wird deutlich, das Vergängliche, Einmalige des Lebens. Im AWFULIZING bauen wir eine Leinwand auf, auf der wir unsere eigene Existentialität spüren können.
Auch die Faszination von Verschwörungstheorien folgt einem ähnliches Muster. In der zivilisatorischen Entfremdung spüren wir einen tiefen Sinnverlust. Als Gegenmittel codiert der apokalyptische Spießer die Welt im Sinne eines SINNS der Negativität. Skandale stehen stellvertretend für das Ganze des Betrugs, dem „wir” unterliegen. Die Logik der Verschwörungstheorien geben der inneren Leere einen äußeren Sinn: Wir sind so wichtig, dass sich mächtige Kräfte gegen uns verschworen haben. Das macht uns wertvoll. Wenn alle gegen uns sind, wertet uns das unglaublich auf.
Eine kleine Psychologie des AWFULIZING
Der amerikanische Psychologe Albert Ellis hat den Begriff AWFULIZING bereits in den 60er Jahren als unter dem Stichwort „pathological worrying” – pathologisches Sorgen-Syndrom – als eine tiefgreifende Störung des Denkens diagnostiziert: „Wenn wir ‚AWFULIZEN‘, betrachten wir eine Situation oder ein Ereignis in übertrieben negativer Weise. Wir sehen zum Beispiel eine kleine Niederlage oder einen kleinen Rückschritt als größere Katastrophe. Oder ein gefürchtetes Ereignis wird so symbolisch überhöht, dass sein Eintreten nicht zu ertragen wäre. ‚Awfulizing‘ setzt eine Kettenreaktion sich-selbst-erfüllender Gedanken, Gefühle und Aktionen in Gang: die bloße Erwartung, dass die Dinge schlechter werden, wird zur Ursache dafür, dass sie schlechter werden.”
Wenn wir AWFULIZEN, folgen wir Denk- und Fühlroutinen der Abwertung. Wir werten die Welt und ihre Schönheit, ihre Möglichkeiten ab. Wir werten unsere Mitmenschen und ihr Bemühen ab. Wir werten im Grunde auch unsere eigenen Befürchtungen ab, indem wir sie generalisieren. Warum? Weil wir UNS längst SELBST abgewertet haben! Im Kern ist AWFULIZING ein Zusammenbruch des Selbstwertgefühls, der Selbst-Wirksamkeit. Jenes Erlebens der eigenen Bedeutung, die jeder Mensch zum Leben braucht.
In Partnerschaft und Liebe kann man diesen Effekt der self-fulfilling prophecy besonders deutlich erkennen. Paare, die sich in der Spirale gegenseitigen Schlechtmachens befinden, in der vorauseilenden Kritik am Anderen. Warum hast Du nicht? Wie kannst Du nur? Wenn Du damals, nicht, dann wird auch morgen… – erzeugen durch Negativität das, was sie fürchten: Den Verlust der Liebe, die Trennung, die Untreue.
Hier eine Übersicht über die diversen Aspekte der AWFULIZUNG-Psychologie:
Wenn wir AWFULIZEN, betrachten wir die Welt ausschließlich von den Problemen her. Nicht von den Lösungen, die implizit in jedem Problem enthalten sind.
„Wenn wir Probleme zu unserer Wirklichkeitskonstruktion machen, wenn wir uns von ihnen die Welt erklären lassen, dann werden sie uns erzählen, was wir NICHT können. Wir können dies nicht, wir können das nicht – unser Leben wird ein Behältnis für Abwesenheit und Versagen.”
So formulierte es der Kognitionspschologe David Niven in seinem Buch „The Answer”.
Wenn wir AWFULIZEN, deklarieren wir unseren Komfortabilitätsanspruch an die Welt. Die Welt enttäuscht uns, weil sie einfach nicht so will, wie wir wollen. Sie ist nicht so sauber, sicher, harmonisch, fortschrittlich, gerecht, wie wir es uns wünschen. Sie hört nicht auf unser Kommando. Deshalb findet sich im AWFULIZING immer eine deutliche Spur von Schmollen, von Beleidigtsein.
Wenn wir AWFULIZEN, verlieren wir die wichtigste mentale Waffe der menschlichen Selbst-Stabilisierung: Humor. Guter Humor bedeutet, die Welt mit zwei Augen sehen zu können – und sich trotz, oder wegen, ihrer Paradoxität zu entspannen.
Wenn wir AWFULIZEN, entledigen wir uns jeder Verantwortung. Wir haben mit nichts etwas zu tun, weil in einer unweigerlich untergehenden Welt Handlungen keine Konsequenzen haben. Wir sind also immer fein raus, was die Fragen von Schuld, von Verantwortung, von Teilhabe betrifft.
Wenn wir AWFULIZEN, negieren wir die Komplexität, die uns umgibt. Wir leben in einer Zeichenwelt, in der wir nicht mehr in der Lage sind, die Zusammenhänge zu begreifen, die jedem Phänomen zugrunde liegen und es zum Teil eines großen, ausgleichenden Systems machen. Wir begreifen nicht, dass jeder Trend einen Gegentrend hat, jeder Reiz eine Reaktion erzeugt, jede Krise in eine neue Entwicklung führt.
Wenn wir AWFULIZEN, glauben wir zwar „nur” die Welt zu beschreiben wie sie ist. In Wirklichkeit treffen wir aber eine negative Kommunikations-Entscheidung. Wir miss- und verachten die Glücks- und Renonanzerwartungen unserer Mitmenschen. Nörgeln, Jammern, ständiger latenter Pessimismus, Schlechtmacherei ruiniert die Beziehung ebenso wie die Unternehmens-Kultur oder das gesellschaftliche Klima. Awfulizen ist eine äußerst machtvolle Beziehungs-Verweigerung.
Wenn wir AWFULIZEN, tragen wir zu jenem Klima bei, auf dem der bösartige Populismus gedeihen kann. Im Populismus geht es, wie der Psychologe Wolfgang Schmidtbauer in „Psychologie Heute” ausführt, darum, „differenzierte Gefühle zu leugnen und primitive Größenphantasien mit den ’schnellen‘ Affekten von Angst und Wut zu verbinden.” AWFULIZING liefert den geistigen Begründungszusammenhang, in dem man über Alles in differenzlose Wut ausbrechen kann und alles auf geheimnisvolle bösartige Verschwörungen zurückführen kann.
Wenn wir AWFULIZEN, verabschieden wir uns von der Lebendigkeit des Seins.
Albert Ellis formuliert:
„Die Kosten dafür, sich selbst panisch, wütend und selbstmitleidig zu machen, sind enorm. Sie werden in Zeit, Geld und sinnlosem Aufwand entrichtet. In unerwünscher mentaler Pein. In der Sabotage des Glücks von Anderen. In dummen Verzettelungen und dem Liegenlassen des Freude-Potentials des eigenen Lebens – des einzigen Lebens, das wir je haben werden.”
Die neue Achtsamkeit
Was aber hilft?
Zunächst müssen wir verstehen, dass die Welt weder gut noch schlecht ist, noch wird sie schlechter. „Die Evolution hat die Realität geschaffen, wir Menschen schaffen die Wirklichkeit.”, formulierte der Kybernetiker und radikale Konstruktivist Heinz von Foerster. Das anzuerkennen ist schwer. Denn unser Hirn ist dazu konstruiert, das, was es an Abweichungen festzustellen meint, als „Realität” zu definieren. Auf diese Weise verwechseln wir uns, beziehungsweise unsere inneren Stimmungen, ständig mit der Welt. Wir verwechseln im hypermedialen Zeitalter die Welt mit ihren Signalen. Wir verwechseln letztendes uns selbst mit uns selbst. Unser Angst-Ich ersetzt unser lebendiges Sein.
Menschliches Leben ist ohne Hoffnung nicht zu denken. Wir sind zwar Problem-Wesen, aber eben auch Hoffnungswesen. Sonst hätte die menschliche Spezies das tatsächliche Grauen, das in der Vergangenheit liegt, nie überlebt. Genau darin liegt ja der Kern einer begründeten Zukunfts-Hoffnung: Generationen und Generationen vor uns führten Leben, die „brutish und short” waren, grausam und kurz, wie Hobbes formulierte. Heute gibt es immer noch Armut und Kriege auf der Erde, aber es gibt auch viele Leben, die länger, reicher und erfüllter geworden sind. Es gibt Freiheiten, Wahlmöglichkeiten, Varianz in Hülle und Fülle. Und das wird sich weiter ausweiten.
Zweitens müssen wir verstehen, das der Kampf gegen den AWFULISMUS nicht mit Optimismus zu gewinnen ist. Optimismus ist immer ignorant, blauäugig, blendet aus, färbt schön. Auch die Hoffnung allein hilft wenig.
ZUVERSICHT ist ein besseres Wort. Zuversicht, in Zusammenarbeit mit Mut. Zuversicht bezieht, anders als die eher passive Hoffnung, unsere Voraus-Sicht mit ein, das Nach-Vorne-Schauen, aber auch unsere Verantwortung für uns selbst und den Teil der Welt, den wir beeinflussen können.
Und der ist größer und wichtiger als wir oft denken!
Die Antwort auf den grassierenden AWFULISMUS unserer Zeit besteht in Kulturtechniken der Achtsamkeit. Damit ist kein Meditations-Ausstieg gemeint, oder glöckchenklingender Hokuspokus. Achtsamkeit ist eine mentale Kulturtechnik, sich beim Beobachten selbst zu beobachten. Achtsamkeit ist die Fähigkeit, sich selbst in seinen Welt-Haltungen zu verstehen „ und dabei mentale Selbstwirksamkeit zu erlangen.
Achtsamkeit benötigt Entschlüsse. Zum Beispiel: Den medialen Lärm in unserem Leben bewusst zu beschränken. Zu entscheiden, wofür wir uns verantwortlich erklären und wofür nicht. Mit anderen im Geiste der Zuversicht zu kommunizieren – und dadurch Welt neu zu konstruieren.
Unseren inneren Angst-Spießer vom Sofa der negativiven Komfortabilität aufzuscheuchen.
Achtsamkeit heißt GEHEN LERNEN. Wer in die Welt geht – in die REALE Welt – der verliert die Angst. Denn in der Welt gibt es immer das Wunderbare UND das Schreckliche. In der Welt ist die Liebe, die Hoffnung, das Furchtbare, immer konkret. Und damit bewältigbar.
Wenn wir richtig hinsehen, mit ganzem Herzen, sehen wir, das das Wunderbare überwiegt.
Im Grunde geht es um Erwachsenwerden in einer komplexen Welt.
Wie sagte der britische Dichter W.H. Auden? „Choice of attention to pay attention to this and ignore that is to the inner life what choice of action is to the outer.” In sehr freier deutscher Übersetzung: „Wir sollten uns die Freiheit nehmen, unsere Aufmerksamkeiten durch die Wahl unserer Handlungen zu steuern.”
Aufmunterungen:
Für die Daten zur realen Entwicklung der Welt sind die Big-Data-Websites Gapminder und Our World in Data erste Wahl.
Hier eine kleine Auswahl von Anti-Awfulizing-Literatur (Sachbuch):
Johan Norberg: Progress, Ten reasons to look forward, Oneworld Publications, New York. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’1786070650′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’a97717e4-029f-11e8-8243-0bff1dedab6f‘]
Mark Stevenson: An Optimists Tour to the Future, Profile Books, London 2012. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’1583334564′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’f0496f5e-029f-11e8-8cf5-b9e8eeaba53c‘]
Steven Johnson: Future Perfect, The Case for Progress in an Networked Age, Penguin London 2003. Erhältlich bei Amahon: [amazon_link asins=’B00I6Z8FM6′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’674aac5f-02a0-11e8-8245-cf22060bb6c0′]
Charles Kenny: Getting Better, Basic Books, New York 2011. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’046503103X‘ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’817918bc-02a0-11e8-aee5-1def9b9aad70′]
Robert Wright: Nonzero, Evolution & Human Cooperation: The Logic of Human Destiny, Abacus, New York 2001. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’0349113343′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’955134e9-02a0-11e8-8688-fd3244cfe3b8′]
Björn Lomborg: Apokalypse No!, Klampen-Verlag 2012. Erhältlich bei Amazon: [amazon_link asins=’3934920187′ template=’WW-ProductLink‘ store=’horxcom-21′ marketplace=’DE‘ link_id=’b0060ebd-02a0-11e8-a419-8d93651224b7′]
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.
Eine neue Sozial-Theorie macht Furore: Erklärt der Klassen-Kampf zwischen „Anywheres” und „Somewheres” die Konflikte der Zukunft?
Mai 2017
Michael Gäbler [CC BY 3.0 (http://creativecommons.org/licenses/by/3.0)], via Wikimedia Commons
In einem Buch und einigen vielgelesenen Zeitungsartikeln hat der englische Publizist David Goodhart eine neue Ursache für den bösartigen Populismus unserer Tage ausgemacht. Le Pen, Brexit, Trump, die Hasskultur im Netz – in der globalen Welt, so Goodhart, sind zwei neue „Meta-Klassen” entstanden, zwei völlig verschiedene Lebens- und Fühlweisen. Diese Separat-Kulturen, so Goodhart, treten nun in einer Art neuen Weltkulturkrieg gegeneinander an.
Die ANYWHERES (deutsch am besten: „Irgendwos”) sind jene multi-mobilen Bewohner der globalen Städte, die jederzeit umziehen könnten. Die gutbezahlten mobilen Angestellten, die Kosmopoliten und Globetrotter, die Künstler, Kreativen, Konstrukteure des eigenen Lebens. Die Gebildeten und Bildenden, die Sinn-Sucher, Moralisten und Latte-Macchiato-Trinker. ANYWHERES sind die Gewinner und Bewohner der globalen Urbanisierung. Sie sprechen den Code universalistischer Werte und repräsentieren die kulturelle Hegemonie.
Die SOMEWHERES sind hingegen diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen an einem Ort GEBLIEBEN sind. In Hochhausghettos, in denen der Beton bröckelt. In von den meisten attraktiven Frauen verlassenen sächsischen Kleinstädten. In aufgelassenen Provinzen. In Wohnblocks an Einfallstraßen. In Kleinstädten, in denen das Schwimmbad längst geschlossen und die Fußgängerzone seit den 80er Jahren verkommen ist. In Vororten von Städten, die nicht zu den Schwarmstädten gehören. In verkommenen ehemaligen Stahl- und Kohle-Revieren.
ANYWHERES und SOMEWHERES unterscheiden sich vor allem durch einen völlig unterschiedlichen MINDSET in Bezug auf Veränderung. Für ANYWHERES ist der Wandel das, was sie antreibt, herausfordert, lebendig macht – auch wenn man manchmal scheitert. Für SOMEWHERES ist Veränderung dagegen eine ständige Verlustrechnung. Eine Demütigung. Sie erleben sich nicht als Handelnde, sondern als Opfer des Wandels. Zwar nutzen sie auch elektronische Medien, aber sie profitieren nicht davon im Sinne von Zugängen zu jener Prosperität, die in den Großstädten durch Digitalität entsteht.
Die SOMEWHEREs, so Gotthard, sind aber keine Nazis oder Fremdenhasser, sondern meist gutartige, familiär und heimatlich gebundene Menschen. Weil sie sich in ihrem Stolz verletzt fühlen, sind sie allerdings empfänglich für Gefühlsstürme. Wenn ein rhetorischer Zyniker kommt und ihnen ein großes, zorniges WIR anbietet, könnten sie diesem Ruf folgen. Auf Dauer, so Gotthart, würden sie den Kampf gewinnen. Er schätzt die Anzahl der ANYWHERES, der urbanen Eliten, auf maximal 25 Prozent der Bevölkerung, die der SOMEWHERES auf mindestens 40 Prozent.
David Gotthard gehörte vor zwanzig Jahren zu DEMOS, dem legendären Think-Tank um Tony Blairs Reformprojekt „New Labour”. Er ist Erbe und gleichzeitig Dissident des politischen Experiments des „Dritten Weges” der späten Neunziger Jahre, in dem es um die Überwindung der alten Rechts-Links-Logik zugunsten einer neuen Modernisierungspolitik ging. Inklusion war das grosse Stichwort. Es ging um einen pro-aktiven, intelligenten Sozialstaat, eine Politik der Mitte, die innovationsfreundlich, aber auch sozial verantwortlich agieren sollte. Heute sind diese komplexen Ansätze weitgehend vergessen; zerrieben in der ewigen Polarisierung der Talkshows, im Geschrei des Netzes und der ewigen Sehnsucht nach Schwarzweiß-Denken.
Wie viele, die früher progressiv dachten und fühlten, hat sich Gotthart von den urbanen linken Milieus losgesagt, denen er Salon-Bolschwismus und Ignoranz vorwirft. Gottharts Verdienst ist aber, die neuen sozialen Konflikte nicht auf reine Verteilungsfragen, sondern auch auf eine Psychologie der Gefühle zurückzuführen. Die knappste aller Zukunfts-Ressourcen ist SELBSTWIRKSAMKEIT. Wir haben es nicht nur mit Sarah-Wagenknecht-Problemen der Umverteilung zu tun, sondern mit psychologischen Prozessen, die einen ganzheitlichen Ansatz erfordern, ein Denken in Ganzheit, in „Gesellschaft”.
Allerdings muss man fragen, ob die Milieus, die Goodhart beschreibt, wirklich so homogen sind. Kennen wir nicht alle Menschen, die in der Provinz, auf dem Dorf leben und die trotzdem wunderbar „auf dem Weg” sind? Haben wir nicht alle irgendwie BEIDES in uns – den Lokalisten und den Globetrotter? Gehört die Zukunft nicht den GloKAListen, die beide Elemente auf einer neuen Integrationsstufe in sich vereinigen? Und gibt es nicht massenweise Beispiele, wie sich Dörfer, Regionen, Stadtteile aus der Stagnation befreien, wo soziale Innovation entsteht, weil neue Allianzen zwischen aktiver Zivilgesellschaft und klugen Politikern entstehen? Gibt es nicht die besten Co-Gardening-Initiativen in der Industriebrache Detroit und jede Menge kreatives Potential im Ruhrgebiet – wenn man nur richtig hinschaut?
Entweder-Oder ist immer faszinierend. Aber es ist eben auch ignorant. Klassenkampf-Propaganda, auch wenn sie im psycho-sozialen Gewand einherkommt, ist immer gefährlich, der „Kampf der Kulturen” bleibt am Ende ein Minus-Summen-Spiel. Zukunft entsteht erst dann, wenn die unterschiedlichen Sichtweisen und Lebensformen zueinander in ein neues, produktives Verhältnis treten. Ein solches politisches Zukunfts-Projekt wird, wie es aussieht, eher von der neuen radikalen Mitte kommen als aus dem ermüdeten linken Lager. Wie Emmanuel Macron sagt: „Regieren heißt, den Kreis zu erweitern!” Den Kreis der Kooperation, in der die Somewheres und die Anywheres endlich wieder miteinander in Beziehung kommen. Und dieses ganze Zuspitzen, Trennen, Klassen-Polarisieren und Zorn-Popularisieren endlich überwunden werden kann, zugunsten einer Wirklichkeit, die immer komplexer ist als man glaubt.
Warum in jedem Trend zum Schlechten auch ein Trend zum Guten liegt
Mai 2017
In der fernöstlichen Philosophie gibt es die KOANS, die unlösbaren Rätsel der Paradoxie. KOANS handeln von der Frage, wie es sich anhört, wenn man mit einer Hand klatscht. Oder wie man liebt, ohne besitzen zu wollen. An einem solchen unlösbaren Rätsel kauen wir nun seit einigen Monaten im Politischen herum: Wie konnte ein narzisstischer, reaktionärer, emotional bösartiger Stinkstiefel im freien, immer doch so „progressiven” Amerika an die Macht kommen? Und sich schon mehr als 100 Tage halten, ohne dass seine Popularitätswerte richtig fallen?
Womit haben wir das verdient?
Sind wir womöglich selbst schuld?
Ist das das Ende der Zukunft?
Wenn es um die Zukunft geht, entscheidet sich unser Kopf immer für zwei eingeschränkte Möglichkeiten. Es kann immer nur aufwärts oder abwärts, ins Desaster oder grandios Vorwärts gehen. Diese mentale Polarisierung stammt aus unserer Jäger- und Sammler-Seele, aus der Ur-Vergangenheit des Menschen, wo es darauf ankam, klare Entscheidungen zu treffen. Fliehen oder Standhalten! Freund oder Feind! Dieser Denk- und Fühl-Mechanismus ist zutiefst menschlich. In einer vernetzt-komplexen Welt führt er allerdings zu einer spezifischen Form des Versagens an der Wirklichkeit, von der „Populismus” nur eine Variante ist
Nach 100 Tagen Trump hat sich in der Tat einiges verändert. Nicht nur in Amerika:
Millionen von US-Bürgern sind inzwischen dauerhaft auf Wikipedia unterwegs, weil Donald Trump unentwegt falsche Fakten in die Welt setzt, deren Falsifikation in Wikipedia leicht möglich ist.
„Planned Parenthood”, die Organisation der progressiven Familienplanung, die in den letzten Jahren an Bedeutung verliert, gewann 400.000 neue Dauerspender.
Die Online-Auflage der NEW YORK TIMES stieg von 1 auf 1,5 Millionen.
#Die neuesten Umfragen in den USA zeigen, dass nach dem Scheitern der Trump-Gesundheitsreform die meisten Amerikaner davon ausgehen, dass es auch in Zukunft eine GARANTIERTE Krankenversicherung für alle geben muss. Das war in der Zeit, als Obamacare unentwegt die Kritik an sich zog, nicht der Fall.
Kreative Branchen wie Kunst, Performance, Theater, boomen im Zeichen einer erwachten Interesses an politischen und gesellschaftlichen Themen.
Die internationale Wissenschafts-Community diskutiert erstmals intensiv um die Frage zukünftiger Vermittlung wissenschaftlicher Methoden. Der Pro-Science Earth Day brachte hunderttausende von Menschen, die Wissenschaft lieben, auf die Straße.
Satiresendungen im amerikanischen Fernsehen, sind inzwischen wieder richtig gut und lustig. Stephen Colbert, einer der skurrilsten Comedians, erlebte ein Comeback (derweil zeigen im deutschen Fernsehen fade Trump-Witze, dass deutsche comedy nicht so lustig, sondern eher zynisch ist).
In den deutschen Printmedien gibt es seit einigen Monaten erstklassige Essays, in denen Fragen gestellt wurden, für die sich früher niemand interessierte: Wie kommt es zu Zusammenbrüchen des Selbstwertgefühls? Was hilft gegen Selbsterniedrigung, die in Hass umschlägt? Wie funktioniert die Zukunftsmacht der Gefühle? W as sind regressive Utopien?
Auf den Zukunftskongressen, auf denen ich unterwegs bin, liegt plötzlich eine gewisse Nachdenklichkeit in der Luft. Endlich zweifelt man ein bisschen, ob das hypervirtuelle, künstlich-intelligente Paradies, das uns dort seit Jahren lautstark prophezeit wird, wirklich so bekömmlich ist. Ob Digitalität alle Probleme lösen kann und Industrie 4.0 tatsächlich der Weisheit letzter Schluss ist. Zukunfts-Diskurse drehen sich, man höre und staune, plötzlich wieder um DEN MENSCHEN.
Die Debatte um die Zukunft Europas bekommt plötzlich einen anderen Klang. Wir spüren, dass wir es uns mit dem wohlfeilen Europa-Bashing, das noch vor einem Jahr auch bei kritisch-progressiven Menschen sehr in Mode war, sehr einfach gemacht haben. Eine Reaktion darauf sind die zahlreichen PULSE-OF-EUROPE-Demonstrationen, die sich nach dem Muster viraler Bewegungen ausbreiten. Wenn man die Welt verbessern will, kann man nicht immer nur DAGEGEN sein.
In Frankreich entstand gleichsam über Nacht eine Politikbewegung neuen Typs. Macrons „En marche” greift die Dritte-Weg-Debatte der Neunziger auf und versucht, sie neu zu energetisieren. Dass das Liberale, Weltoffene, mit dem Sozialen und Empathischen zusammengehen kann, ist eine wunderbare Botschaft, auch wenn sie in viele Köpfe, die von den alten Links-Rechts-Ideologien geprägt sind, noch nicht hineingeht. Macrons Sieg zeigt, dass auch die Sphäre des Politischen spontane Innovationen hervorbringen kann.
Jeder Trend hat einen Gegentrend. Jede Tendenz nach unten bringt spontane Gegenreaktionen hervor, die Schönheit und Lebendigkeit zeigen. Darauf kann man sich in Richtung Zukunft verlassen. Trump ist unser aller Prüfung. Wir wissen am Ende nicht, was er bewirkt. Vielleicht wird seine bizarre Art sogar zu positiven Überraschungen führen. Genau diese Verunsicherung ist sein eigentlicher Verdienst.
„Irgendwie gibt Trump der Sache einen anderen Dreh” sagte Tom Wolfe, der ewige Dandy der amerikanischen Literatur, in einem SPIEGEL-Interview. Die Welt ist im stetigen Wandel. Dafür nutzt sie Überraschungen, Störungen, Tricks die uns zu neuem Denken und Empfinden zwingen. Was wie eine Katastrophe erscheint, ist eine Herausforderung für unser inneres Wachstum. Trump ist eine Provokation, die uns in die geistige Komplexität zwingt. Die Welt wird besser, auch wenn sie bisweilen wirre Schleifen zieht. Dieser störrische Rekursions-Effekt ist das ewige Geheimnis, das Einhandklatschen der Zukunft.
Alle bisher erschienenen Kolumnen sehen Sie auf der Seite: Die Zukunfts-Kolumne.